Lehrerverband kritisiert Bildungspolitik

Aus Lehrplänen sind "Leerpläne" geworden

Schüler lernen in einem Klassenzimmer an einer Hauptschule in Arnsberg (Sauerland).
Was lernen Schüler heute noch im Geschichtsunterricht? Viel zu wenig, findet der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. © dpa / picture alliance / Julian Stratenschulte
Josef Kraus im Gespräch mit Nana Brink · 24.03.2015
Ein "historischer Analphabetismus" greife an deutschen Schulen um sich, sagt Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Kaum ein Schüler kenne sich noch in der jüngeren deutschen Geschichte aus. Stattdessen sei die Worthülse "Kompetenzen" in aller Munde.
Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, beklagt das "Diktat der Kompetenzenpädagogik" an deutschen Schulen, die die jungen Leute nur noch standardisieren und auf ökonomische Verwertbarkeit trimmen wollten.
Er teile entsprechende Klagen der deutschen Kunsthistoriker, die heute in Mainz tagen, sagte Kraus im Deutschlandradio Kultur. Aus Lehrplänen seien längst "Leerpläne" geworden.
"Eine Kompetenzenpädagogik tut so, als könnte man jungen Leuten Kompetenzen beibringen ohne konkrete inhaltliche Basis. Also: Medien-Kompetenz, Download-Kompetenz, Just-in-time-Kompetenz, Google-Kompetenz. Solche Dinge sind angesagt, klingen modern, aber der mentale und inhaltliche Unterbau fehlt."
"Das ist Kulturbarbarei, was man hier betreibt"
Kraus sagte weiter, jüngste Studien zeigten, dass 80 bis 85 Prozent der 16- bis 17-Jährigen nichts mit den Daten der jüngeren deutschen Geschichte anzufangen wüssten. "Das ist Kulturbarbarei, was man hier betreibt. Es macht sich ein historischer Analphabetismus breit." Dies sei ein falsches Verständnis von populärer Bildungspolitik – "man will alles erleichtern, man meint die Schüler damit glücklich zu machen". Allerdings gebe es innerhalb Deutschlands große Unterschiede zwischen den Bundesländern. So seien die Schulen in den südlichen und südöstlichen Bundesländern wesentlich stärker darin, etwa ein breites Geschichtswissen zu vermitteln.
Die Tatsache, dass beispielsweise in Berlin Geschichte in der 5. Und 6. Klasse gemeinsam mit anderen Fächern gelehrt werden soll, wertete Kraus als Sparmaßnahme – "weil man Stunden sparen will und vielleicht auch Lehrer sparen will". Dabei sei Geschichte „ein unheimlich wichtiges Fach". Aus Schülern, denen nicht ein grundlegendes geschichtliches Wissen vermittelt werde, könnten keine mündigen Bürger werden, die politische Entwicklungen richtig einordnen könnten. Um diese Situation zu ändern brauche es einen deutlichen "Aufschrei der Eltern".


Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Wie soll denn ein Lehrplan aussehen, der unseren Kindern vermittelt, was wir für die essenziellen Kulturvermächtnisse halten? Wo wir herkommen, was uns geprägt hat, Kunst, Musik, Literatur, Geschichte? Der Streit darüber ist wahrscheinlich so alt wie der Lehrplan. Befeuert hat ihn nun der Verband der Deutschen Kunsthistoriker, die nämlich beklagen, anlässlich ihrer Tagung heute in Mainz, dass Kunstgeschichte im Fach Kunst nur noch ganz selten gelehrt werde. Das zum Beispiel meint auch die Kunsthistorikerin Barbara Welzel hier bei uns im Programm:
Barbara Welzel: Es gibt eine Tradition des Kunstunterrichts an deutschen Schulen, der aus der künstlerischen Praxis kommt uns sehr stark praktisches künstlerisches Arbeiten macht, was, um das in aller Deutlichkeit zu sagen, notwendig ist. Was aber zu kurz kommt, ist die Vermittlung von Kunstgeschichte, meint Vermittlung des reichen kulturellen Erbes, die Denkmale, die Schätze in den Museen, die Dinge, die in unseren Städten herumstehen, Schlösser – all diese Dinge und eine systematische, der Aufklärung verpflichtete Bildkompetenz.
Brink: Die Kunsthistorikerin Barbara Welzel war das hier bei uns im Programm. Josef Kraus ist Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Herr Kraus, ich grüße Sie!
Josef Kraus: Guten Morgen, Frau Brink!
Brink: Wissen also unsere Kinder bald nicht mehr, was in unseren Städten rumsteht und was die Kunst der Renaissance zum Beispiel ausmacht?
Kraus: Das befürchte ich sehr, und ich bin dankbar dafür, dass die Kunsthistoriker da den Finger in die Wunde legen, denn leider ist es so, dass in den meisten unserer Bundesländer aus Lehrplänen, mit H geschrieben, mittlerweile Leerpläne, mit Doppel-E geschrieben, geworden sind, unter dem Diktat einer vermeintlich modernen Kompetenzenpädagogik, die die jungen Leute quasi nur noch standardisieren will und auf ökonomische Verwertbarkeit trimmen will –
Brink: Was ist denn eine Kompetenzenpädagogik?
Es geht nur noch um Medien- und Download-Kompetenz
Kraus: Eine Kompetenzenpädagogik tut so, als könnte man jungen Leuten Kompetenzen beibringen ohne konkrete inhaltliche Basis. Also Medienkompetenz, Downloadkompetenz, Just-in-time-Kompetenz, Google-Kompetenz – solche Dinge sind angesagt, klingen modern, aber der mentale und der inhaltliche Unterbau fehlt. Und wir sehen es jetzt über das kunsthistorische Wissen hinaus ja auch in den Studien etwa eines Klaus Schröder aus Berlin, der festgestellt hat, dass 80, 85 Prozent unserer jungen Leute im Alter von 16, 17 Jahren mit den wichtigsten Daten unserer jüngsten deutschen Geschichte – geteiltes Deutschland, wiedervereinigtes Deutschland – überhaupt nichts mehr anfangen können. Und das ist Kulturbarbarei, was man hier betreibt. Es macht sich ein historischer Analphabetismus breit. Man müsste die Politiker fragen, was die Motive dafür sind. Ich glaube, es ist ein falsches Verständnis von populärer Politik. Man will alles erleichtern und meint, die Schüler damit glücklich zu machen.
Schulkinder beim Informatikunterricht
Schulkinder beim Informatikunterricht: Medienkompetenz verdränge an vielen Schulen die Vermittlung echten Grundlagenwissens, etwa in Geschichte.© Imago
Brink: Kann man das denn in Gesamtdeutschland so über den Kamm scheren?
Kraus: Nein. Natürlich haben wir in den 16 deutschen Ländern Unterschiede, was auch die inhaltlichen Ansprüche betrifft. Ich will jetzt nicht behaupten, dass sich das auch in den PISA-Ergebnissen abbildet, weil PISA ja kein historisches Wissen untersucht. Aber wir haben schon ein Gefälle innerhalb Deutschlands. Und ich komme noch mal auf die Studie, was das zeitgeschichtliche Wissen betrifft, die alle zwei, drei Jahre Klaus Schröder macht, zurück. Auch hier wird festgestellt, dass es bezüglich des zeitgeschichtlichen Wissens ein erhebliches Gefälle innerhalb Deutschlands zwischen den Bundesländern gibt, dass es Länder gibt, die hier ein bisschen besser dastehen, auch nicht hervorragend dastehen, und Länder, die ganz miserabel dastehen.
Brink: Ja, dann sagen Sie das doch mal. Welche sind denn das?
Kraus: Ja gut, das ist im Grunde genommen ein Abbild dessen, was wir in PISA auch haben. Sachsen, Thüringen, Bayern, Baden-Württemberg stehen ein bisschen besser da. Die Stadtstaaten, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen stehen schlechter da.
Brink: In Berlin ja zum Beispiel soll der Geschichtsunterricht in der fünften und sechsten Klasse gemeinsam mit anderen Fächern gelehrt werden. Warum macht man das?
Kraus: Ich vermute mal, weil man Stunden sparen will und weil man vielleicht auch Lehrer sparen will. Ich halte gerade das Fach Geschichte für ein unglaublich wichtiges Fach, weil es sehr viel mit historischer und letztendlich auch mit politischer Mündigkeit zu tun hat. Wenn man dieses Fach vereinigt mit Gemeinschaftslehre, mit Politik, mit Geografie, wie wir das in manchen Bundesländern haben, dann ist das der absolut falsche Weg. Wenn junge Leute nichts mehr wissen etwa aus der jüngeren Geschichte, der Nachkriegsgeschichte oder der ganzen Geschichte des 20. Jahrhunderts, dann sind sie letztlich auch politisch nicht mündig, dann sind sie nicht kommunikativ. Dann können sie eine Fernsehmagazinsendung kaum verfolgen, dann können sie in einer Diskussionsrunde sich nicht beteiligen, wenn es um die Aufarbeitung etwa deutscher Geschichte geht. Ich möchte, dass unsere jungen Leute schon auch konkrete Jahreszahlen, konkrete Namen, konkrete Epochenbegriffe im Kunstbereich und im rein geschichtlich-politischen Bereich kennen. Leider haben wir mittlerweile in Deutschland Lehrpläne – ich sag noch mal, man kann sie mittlerweile mit Zweifach-E schreiben –, Geschichtslehrpläne, in denen so was überhaupt nicht mehr vorkommt.
Wissen, wie die Weimarer Republik einzuordnen ist
Brink: Also muss es dann doch noch dazu kommen wie bei uns noch? Ich kann mich noch gut erinnern, dass uns ja eingebimst worden ist, also irgendwie 30-jähriger Krieg, von wann war der, wann hörte der auf, was ist da passiert – also doch wieder dieses Abfragen von Fakten?
Kraus: Das sind einfach Orientierungspunkte. Das ist ein Gelände für das eigene historische Bewusstsein. Wenn ich nicht weiß, wann die Weimarer Republik war und was dort die Probleme waren und was Hitler möglich gemacht hat, dann kann ich heute zum Beispiel auch nicht darüber diskutieren und die Gefahren erkennen, die sich möglicherweise durch extremistische Strömungen ergeben. Da muss man Namen kennen, da muss man auch Jahreszahlen kennen, und da bedarf es schon auch etwas des Fleißes, sich bestimmte Dinge zu merken und einzuprägen. Das überholt sich ja nicht. Die hohe Schulpolitik ist immer ein bisschen geprägt von dem Spruch, ja, das Wissen überholt sich immer schneller, wir haben heutzutage Halbwertszeiten des Wissens von nur noch drei Jahren. Gut, das mag in bestimmten Fachgebieten, der Computertechnik und so weiter gelten, aber im Bereich Literatur, Kunst, naturwissenschaftliche Phänomene, Geschichte haben wir ein Wissen von einer unendlichen Halbwertszeit.
Brink: Warum gibt es keinen Aufschrei der Lehrer, also der Geschichtslehrer oder der Kunstlehrer?
Kraus: Den Aufschrei gibt es, aber die sind natürlich zahlenmäßig nicht so wahrnehmbar. Und es gibt leider keinen Aufschrei der Eltern. Wir haben in Deutschland 800.000 Lehrer, aber wir haben die Eltern von elf Millionen Schülern. Es müsste den Aufschrei der Eltern geben. Ich glaube, dass der bei den Politikern wirksamer wäre. Aber da haben wir natürlich in der Elternschaft auch solche und solche, welche, denen es ganz recht ist, wenn die Kinder geschont werden und wenn nicht, wie Sie gesagt haben, etwas gebimst wird. Und viele Lehrer, das muss ich durchaus selbstkritisch mit Blick auf den eigenen Berufsstand sagen, haben auch ein Stück weit resigniert und sich gefügt.
Brink: Aber kann man nicht vielleicht einen Mittelweg finden? Ich erinnere mich zum Beispiel – gestern war ich beim Elternabend meiner Tochter, dritter Klasse. Da hing ein Mondrian an der Tafel, und die Kinder haben das nachgezeichnet, und gleichzeitig wurde ihnen auch noch vermittelt, dass das ein großer Künstler war.
Kraus: Also ich würde vorschlagen, dass man vor Ort, in den Schulen, ein Bündnis herstellt zwischen der Lehrerschaft und der Elternschaft. Dass man sich zusammensetzt und sagt, okay, natürlich sind unsere Lehrpläne, die wir im jeweiligen Bundesland haben, verbindlich. Aber wir in der Schule verlangen darüber hinaus auch noch dieses oder jenes, weil wir unsere jungen Leute mündig in ihre Zukunft entlassen wollen. Wir wollen ihnen Orientierung mitgeben. Das setzt konkretes Wissen und können voraus. Denn, wie schon kluge Leute gesagt haben, Zukunft ist Herkunft.
Brink: Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Danke für Ihre Zeit –
Kraus: Danke auch, Frau Brink!
Brink: – und die Einschätzungen. Heute tagen die Kunsthistoriker und beklagen: Es gibt zu wenig Kunstgeschichte im Unterricht, überhaupt zu wenig Fachwissen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema