Legitimationen des Lustprinzips

Ehrwürdigere moderne Klassiker gibt es zuhauf, tragikomischere kaum. Italo Svevos 1923 erschienener Roman "Zenos Gewissen" ist eine große Verlustanzeige des bürgerlichen Subjekts, ironischerweise mit Hilfe just jener Therapie, mit der Sigmund Freud das Subjekt aufzurichten versprach: Der vermögende, an zahllosen Krankheiten und Misserfolgen leidende Triestiner Müßiggänger Zeno Cosini schreibt auf Anraten eines Psychoanalytikers sein Leben auf.
Zeno schildert nichtchronologisch seine Nikotinsucht, den Tod des Vaters, Heirat und Ehebruch sowie geschäftliche Unternehmungen. Am Ende bricht der Erste Weltkrieg aus, und Zeno glaubt, letztlich sei die ganze Menschheit so degeneriert, wie er, und daher in die Luft zu sprengen.

Ohne Weltuntergang würde Zenos ständiges Beenden und Wiederanfangen niemals enden. Sein "ungestümer Drang, besser zu werden", führt zu zahllosen Vorsätzen: Die "letzte Zigarette" raucht er sein Leben lang beinahe täglich, auch der nun wirklich "letzte Ehebruch" wiederholt sich. Die "eisernen Vorsätze" seien ja auch viel "zu schön, um zu verpflichten". Weshalb Zeno sich bald erneut schuldig fühlen muss, ja darf. Schuldgefühle treiben ihn an.

Ohne Halt ist er auch im Umgang mit anderen. Zeno will allen gefallen. Allerdings gehen seine Vermutungen über deren Wünsche regelmäßig in die Irre, sodass Zeno stets das Gegenteil erreicht: Die schöne Ada weist ihn als Bräutigam ab, ebenso ihre unmittelbar darauf befragte Schwester Alberta, und so macht Zeno der dritten Schwester, der hässlichen Augusta, den Heiratsantrag. Ihr bezeugt er fortan eifrig die nicht empfundene Liebe, weil sie es, wie er glaubt, erwartet. Ebenso verhält er sich zur Geliebten, die er begehrt und zugleich loswerden möchte.

Die Geliebte löst zudem Hüftschmerzen aus: In Zenos Lende widerstreiten eheliche und andere Pflichten. Auch eine erlittene Schmach löst Schmerzen aus. Doch Zeno ist kein Hypochonder, auch kein Zauderer. Die zahllosen Krankheiten sind der psychosomatische Ausdruck eines nur rudimentär entwickelten Gewissens. Zeno besitzt kein Ich, er wird von Wünschen und Pflichten, von Es und Über-Ich hin- und hergeworfen und macht keine Erfahrungen: Jeden Tag beginnt er aufs Neue, sich die Welt zurecht zu fantasieren.

Das im vergnüglichen Plauderton erzählte, jedoch tragisch scheiternde Leben verweigert den Bildungsroman, präsentiert das bürgerliche Subjekt als Leerstelle und ironisiert so die Psychoanalyse. Im Nachwort zeichnet Maike Albath plastisch nach, wie sehr Ettore Schmitz (1861-1928), der Bankbeamte und spätere Mitinhaber einer Fabrik für Schiffslacke, mit seinen literarischen, unter dem Pseudonym Italo Svevo veröffentlichten Neigungen rang.

Als "Zeno Cosini" ist das Buch bereits 1929 von Pierre Rismondo ins Deutsche übersetzt worden. Barbara Kleiners Neuübertragung von 2000, die sie nun noch einmal überarbeitet hat, ist näher am Original. Sie klingt rauer, mehr nach "Bürokontor" (Albath) und lässt damit durchscheinen, wogegen sich Zenos fantasievolle Legitimationen des Lustprinzips richten.

Besprochen von Jörg Plath

Italo Svevo: Zenos Gewissen
Roman
Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Kleiner
Nachwort von Maike Albath
Manesse Verlag, Zürich 2011
798 Seiten, 24,95 Euro
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