Legendenbildung in Europa

"Zu einem stabilen Europa gehören eben auch stabile Länder"

Die Fahne Griechenlands weht in Athen neben der Fahne EU.
Die Fahne Griechenlands weht in Athen neben der Fahne EU © imago stock&people
Marianne Birthler im Gespräch mit Anke Schaefer  · 21.06.2018
Deutschland werde gerne als Land dargestellt, auf dessen Kosten alle lebten, obwohl die Fakten dagegen sprächen, sagt unser Studiogast, die frühere DDR-Bürgerrechtlerin Marianne Birthler. Sie warnt vor falschen Mythen und demagogischen Begriffen.
Heute beraten die Euro-Finanzminister über die letzte Tranche aus dem aktuellen Hilfsprogramm für das hochverschuldete Griechenland. Am Morgen wurde bekannt, dass Deutschland von den Rettungsmaßnahmen bislang profitiert hat - in Milliardenhöhe. Seit dem Jahr 2010 hat die Bundesrepublik insgesamt etwa 2,9 Milliarden Euro an Zinsgewinnen verdient. Erstaunlicherweise hält sich dennoch der Mythos, dass Deutschland der Zahlmeister Europas sei.
Marianne Birthler, ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin und frühere Beauftragte für die Stasi-Unterlagen, vor einem erhaltenen Stück der Berliner Mauer in der Bernauer Straße.
Marianne Birthler, ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin und frühere Beauftragte für die Stasi-Unterlagen© Alexander Moritz/ Deutschlandradio
"Dieser Begriff verbindet sich mit einem Programm, Deutschland als das Land darzustellen, auf dessen Kosten alle anderen leben, das immer mehr gibt als nimmt", sagte unser Studiogast, die frühere DDR-Bürgerrechtlerin Marianne Birthler, im Deutschlandfunk Kultur. Dabei profitiere Europa wirtschaftlich und politisch von der gemeinsamen Union. "Mit Blick auf die Zukunft ist das eine zukunftssichernde Maßnahme für ein stabiles Europa", sagte Birthler über die Hilfe für Griechenland. "Zu einem stabilen Europa gehören eben auch stabile Länder." Es könne nicht davon die Rede sein, dass Deutschland zugunsten anderer Länder ausblute. "Ich finde solche demagogischen Begriffe wirklich sehr kritisch." Sie seien in der letzten Zeit mehr im politischen Sprachgebrauch zu hören als früher, kritisierte Birthler.

Mythen der deutschen Einheit

Es gebe Leute, die auf diesem Wege Angst und Verunsicherung erzeugen wollten. Dahinter stecke eine interessengeleitete Politik, sagte Birthler. "Auf lange Zeit zahlt es sich eben nicht aus und untergräbt auch das Vertrauen in jene Politiker, die es sich wirklich nicht leicht machen und nach europäischen Lösungen suchen." Als frühere DDR-Bürgerin habe sie erlebt, wie sich vergleichbare Mythen im Verhältnis zwischen alten und neuen Bundesländern gehalten hätten. Viele Bundesbürger wüssten bis heute nicht, dass der Solidaritätsbeitrag auch im Osten des Landes bezahlt werde. Noch wichtiger sei es festzustellen, dass die Lasten der deutschen Einheit vor allem soziale Lasten gewesen seien. Der Gewinn der deutschen Einheit sei vor allem in private Kassen geflossen. "Das war natürlich ein ziemlicher Widerspruch, der uns allen zu schaffen gemacht hat", sagte Birthler. (gem)

Marianne Birthler, geboren 1948 in Berlin, war 2000 bis März 2011 die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Die frühere Bürgerrechtlerin wurde zusammen mit dem Architektenteam Graft in diesem Jahr als Kuratorin für den deutschen Beitrag auf der 16. Architekturbiennale in Venedig berufen.

Die ganze Sendung hören Sie hier: Audio Player

Mehr zum Thema