Legendäre Rennstrecke

Die Berliner Avus wird 100

Von Thomas Jaedicke · 15.09.2021
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Zehn Kilometer lang, bis auf zwei gefährliche Kehren schnurgerade – die Rennstrecke Avus versprach den Berlinern vor allem eins: Spektakel. 1921 gebaut, wurde sie 1940 für alle Autos freigegeben. Trotz anvisierter Verkehrswende gibt es heute große Umbaupläne. (*)
"Meine Damen und Herren, soeben ist die Spitze an uns vorübergebraust, sie geht jetzt in die letzte Runde…" - Große Rennen wie dieses im Mai 1932 waren Festtage für die Berliner. Hunderttausende säumten an diesem Sonntag die Strecke, reckten ihre Hälse, um wenigstens einen kurzen Blick auf Manfred von Brauchitsch, Hans Stuck oder Rudolf Caracciola erhaschen zu können.
Mit mehr als 300 Sachen donnerten die schweren Rennwagen über die knapp zehn Kilometer lange Gerade durch den Grunewald. Auf den begehrtesten Plätzen, dort wo die Fahrer am Nord- und Südende der Rennbahn scharf herunterbremsen mussten, um sich waghalsig in die Kehren der Wendeschleifen zu stürzen, bevor es wieder auf den schnurgeraden Teil der Hochgeschwindigkeitsstrecke ging, war das Gedränge und Geschiebe natürlich besonders groß.

Die spezielle "Avus-Atmosphäre"

"Die Avus war eine ganz besondere Strecke, rein vom Zuschauer her gesehen. Eine derartige Begeisterung, eine derartige Teilnahme von Zuschauern hat man, möchte ich sagen, was ich erlebt hab, außer dem Großen Preis von Brasilien, wo fast eine Million Zuschauer waren, fast nie wieder erlebt."
Hans Stuck schwärmte noch Jahrzehnte nach seiner Karriere in einer Sondersendung von Rias-Redakteur Richard Kitschigin von der speziellen "Avus-Atmosphäre". Bei den großen Rennen der 30er-Jahre hatte sie der 1900 geborene Deutsch-Österreicher ganz besonders intensiv wahrgenommen.
"Die ganze Strecke war auf beiden Seiten besetzt mit zwei, bis drei Reihen. Das war schon einmalig. Und die Zuschauer waren so sachverständig und so freudig und so begeistert. Das bleibt einem in ewiger Erinnerung. Das war für jeden Fahrer eine Genugtuung, einmal in der Reichshauptstadt gestartet zu sein."
Der deutsche Rennfahrer Hans Stuck (l), umringt von jugendlichen Fans, aufgenommen im Jahr 1934.
Schwärmte von der "Avus-Atmosphäre": der deutsche Rennfahrer Hans Stuck (l), umringt von jugendlichen Fans im Jahr 1934.© picture-alliance / dpa | Rohrmann
Stucks fünf Jahre jüngerer Konkurrent, Manfred von Brauchitsch, der das Sonntagsrennen im Mai 1932 für sich entscheiden konnte, empfand es ähnlich.
"Die Helden waren natürlich insofern für die Jugend geschaffen, weil man eben für die Zukunft, man hatte ja den nächsten Krieg schon wieder vor, da braucht man natürlich Helden, die sich opfern und die opferbereit sind und die Mut zeigen. Mut ist wichtig."

Planungen bereits vor dem ersten Weltkrieg

Die Planungen für die erste deutsche "Automobil-Verkehrs- und Übungsstraße", kurz Avus, reichen zurück bis in die Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Lebten bei Reichsgründung 1871 rund 830.000 Menschen in Berlin, waren es um 1900 im Zuge der Industrialisierung schon knapp zwei Millionen.
Auch der Verkehr auf den Straßen der Hauptstadt nahm stetig zu. 1902 ging die erste U-Bahn in Betrieb, ein Jahr später fuhren Kraftdroschken, 1905 der erste Omnibus. Und nur wenige Jahre später gab es auf den Straßen der Metropole mehr motorisierte Taxen als Pferdedroschken. Diese Mobilitätswende führte dazu, dass mit der zunehmenden Zahl von Automobilen auch immer mehr private Rennen gefahren wurden.
"Also der Sinn war eigentlich, eine Wettbewerbsstrecke zu schaffen, bei der Autorennen nicht auf öffentlichen Straßen stattfinden mussten. Vor dem Ersten Weltkrieg wurden die Autos immer schneller und stärker; die Zuschauer wurden gleichzeitig immer neugieriger. Und das war eine ziemlich brisante Mischung."
Der Autohistoriker Kurt Möser hat sich am Karlsruher Institut für Technologie jahrzehntelang mit Forschungen zur Mobilitätsgeschichte beschäftigt.
"Bei einigen Rennen, zum Beispiel bei dem Paris-Madrid-Rennen, kamen mehrere Leute ums Leben. Das Rennen wurde abgebrochen, und es war klar, dass eigentlich eine Rennbahn gebaut werden musste, zu der der normale Verkehr keinen Zutritt hatte – bei der es richtige Tribünen für die Zuschauer gab. Und das war der eigentliche Sinn."

Weltweit erste Rennbahn bauten die Briten

Die Briten waren dann die ersten, die in Europa auf das gesellschaftliche Interesse an Autorennen und die Nachfrage der Automobilhersteller nach Teststrecken reagierten. Brooklands in der südenglischen Grafschaft Surrey war 1907 weltweit die erste Bahn, die nur für Testfahrten und Rennen genutzt wurde. Finanziert hatte den Kurs ein wohlhabender Großgrundbesitzer.
Im Deutschen Kaiserreich war es Prinz Heinrich, der seinen älteren Bruder, Kaiser Wilhelm, der Automobile eigentlich als "Stinkkarren" abtat, schließlich vom Bau der ersten Autobahn überzeugte. Im Januar 1909 wurde im feudalen Haus des Kaiserlichen Automobilclubs am Leipziger Platz in Berlin schließlich eine GmbH gegründet und mit der Avus-Planung beauftragt. Doch es vergingen noch zwölf Jahre bis zur Fertigstellung.
"Man darf nicht vergessen, dass der Erste Weltkrieg dazwischen lag. Also es gab finanzielle Planungen, ja, aber die wurden komplett über den Haufen geworfen. Der Erste Weltkrieg hatte natürlich zu einer massiven Entwertung der Mark geführt. Und 1921 gab´s auch schon Inflation. Es wurde natürlich teurer, klar."
Außerdem hatte es nach Kriegsende noch mal zwei Jahre gedauert, bis private Investoren wie der Großindustrielle Hugo Stinnes wieder bereit waren, neues Geld zu geben. Doch dann wurde die neue Strecke, für deren einmalige Benutzung eine Gebühr von zehn Reichsmark fällig war, kaum genutzt. Die Menschen hatten in diesen schweren Jahren weder Geld noch Zeit dafür, sagt Kurt Möser. Und schon bald gab es technische Probleme, die es den Automobilherstellen unmöglich machten, ihre neuen Modelle, die immer höhere Geschwindigkeiten erreichen konnten, auf der Bahn zu testen.
"Denn es war nicht so richtig klar, welchen Straßenbelag und welchen Straßenunterbau solche Hochgeschwindigkeitsstrecken haben mussten. Das heißt, am Anfang hat man mit traditionellen Straßenbaumitteln gearbeitet und dann geteert. Aber für die hohen Geschwindigkeiten, die dann doch gefahren wurden, war dieser Belag eigentlich ziemlich sinnlos. Das heißt, nach kurzer Zeit schon war die Oberfläche der Avus veraltet, funktionierte nicht mehr bei hohen Geschwindigkeiten. Sie hatte Wellen entwickelt und Rillen, so dass die Oberfläche schon wenige Jahre nach dem Bau der Avus erneuert werden musste."

Avus zunächst keine Erfolgsstory

Das erste Avus-Jahrzehnt war alles andere als eine Erfolgsstory. Erst zu Beginn der 30er-Jahre waren die gröbsten Probleme überwunden. Und mit dem rasanten technischen Fortschritt, der immer schnellere Autos auf die Straße brachte, wurde auch der Avus-Rennkalender immer dicker.
"Wir warten immer noch auf Caracciola… Und inzwischen kommt Burggaller hier bei uns vorbei… Jetzt!", so ein Reporter.
Rudolf Caracciola war der Rennfahrerstar der 30er-Jahre. Während der legendären Mercedes-Silberpfeil-Ära wurde der Sohn eines rheinischen Weingroßhändlers drei Mal Europameister. Seine umjubelten Kämpfe und Siege auf der Avus, durch die Übertragungen des neuen Massenmediums Rundfunk weiterverbreitet, verhalfen dem Motorsport zu immer größerer Popularität.
Der Rennfahrer Rudolf Karratsch Caracciola ist mit dem englischen Weltrekordrennfahrer Sir Malcolm Campbell (Mitte) beim Training für das Große Internationale ADAC-Rennen auf der Avus in Berlin abgebildet, aufgenommen am 19. Mai 1932.
Rudolf Caracciola, hier mit dem englischen Weltrekordrennfahrer Sir Malcolm Campbell (Mitte), war der Rennfahrerstar der 30er-Jahre.© picture alliance / Imagno/Austrian Archives (S)
"Und wieder jagt er nach Süden, die Gerade hinauf. Immer schneller ist er geworden. Und jetzt in die Senkung hinein… Er verschwindet für einen ganz, ganz kurzen Augenblick nur, taucht wieder auf und jagt…"
Die Rennatmosphäre wird auf der Avus hautnah erlebbar. Immer schnellere Runden werden gedreht. Ein Rekord jagt den anderen. Die Piloten, furchtlose Maschinenkrieger und Soldaten der Tempofront, die in neue Raum-Zeit-Kulissen vorstoßen, riskieren im Geschwindigkeitsrausch Kopf und Kragen. Das elektrisiert das Volk.
Hunderttausende strömten, wie die "Frankfurter Zeitung" im Mai 1937 schrieb, in Sonntagskluft in öffentlichen Verkehrsmitteln aus Berlin und dem Umland zur Avus, um sich entlang der Strecke, in den Kurven und an Start und Ziel zu zerstreuen. Überall herrschte bierselige Laune im Gedränge und Geschubse um die besten Plätze.
Niemand wollte dieses Vergnügen einfach so sausen lassen. Die teuersten Karten mit Blick auf Start und Ziel in Nordkurve waren für 30,10 Reichsmark zu haben. Die billigsten Plätze an der Zwischenschleife und im Wald kosteten 1,10 Reichsmark.
Zum Start werden die schweren Silberpfeile auf die Bahn geschoben und in Zweierreihen hintereinander aufgestellt.
Der Reporter der NSDAP-Gauzeitung "Der Angriff" schrieb im Mai 37: "Dann bekommen die Motoren ihre ´elektrische Spritze´, heulen knurrend auf, die Monteure hauen ab, was das Leder hält, der Böllerschuss knallt und schickt eine weiße Rauchfahne durch das Geäst der Bäume – in der nächsten Sekunde ist alles ein tobender Hexenkessel."
Welches Herz bleibt schon kalt, wenn sich ein Caracciola, scheinbar unbeeindruckt vom halsbrecherischem Rasen, elegant aus dem schnittigen Rennwagen schwingt und die enganliegende Lederkappe vom Kopf reißend, im Triumph des lässigen Draufgängers, der jubelnden Masse zuwinkt.

Nationalsozialisten vereinnahmten wachsende Autobegeisterung

"Hörst Du, Fahrer, den Klang der Motoren? Spürst Du des Motors stürmende Kraft? Fühlst Du die Herzen der Heimat schlagen, die deine siegreichen Waffen schafft? Wir bauen mit Stirn und Hand Motoren fürs Vaterland…"
Die Avus war nicht nur eine Straße. Sie war die Summe dieser Momente: Der dröhnende Lärm der Motoren. Die Hektik am Start. Adrenalin. Der Geruch von Benzin und Motoröl. Pannen. Unfälle. Flaggen. Das Fiebern und Bangen. Die gefährlichen Kurven. Tempo und Todesangst. Wer gewinnt? Und wer bleibt auf der Strecke?
"Dazu die jeweiligen Fahrzeuge, schon der Name ‚Silberpfeile‘, spielte eine sehr große Rolle", sagt Kurt Möser.
Die Nationalsozialisten ließen sich eine so grandiose Bühne, die Motorsport und Avus boten, nicht entgehen, sagt der Mobilitätshistoriker. Kühl kalkulierend vereinnahmten sie die wachsende Autobegeisterung der Deutschen für ihre Ideologie. Die schnittigen Autos, die todesmutigen Fahrer, das höllische Tempo: Auf der Avus wird in den 30er-Jahren das Fundament für den "Mythos Auto" gegossen.
"Und dass Hitler ein massiver Förderer des Autos war, und der Nationalsozialismus alle Aspekte des Autos versucht hat zu optimieren und propagandistisch einzusetzen, also vom Straßenbau bis zum Wagen für das Volk, bis zur Abschaffung etwa der Führerscheinpflicht, der Abschaffung der Besteuerung und – was man heute manchmal vergisst – der Abschaffung der Höchstgeschwindigkeit. All diese Maßnahmen führten dazu, dass die Autobegeisterung, die Faszination fürs Auto in Deutschland nochmal einen Schub bekam, und dass das mit dem Nationalsozialismus und dessen Modernitätsanspruch eben verkuppelt wurde."
"Meine Freundin hat ein Auto, doch ich hab den Führerschein. Und mit diesen beiden Dingen, fahren wir ins Glück hinein. Meine Freundin hat ein Radio, aber ich weiß, dran zu drehen. Und so machen wir gemeinsam uns das Leben täglich schön...", sang Wilfried Sommer zu Eugen Grossmann mit seinem Tanzorchester im Jahr 1939.
Auch mit einer neuen Architekturästhetik wurden Zeichen gesetzt. Am nördlichen Scheitelpunkt der Strecke, in Sichtweite der großen Avustribüne, wurden 1937 die halsbrecherisch steile Nordkurve und das Mercedeshaus eingeweiht. Den markanten, runden Turmbau mit dem Mercedesstern auf dem Dach versah der Architekt Walther Bettenstaedt, Oberbaurat der Reichsbauverwaltung, mit vier umlaufenden Galerien. Von hier oben ließen sich die riskanten Manöver unten auf der Piste ganz bequem, wie aus einer Loge heraus, beobachten.

Der Niedergang der Avus nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach dem Zweiten Weltkrieg brauchte die schwer beschädigte Avus, inzwischen überwiegend als Cityzubringer genutzt, eine lange Anlaufphase. Erst 1951 gab es wieder ein großes, internationales Rennen. Bundespräsident Theodor Heuss sah in ihrem Comeback ein Zeichen für die trotz aller Nöte ungebrochene Lebenskraft Berlins. Doch obwohl 1959 sogar ein Formel-1-Rennen auf dem Kurs in der geteilten Stadt stattfand, wollte der Funke nicht mehr so richtig auf die Berliner überspringen.
"Da kommen sie. Und in der Spitzenposition der Schwede Bonnier. Etwa 15 Meter dahinter, packendes, sehr scharfes Duell zwischen Behra und dem Amerikaner. Behra klar in der zweiten Position. Der Amerikaner gibt mächtig Gas. Lässt das Gas praktisch stehen und jagt jetzt mit einem unheimlichen Tempo dem Franzosen hinterher. Aber der Schwede führt wiederum, als er die Südkehre verlässt mit 15 Metern, ganz knapp gerechnet…", hieß es beim Sportwagenrennen im Jahr 1958.
Die große Zeit der Avus war vorbei. Im Vergleich zu anderen Strecken fanden Publikum und Fahrer die endlos langen Geraden immer langweiliger. Der britische Meisterfahrer Sterling Moss nannte die Avus sogar die "schlechteste Rennstrecke der Welt". Außerdem war die zwölf Meter hohe Steilkurve besonders bei regennasser Fahrbahn ein unkalkulierbares Risiko. Wegen der fehlenden Absicherung an der Oberkante schossen immer wieder Rennfahrer darüber hinaus und stürzten ab. Längst hatte der Volksmund die "Nord"- zur "Mordkurve" umgetauft.
1959 war Jean Behra in einem Sportwagenwettbewerb, der am Vorabend des Formel-1-Rennens stattfand, mit einem privaten Porsche Spider am Start. Weil sein Wagen auf den langen Geraden nicht mit den stärker motorisierten Werksautos der Konkurrenten mithalten konnte, versuchte der 27-jährige Franzose verzweifelt, in den engen Kurven am Süd- und Nordende der Piste Terrain gutzumachen.
"Und es fing an zu regnen. Und Behra ist hier eindeutig ein bisschen zu schnell hineingegangen auf der Jagd nach Trips und Bonnier. Und wenn ein Wagen da einmal ins Rutschen kam, dann war also nichts mehr zu machen."
Rennfaher Jean Behra beim Großen Preis am Nürburgring im Jahr 1957 mit Zigarette im Mund 
Starb 1959 bei einem Sportwagenwettbewerb in der Nordkurve: der Rennfahrer Jean Behra.© picture alliance / Hoch Zwei / Grand Prix Photo
Behras Rennfahrerkollege Richard von Frankenberg war drei Jahre zuvor selbst über die steile Avus-Nordkurve hinausgeschossen. Wie durch ein Wunder hatte er den Unfall jedoch fast unverletzt überlebt. Bei Behras tödlichem Sturz am 1. August 1959 war Frankenberg, wie er sich im Rias erinnerte, Augenzeuge.
"Tragisch war es vor allen Dingen insofern, als er dann oben über den Rand hinauskatapultiert wurde, und der Wagen an einen Betonsockel anstieß, der – soviel ich weiß – für Flakstellungen im Kriege da war und noch übriggeblieben war. Und dadurch bekam also dieser Wagen einen ungeheuren Schlag und Behra flog heraus und flog noch an einen Fahnenmast und war dann sofort tot."

Abriss der steilen Nordkurve im Spätsommer 1967

Im Spätsommer 1967 wurde die steile Nordkurve, die letzte wirklich große Avus-Attraktion, abgerissen. Zu den bevorstehenden Arbeiten wurde Oberbaurat Georg Aunap vom Sender Freies Berlin befragt.
Reporter: "Wie aber wird man nun diese 12.000 Quadratmeter umfassende Piste, die aus Klinkersteinen gefügt ist, abreißen können, Herr Oberbaurat Aunap? Wird das genauso schwierig sein wie noch vor wenigen Wochen das Durchsteuern dieser Kurve?"
Aunap: "Nein, technisch stellt sich diesem Abriss kaum ein Problem entgegen. Wir hoffen, dass wir hier ohne Sprengungen auskommen werden. Wir werden diese Schale, diese Betonschale und die Klinkerschale mit einem Bagger zerschlagen."
Die tödliche Gefahr, die dieser Abschnitt bei Rennen bedeutete, war aber nicht der Hauptgrund für den Rückbau. Vielmehr hatten städtebauliche Überlegungen den Ausschlag für den Abriss gegeben. Bald entstand an dieser Stelle das Autobahndreieck Funkturm, das die Avus nun noch enger mit der Stadt verband. Die neue Verkehrsplanung, in deren Verlauf die Autobahn im Bereich des Messegeländes immer weiter ausgebaut wurde, holte die einstmals exponierte Rennstrecke in die Berliner Stadtlandschaft hinein. Die Rennpiste verlor ihren letzten Thrill. Und der attraktive Zuschauerraum im Inneren der gefährlichen Nordkurve verkam zu einem Lkw-Parkplatz.
In die Jahre gekommene Rennsporthaudegen wie Alfred Neubauer blickten wehmütig zurück.
"Wir kamen gern. Diese Strecke war einmal für uns eine furchtbare Zerreißprobe. Die Zerreißprobe des Motors. Und zehn Kilometer runter und zehn Kilometer rauf. Und als wir im Jahre 1937 mit den hohen Geschwindigkeiten das letzte Mal fuhren, da erreichten wir 410 Kilometer. Das ist ja heute nicht mehr möglich."
Als Rennleiter des Mercedes-Benz-Grand-Prix-Teams hatte er die legendären Silberpfeile während der großen Avus-Rennen in den 30er-Jahren betreut.
"Wir liebten diese Nordschleife, weil sie eben etwas Abnormales ist. Keine normale Kurve. Und es ist auch eine Kunst, durch diese Schleife zu fahren. Die Strecke ist mit der alten nicht mehr zu vergleichen."

Symbol-politische Bedeutung im Kalten Krieg

Sportlich war die gezähmte Avus bedeutungslos geworden. Dafür trat die große symbol-politische Bedeutung, die der schnurgeraden Bahn in der Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg zugeschrieben worden war, umso stärker in den Vordergrund.
Für die Westberliner Ikonografie war diese Straße enorm wichtig, sagt Autohistoriker Kurt Möser. Die Avus, auf der seit der Nazizeit kein Tempolimit galt, war nun so etwas wie ein auf Asphalt eingelöstes Versprechen des westlichen Freiheitsmodells.
"Das isolierte Berlin, Berlin die Frontstadt im Kalten Krieg, hat solche Symbole benutzt und ebenso – wenn man so will – propagandistisch aufgewertet, auf ganz andere Weise als die Nationalsozialisten. Dass das ganze System dieser Renninfrastruktur immer mehr auch zu einer ganz normalen Autobahnstruktur wurde, ist das eine. Aber der Symbolcharakter ist natürlich nach wie vor dageblieben. Der Verzicht auf Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen, der wurde immer im Kalten Krieg als Symbol der westlichen Freiheit kommuniziert. Dass die Nationalsozialisten es vorher eingeführt haben, wurde natürlich verschwiegen."
"Ich habe die Statistik vorliegen, der zunehmenden Unfälle auf diesem Abschnitt. Wir hatten in den Jahren ´86 und ´87 77 bzw. 70 Verkehrsunfälle auf diesem Abschnitt. Und hatten ´88 ´ne Steigerung auf 108 Verkehrsunfälle. Ein Toter 14 Schwerverletzte, 38 Leichtverletzte."
1989, kurz vor dem Mauerfall, produzierte die Avus noch einmal große Schlagzeilen. Verkehrssenator Horst Wagner von der SPD, ein ehemaliger Gewerkschaftsboss, erklärte im Rias, warum er es gewagt hatte, dort Tempo 100 einzuführen. Der rot-grüne Senat hatte sich dafür ausgesprochen, weil die Unfälle zunahmen. Was beim hochsensiblen Thema "Autoverkehr" sofort zu heftigen Reaktionen führte.

Heftig umstrittenes Tempolimit 100

"Also er hat nicht gelernt und nicht gemerkt, dass man bestimmte staatliche Maßnahmen auch immer erst reifen lassen muss, bis die Mehrheit der Bevölkerung schreit, wir wollen das haben, oder jedenfalls alle Argumente dafür klar sind."
Noch mit einem Abstand von mehr als 30 Jahren ist Walter Momper, damals Regierender Bürgermeister von Berlin, unglücklich darüber, wie das Ganze ablief. Obwohl die Zeit reif für Reformen gewesen sei, habe das Timing seines SPD-Parteikollegen Wagner einfach nicht gestimmt.
"Er hat das von heute auf morgen umgesetzt. Über Nacht standen auf einmal die Schilder. Und da war was los! Die Stadt fühlte sich überfallen. Der ADAC machte eine Riesenkampagne gegen den Senat. Mit dem Argument, ´Freie Fahrt für freie Bürger´."
Verkehrssenator Wagner und der gesamte Senat standen damals heftig unter Beschuss. Vor allem von der CDU-Opposition, aber auch aus den eigenen Reihen wurde Gewerkschafter Wagner vorgeworfen, mit der Einführung der Tempobeschränkung auf 100 km/h, die ja auch auf DDR-Autobahnen galt, die Berliner Arbeiterklasse verraten zu haben. Die Meinungen der Autofahrer, die damals von einem Reporter des Senders Freies Berlin am Grenzübergang Dreilinden befragt wurden, waren geteilt.
"Na, dit is doch idiotisch, is doch dit, Mensch! Könn ´se doch sagen, wat ´se woll´n. In welchem Staat leben wir denn überhaupt? Leben wir in ´ner Freiheit, oder wo?"
"Ach, das kleine Stückchen 100, wenn man 1000 Kilometer fährt. Also, dass kann man tatsächlich noch mit ruhigem Gewissen und mit guter Fahrt schaffen."
Die konkrete Auswirkung des Tempolimits war unterm Strich kaum der Rede wert. Denn für das sechseinhalb Kilometer lange Teilstück zwischen Grunewald und Grenzkontrollpunkt Dreilinden brauchten Kraftfahrer lediglich zwei Minuten länger als bisher.
"Klar war die Grundstimmung noch ´ne andere, die war eben pro Auto. Aber es gab doch auch schon aus dem Wahlkampf heraus, wo das ja alles schon immer ´ne Rolle gespielt hatte, ´ne Menge Verständnis dafür, dass man langsam eine Korrektur in eine andere Richtung bringen musste. Und von daher hatten auch ´ne Menge Leute Verständnis dafür."

Nach 77 Jahren Motorsport war endgültig Schluss

Heute steckt in dem Tempolimit auf der Avus kein Zündstoff mehr. Höchstens in dem Tempo-30-Gebot auf immer mehr Hauptverkehrsadern in Berlin. Knapp zehn Jahre nach Tempo 100 kam dann auch das Ende für die Avus als Rennstrecke. Nach der Wiedervereinigung hatte der Verkehr so stark zugenommen, dass eine Vollsperrung für Autorennen, selbst an Wochenenden, einfach nicht mehr durchsetzbar war. Am ersten Maiwochenende 1998 heulten beim DTC Tourenwagen Porsche Cup Ferrari noch einmal die Motoren auf. Dann war nach 77 Jahren Motorsport endgültig Schluss.
Seitdem ist die große, alte Rennpiste Vergangenheit. Die legendäre Avus ist nur noch ein Teilstück der Bundesautobahn 115, die den Berliner Stadtring am Dreieck Funkturm im Südwesten der Stadt mit dem Berliner Ring am Dreieck Nuthetal im Süden verbindet.
Inzwischen ist das Dreieck Funkturm das meistbefahrene Autobahnstück Deutschlands. Wie Verkehrsexperten berechnet haben, fahren ungefähr 250.000 Fahrzeuge pro Tag über den Autobahnknoten in unmittelbarer Nähe der alten Avus Nordkurve. Wegen der hohen Belastung soll jetzt nach einer ersten großen Sanierungsmaßnahme, die vor zehn Jahren abgeschlossen wurde, bald erneut in großem Stil umgebaut werden. Brücken werden erneuert, alte Anschlussstellen geschlossen, neue angelegt. Wenn alle Einsprüche und Klagen verhandelt sind, könnte das gigantische Infrastrukturprojekt nach Einschätzung von Fachleuten 2024 starten.
Viel Verkehr herrscht am Dreieck Funkturm auf der Stadtautobahn A100 in Berlin, aufgenommen 2013.
Inzwischen ist das Dreieck Funkturm das meistbefahrene Autobahnstück Deutschlands.© picture alliance / Michael Kappeler
Das Gelände des Parkplatzes, wo früher die Nordkurve war, ist heute noch dieser denkmalgeschützte Rasthof. Und alles andere ist Parkplatzfläche. Und wie wird das zukünftig aussehen, gibt es dafür auch einen neuen Nutzungsplan?
"Im Moment läuft ja die Avus westlich an diesem Parkplatzgelände vorbei. Die wird verschwenkt. Die wird also dieses Parkplatzgelände zerschneiden", sagt Falk von Moers.

Eichkampsiedlung direkt an der Avus

Seit mehr als 30 Jahren lebt von Moers in der Eichkampsiedlung. In der in den 20er-Jahren unter anderen von den Gebrüdern Taut entworfenen Einfamilienhaussiedlung wohnen etwa 2000 Menschen. Am östlichen Rand trennt die Häuser von der Avus nur die schmale Eichkampstraße und ein mehrere Meter hoher, undurchsichtiger Lärmschutzzaun.
Im Zuge des Umbaus war eine neue Anschlussstelle direkt an der Siedlung geplant. Doch in langwierigen Verhandlungen konnte Falk von Moers als Sprecher des "Siedlervereins Eichkamp" zusammen mit dem grünen Bezirksstadtrat Oliver Schruoffeneger den Bund als zuständigen Bauherrn von dieser Planung abbringen. Ansonsten hätten täglich etwa 45.000 Fahrzeuge diese Anschlussstelle genutzt, die nun auf der anderen, unbewohnten Avus-Seite entstehen soll.
In Falk von Moers` Wintergarten ist an diesem Vormittag kaum etwas von der Avus zu hören, nur ein leises Rauschen. Sein Haus steht mitten in der idyllischen Siedlung, Luftlinie nur etwa 200 Meter von der Avus entfernt. Vor Jahrzehnten, als der Verkehr noch nicht so dicht war, sei der Lärm sogar in den vorderen Häuserreihen noch erträglich gewesen.
"Aber, man ist immer froh, wenn Sonntagmorgen mal nichts zu hören ist."
Plakat gegen eine neue Anschlussstelle in unmittelbarer Nähe zur Eichkampsiedlung
Erfolgreicher Protest: Plakat gegen eine neue Anschlussstelle in unmittelbarer Nähe zur Eichkampsiedlung.© Deutschlandradio / Thomas Jaedicke
Glauben er tatsächlich, dass Menschen hierhergezogen sind wegen der Autorennen?
"Das war ein bisschen übertrieben. Es stimmt aber, dass in der Anfangsphase, als die Siedlung gebaut wurde, die Häuser an der Avus die beliebtesten waren und dort – sieht man gerade im südlichen Teil Eichkamps, sind auch größere Häuser. Also da war Avus-Nähe noch ein Proargument, weil da eben mal alle halbe Stunde irgend so ein originelles Auto vorbeikam. Das fanden die noch gut."

Bürgernähere Verkehrs- und Stadtplanung gewünscht

Falk von Moers und der "Siedlerverein Eichkamp" sind keine militanten Autobahngegner. Berlin brauche eine funktionierende Infrastruktur. Die Initiative wünscht sich aber eine bürgernähere Verkehrs- und Stadtplanung. Für den Umbau einer Autobahn wie die Avus, die im Laufe der Zeit immer tiefer ins Stadtleben hineinwuchs, fehlt der zuständigen, dem Bund unterstehenden Deutsche Einheit Fernstraßenplanungs- und -bau GmbH, DEGES, die nötige Sensibilität. Die können nur Autobahn, sagt der pensionierte Physiker.
Abgesehen von der seit 100 Jahren bestehenden Eichkampsiedlung wird durch die Umgestaltung am Autobahndreieck bald noch viel mehr neuer Wohnraum entstehen. Deswegen wäre es, wie Falk von Moers findet, sinnvoller gewesen, die neue Avus am Autobahndreieck Funkturm als Stadtstraße und nicht als Autobahn zu planen.
Schon jetzt tut sich am Autobahndreieck viel. In die Gebäude der alten Avus-Renninfrastruktur zieht neues Leben ein. Neuer Hauptmieter der seit 20 Jahren leerstehenden Tribüne ist ein Fernsehsender. Als direkter Avus-Anrainer sieht Falk von Moers täglich, wie sich die Gegend am Dreieck Funkturm, dem nördlichen Ende der ehemaligen Rennstrecke verändert. Für viele mag die Avus mittlerweile bedeutungslos sein. Für Falk von Moers ist die legendäre Strecke vor seiner Haustür Teil seines Lebens.
"Wenn man aus den Ferien nach Hause kam, war zu Hause, wenn man den Funkturm wiedergesehen hat. Und den sieht man eben von der Avus aus."

Es sprach: der Autor
Technik: Andreas Stoffels
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Redaktion: Susanne Arlt (*)

(*) Redaktioneller Hinweis: Wir haben die Längenangabe korrigiert.
Wir haben die redaktionelle Verantwortung korrigiert.
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