"Eine ganz besondere psychoanalytische Persönlichkeit"

Marianne Leuzinger-Bohleber im Gespräch mit Susanne Führer · 20.12.2011
Die Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts hat Horst-Eberhard Richter als "sehr milde, sehr verständnisvoll" erlebt. Auch jüngeren Menschen habe er noch etwas zu sagen, sein Habilitationswerk "Eltern-Kind-Neurose" werde auch heute von Studenten gelesen.
Susanne Führer: Horst-Eberhard Richter ist tot. Der Psychoanalytiker und Friedensaktivist starb gestern nach kurzer schwerer Krankheit im Kreis seiner Familie in Gießen. Das wurde erst heute bekannt. Richter wurde 88 Jahre alt. Über sein Wirken will ich nun mit Professor Marianne Leuzinger-Bohleber sprechen. Sie ist 2002 Direktorin des Sigmund-Freud-Institutes in Frankfurt am Main. Ich grüße Sie, Frau Leuzinger-Bohleber!

Marianne Leuzinger-Bohleber: Guten Tag!

Führer: Horst-Eberhard Richter war ja ihr direkter Vorgänger. Er leitete das Sigmund-Freud-Institut von 1992 bis 2002. Sie haben ihn gekannt. Wie haben Sie ihn erlebt? Was war er für ein Mensch?

Leuzinger-Bohleber: Ja, lassen Sie mich es vielleicht schon doch direkt sagen, wie traurig wir sind, als wir heute diese Nachricht bekommen haben. Die deutsche Psychoanalyse und auch das Freud-Institut verliert einen der ganz besonderen psychoanalytischen Persönlichkeiten und öffentlichen Stimmen im gesellschaftskritischen Diskurs. Ja, ich hatte mit Horst-Eberhard Richter das Institut noch ein Jahr gemeinsam geleitet und habe ihn sehr gut kennengelernt. Er war sicher das, was man heute eine charismatische Persönlichkeit nennt. Im Umgang meist sehr milde, sehr verständnisvoll, er hat vor allem die jungen Menschen hier im Institut sehr fasziniert. Er konnte aber auch sehr zornig sein, vor allem, wenn es um gesellschaftliche Ungerechtigkeit ging. Er war also auch eine sehr leidenschaftliche Persönlichkeit.

Führer: Er ist 88 Jahre alt geworden, hat ein wirklich sehr reiches Leben gelebt und er war ja immer beides – Sie haben es gerade so ein bisschen angedeutet, nicht? –, also die psychoanalytische Persönlichkeit und aber auch diese gesellschaftskritische Figur zugleich. Lassen Sie uns vielleicht ein paar wichtige Stationen seines Lebens besprechen, Frau Leuzinger-Bohleber. Er gehörte ja in den 50er-, 60er-Jahren zu den Wegbereitern der Familientherapie. Warum war das damals etwas so Besonderes?

Leuzinger-Bohleber: Ja, das hatte sicher auch mit der deutschen Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus zu tun. Sein Habilitationswerk "Eltern-Kind-Neurose" hat damals in revolutionärer Weise das erste Mal beschrieben, dass ungelöste Konflikte der einen Elterngeneration auf die Kinder übergehen. Das ist ein Wissen, was inzwischen so weit verbreitet ist, dass wir gar nicht mehr wissen, woher es kommt. Aber Horst-Eberhard Richter hat dies in einer Studie als Erster herausgefunden und damit – wie Sie schon sagten – auch die psychoanalytische Familientherapie begründet.

Führer: Dann hat er 1962 den Lehrstuhl für Psychosomatik an der Uni Gießen erhalten. Psychosomatik, das kann heute auch jeder Zweite fließend aussprechen und schreiben, aber damals war das doch auch noch eine neue Erkenntnis, oder?

Leuzinger-Bohleber: Sehr, also er hat ja auch in der Psychiatrie-Enquete mitgearbeitet, und es wurden in dieser Zeit mehrere Lehrstühle für Psychosomatik gegründet, was die Psychiatrie und, ich glaube, auch die Mediziner-Ausbildung damals auch sehr positiv beeinflusst hat. Sein Interesse an der Psychosomatik kam auch aus ganz biografischen Gründen, weil ja, wie er in seiner Autobiografie beschreibt, seine psychosomatische Erkrankung an der russischen Front hat ihm buchstäblich das Leben gerettet. Und daher war auch ein ganz persönliches tiefes Interesse an der Einheit von Körper und Seele, die sich eben in der Psychosomatik und den psychosomatischen Leiden ausdrückt.

Führer: Was war das für eine Erkrankung, die er da bekommen hatte?

Leuzinger-Bohleber: Also, er hatte verschiedene psychosomatische Erkrankungen, also auch eine Herz-Symptomatik hat er bekommen, und das andere kann ich ihnen jetzt nicht mehr genau sagen – aber es waren psychosomatische Erkrankungen, die ihn unfähig machten, im Frontkampf weiterzukämpfen, und da wurde er ins Lazarett gegeben. Und er beschreibt das sehr eindrücklich in der Autobiografie, dass ihn das vor Stalingrad verschont hat. Also sein Körper hat ihm eigentlich das Leben gerettet, allerdings über den Weg der Krankheit.

Führer: Horst-Eberhard Richter ist tot. Über sein Leben und sein Werk spreche ich mit Marianne Leuzinger-Bohleber, sie ist die Leiterin des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt am Main. Kommen wir mal zu dem gesellschaftlichen Engagement Horst-Eberhard Richters. Er hat 1982 – also gehörte zu den Mitbegründern 1982 der westdeutschen Sektion der Organisation, die diesen langen, umständlichen Titel hat: Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges. Was hat ihn damals dazu bewogen?

Leuzinger-Bohleber: Ich denke, auch da gab es die Kontinuität. Er hat sich immer als Pazifisten bezeichnet, auch aufgrund dieser eigenen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg. Und er hat sich leidenschaftlich dafür eingesetzt, dass menschliche Konflikte, institutionelle und eben auch Großgruppenkonflikte, ohne Krieg ausgetragen werden. Das hat ihn bis zuletzt sehr geprägt. Und Sie wissen ja, 1985 hat diese Organisation den Friedensnobelpreis bekommen, worauf er immer sehr stolz war.

Führer: Er war ja selbst Soldat im Zweiten Weltkrieg, Kriegsteilnehmer. Meinen Sie, dass das auch ein Grund …

Leuzinger-Bohleber: Absolut. Ja, ja. Also das beschreibt er auch eben in seiner Autobiografie sehr eindrücklich. Das hat ihn sehr geprägt, und eben auch erschreckt und befremdet und traumatisiert. Und seine beiden Eltern wurden ja in den letzten Kriegstagen von russischen Soldaten erschossen. Also er hat auch eine ganz persönliche Tragödie familiär erlebt. Er war ja Einzelkind und das hat Wunden geschlagen, die nie ganz geheilt sind.

Führer: Das aus heutiger Warte bemerkenswerte an Horst-Eberhard Richter ist ja auch, dass er – also wie zum Beispiel auch Alexander Mitscherlich – auch ein Psychoanalytiker war, der sich zugleich immer mit den politischen, den gesellschaftlichen Verhältnissen beschäftigt hat, und der hat ein so breites Publikum erreicht. Er saß in den Talkshows, seine Bücher waren Bestseller – das ist etwas Singuläres, was es heute, glaube ich, so nicht mehr gibt, oder?

Leuzinger-Bohleber: Ja, da haben Sie völlig Recht. Herr Horst-Eberhard Richter und Alexander Mitscherlich – es gab noch einige Persönlichkeiten in dieser Zeit –, die haben eine unglaubliche Breitenwirkung gehabt, durch die Medien, aber auch, weil beide ausgezeichnete Schriftsteller auch waren und wie gesagt die Gabe hatten, psychoanalytisches Wissen in einer Sprache zu formulieren, die dann von einem breiten Publikum verstanden und bewundert, aber auch reflektiert wurde.

Heute leben wir in einer ganz anderen Zeit, so erleben wir das im Sigmund-Freud-Institut, wo Wissenschaft sehr viel komplexer, interdisziplinärer, intergenerationell geworden ist, wo wir einfach im interdisziplinären Dialog lediglich eine Stimme sind, aber nicht mehr diese moralische Instanz, die Horst-Eberhard Richter wie Alexander Mitscherlich damals zu ihrer Zeit eben waren.

Führer: Ja, ich frage mich auch, ob das an den veränderten gesellschaftlichen Debatten liegt, die ja heute auch ganz stark unter ökonomischen Gesichtspunkten geführt werden, oder liegt es vielleicht auch an den Psychoanalytikern selbst, die eben auch solche großen Bögen einfach nicht mehr schlagen mögen? Sie als Psychoanalytikerin gefragt.

Leuzinger-Bohleber: Ja, also das ist eine sehr komplexe Fragestelllung, die uns im Zusammenhang mit der 50-Jahr-Feier unseres Instituts sehr beschäftigt hat. Ich denke, es ist beides der Fall, also die Welt der Wissenschaften hat sich in unserer globalisierten Welt extrem verändert. Das ist nicht nur in der Psychoanalyse, in allen Wissenschaften: Wir sind gegenseitig sehr abhängig geworden vom Wissen anderer Disziplinen. Und man nimmt uns auch nicht mehr ernst, wenn wir nicht gleichzeitig unser Wissen auch begründen und transparent und kritisierbar machen für Angehörige anderer wissenschaftlicher Disziplinen.

Das war für Horst-Eberhard Richter und Alexander Mitscherlich noch nicht so ein Gebot der Stunde. Es kommt natürlich dazu, dass die Psychoanalyse als Bewegung – ich habe es vorher schon kurz erwähnt –, viele ihrer Ansichten sind inzwischen in die Populär-Psychologie eingegangen. Und sie hat eine völlig andere Stellung heute, als sie damals war, hat sich sehr auf das klinische Wissen, die Behandlung von Kranken konzentriert, da sind wir hochspezialisierte Experten geworden. Und es gibt immer viele, viele Kollegen, die sind politisch engagiert. Aber sie würden sich, die meisten von ihnen, nicht, wie eben Horst-Eberhard Richter das gemacht hat, sich getrauen, die Kultur als ganze zu deuten. Das ist wirklich, hat sich verändert, und man kann dem nachtrauern, oder man kann sagen, wir sind nicht mehr so charismatische Persönlichkeiten. Es ist sicher ein sehr komplexes Zusammenspiel von vielen Faktoren.

Führer: Was meinen Sie, hätte er uns heute noch was zu sagen? Weil ich so festgestellt habe, auf viele jüngere, sagen wir mal so unter 40-Jährige, wirkten sowohl die Friedensbewegung der 80er-Jahre als auch die Psychoanalyse heute doch ziemlich antiquiert.

Leuzinger-Bohleber: Ja, ich würde die Psychoanalyse und die Friedensbewegung vielleicht nicht ganz gleichsetzen.

Führer: Nein, das habe ich auch nicht getan.

Leuzinger-Bohleber: Nein, meine ich auch nicht, aber also die Psychoanalyse selber hat auch eine Veränderung erlebt, auch dadurch, dass sie im Gesundheitssystem gut angekommen ist. Aber wir müssen uns zum Beispiel Vergleichsstudien mit anderen Therapieverfahren stellen und dort schlichtweg auch zeigen, dass die Psychoanalyse wirksam ist. Im Zeitgeist für Ökonomisierung macht das auch nicht vor der Psychoanalyse halt.

Führer: Die Frage ist ja: Hätte er uns heute noch etwas zu sagen? Den jüngeren Leuten?

Leuzinger-Bohleber: Also ich denke halt – er war ja auch sehr aktiv, bis zum Schluss, und hat dann ein Buch noch geschrieben über die Finanzkrise. Ich denke, da wird er schon gehört, und auch gerade von den jungen Leuten. Aber jetzt junge Wissenschaftler, die sind auch sehr geprägt von ihrer wissenschaftlichen Sozialisation und sind über so große Analysen in der Soziologie, Gesellschaftsdiagnosen, sind viele sehr viel kritischer geworden.

Und da sind wir wie gesagt einfach eine spezialisierte Stimme in einem interdisziplinären Diskurs, wir werden gehört als spezifische Stimme, aber wir haben nicht mehr diese quasi Meta-Position, die eben Horst-Eberhard Richter hatte. Was bleiben wird, sind einzelne Bücher, also "Eltern-Kind-Neurose" ist zu einem Klassiker geworden. Der wird auch heute noch von Erziehungswissenschaftlern gelesen. Meine Studenten lesen dieses Werk und nehmen es auch sehr zur Kenntnis. Das wird in der Wissenschaft sicher bleiben, noch lange über seinen Tod hinaus.

Führer: Ich danke Ihnen! Das war Professor Marianne Leuzinger-Bohleber. Sie ist die Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt am Main, zum Tode von Horst-Eberhard Richter. Danke noch mal für das Gespräch!

Leuzinger-Bohleber: Ja, ich danke auch!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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