Lehren aus deutscher Geschichte

Die Menschenwürde als Leitkultur

04:18 Minuten
Eine Person fährt auf dem Fahrrad an der Fassade der Staatsanwaltschaft im Justizzentrum Frankfurt mit der Skulptur vorbei.
In einem Land, das sich seine Leitkultur in Jahrzehnten erarbeitet hat, sollte sich der Vergleich des Holocaust mit einem Vogelschiss von selbst verbieten, meint Christian Bommarius. © imago / Ralph Peters
Überlegungen von Christian Bommarius · 04.06.2019
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Was hat die Straffreiheit des KZ-Arztes Josef Mengele nach dem Krieg mit Gaulands "Vogelschiss"-Rhetorik zu tun? Die Geschichte zeige, wie wertvoll die im Grundgesetz verankerte Menschenwürde sei, meint der Jurist Christian Bommarius, und wie fragil.
Es ist nicht sicher, welches Datum für die ersten langen Jahre der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte prägender war – der 23. Mai 1949, als mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes die Deutschen den Schutz der Menschenwürde zu ihrem neuen Höchstwert erklärten, oder der 25. Mai 1949, also zwei Tage später, als sich ein Arzt im Hafen Genuas an Bord des Dampfers "North King" begab, der wenig später Kurs nach Argentinien nahm. Der Arzt hieß Josef Mengele, alias Helmut Gregor.

Die Untätigkeit der deutschen Justiz

Die Behauptung wäre übertrieben, der "Todesengel von Auschwitz" habe sich der Strafverfolgung durch die deutsche Justiz mit seiner Flucht entzogen. Denn die deutsche Justiz hat ihn nicht verfolgt. Erst einige Wochen vor dem 10. Geburtstag des Grundgesetzes, am 25. Februar 1959, entschloss sich die Staatsanwaltschaft Freiburg, einen Haftbefehl auf den Massenmörder auszustellen und damit der Garantie der Menschenwürde ein wenig Nachdruck zu verleihen.
Noch einmal 20 Jahre später, im Februar 1979, ist Josef Mengele nach einem Schlaganfall mit 67 Jahren beim Schwimmen im Meer vor dem brasilianischen Badeort Bertioga ertrunken. Es war kein friedlicher, doch es war ein natürlicher Tod – vor allem aber war es ein Tod in Freiheit. Dazu hat ihm respektvoll die Untätigkeit der deutschen Justiz verholfen.
Mengeles Dampferfahrt war nicht der Auftakt, sie war nur der erste Höhepunkt des Versagens der Justiz im Umgang mit den nationalsozialistischen Verbrechen. Doch es wäre ungerecht, diesen Vorwurf exklusiv an die Justiz zu richten.
Der erste Bundestagswahlkampf im Sommer 1949 wurde von Populisten in allen Parteien geführt, die genau wussten, was die Bundesbürger hören wollten – die Forderung an die westlichen Siegermächte, die Demontage der deutschen Wirtschaft als Wiedergutmachung für die Vernichtung Europas einzustellen, und vor allem das Versprechen, die meisten Verbrechen des NS-Regimes endlich, vier Jahre nach dem Krieg, zu vergessen und die Täter zu amnestieren. Das Versprechen hat der erste Bundestag mustergültig gehalten.

Justiz legte Holocaust zunächst zu den Akten

Das erste Amnestiegesetz war eines seiner ersten Gesetze. Die Justiz handelte also durchaus im Namen des Volkes, in vollkommener Übereinstimmung mit dem Willen der Mehrheit der Bundesbürger, als sie die Hände in den Schoß und den Holocaust zu den Akten legte. Es hat Jahre gedauert, bis die Staatsanwaltschaften deren Wiedervorlage verfügten und mit der juristischen Aufarbeitung der Verbrechen begannen.
Ohne Juristen wie Fritz Bauer, den Generalstaatsanwalt von Frankfurt am Main, hätte es noch länger gedauert. Bauer hat unter anderem – aus gutem Grund an den deutschen Behörden vorbei – dem Staat Israel mit einem Hinweis die Ergreifung Adolf Eichmanns, eines der Hauptverantwortlichen für die Deportation und Ermordung von sechs Millionen Juden, in Argentinien ermöglicht und auch den ersten Auschwitz-Prozess im Jahr 1963 durchgesetzt.
Das alles ist bekannt, aber es darf nicht vergessen werden.

Gaulands Anschlag auf die deutsche Leitkultur

Wir müssen uns daran erinnern, vor allem dann, wenn wieder einmal von deutscher Leitkultur die Rede ist, deren Beachtung wir von anderen verlangen. Die deutsche Leitkultur – das ist, das sollte sein Artikel 1 des Grundgesetzes: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." In einem Land, das sich diese Leitkultur in Jahrzehnten erarbeitet hat, sollte sich zum Beispiel der Vergleich des Holocaust mit einem Vogelschiss von selbst verbieten. Denn er macht aus Massenmördern wie Mengele erneut die Täter eines Bagatelldelikts. Das verletzt nicht nur die Garantie der Menschenwürde, es verhöhnt sie.
70 Jahre nach ihrer Verkündung ist das nichts anderes als ein Anschlag auf die deutsche Leitkultur.

Christian Bommarius, geb. 1958, ist Jurist und Publizist. Seine Schwerpunkte liegen auf rechts- und gesellschaftspolitischen Themen. Er lebt in Berlin. Die letzten Veröffentlichungen: "1949 - Das lange deutsche Jahr" (München 2018) und "Die neue Zensur - Wie wir selbst unsere Meinungsfreiheit bedrohen" (Berlin 2019).

© Hans Edinger
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