Digital-Technik in der Justiz

Software im Namen des Volkes

28:57 Minuten
Illustration einer juristischen Waage auf einem Computerbildschirm.
Programme können helfen, durch den Paragrafen-Dschungel zu finden. © imago / Ikon Images / Patrick George
Von Marius Elfering · 10.01.2022
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Programme und Algorithmen könnten das Rechtssystem der Zukunft verändern. Die einen sehen darin eine Chance: Betroffene können schneller zu ihrem Recht kommen, Richterinnen vorurteilfreier entscheiden. Andere fürchten eine automatisierte Justiz.
Sommer 2021: Eine Gruppe von Richtern, Anwältinnen und Studierenden der Universität Köln trifft sich zum digitalen Austausch. Hier und dort knistert ein Mikrofon, zwei Studierende halten einen kurzen Vortrag. Der Titel der Veranstaltung: „Gerechte Strafe dank Smart Sentencing? – Das Strafzumessungstool bei der Urteilsfindung.“
Das Thema klingt sperrig und starr, und doch hören die Teilnehmer und Teilnehmerinnen gebannt zu und beginnen, dann rege zu diskutieren. Denn, was trocken klingt, ist ein Thema, das hier zwar unter Experten und Expertinnen diskutiert wird, irgendwann aber die Gesellschaft als Ganzes betreffen könnte.
Die Frage, die sich hier alle stellen: Wie verändern sich die Aufgaben der Justiz in der Zukunft? Also: Wie können vor Gericht angemessene Urteile gefällt werden? Warum erhalten Bankräuber in Bayern im Schnitt eine höhere Haftstrafe als im Norden Deutschlands? Und nicht zuletzt: Kann Technik dabei helfen, solche Ungleichheiten, ja vielleicht sogar Ungerechtigkeiten des Rechtssystems zu minimieren?

Ein Programm, um das Strafmaß zu vergleichen

Bei vielen, die sich mit dem wachsenden Themenfeld, das Legal Tech genannt wird und das sich mit der Zukunft des Rechtswesens auseinandersetzt, beschäftigen, stoßen Themen wie das der heutigen Konferenz entweder auf totale Ablehnung oder aber breite Zustimmung.
Das Smart-Sentencing-Tool wurde von Studierenden der Universität zu Köln entwickelt. Es ist ein Programm, das dem Richter oder der Richterin in Zukunft aufzeigen könnte, wie vergleichbare Straftaten in anderen Teilen Deutschlands abgeurteilt wurden. Toll, finden die einen: Das könnte für mehr Gerechtigkeit sorgen, Gerichtsentscheidungen vielleicht auch nachvollziehbarer machen. Bloß nicht, sagen die anderen: Die Entscheidungen müssten voll und ganz beim Menschen, also dem Richter oder der Richterin liegen, ohne Einflüsse von außen.

Ängste vor dem Robo-Judge

In der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Uni Köln sitzen eine junge Frau und ein junger Mann. Muskaan Multani und Felipe Molina sind Teil eines Vereins, der sich „Legal Tech Lab Cologne“ nennt und Veranstaltungen wie die aktuelle Videoreihe organisiert. Eine Gruppe Studierender, die gemeinsam darüber nachdenken, wie die Zukunft des Justizwesens aussehen könnte, welche Gefahren und Hürden es gibt, vor allem aber: welche Chancen.
Wenn man von der Außenperspektive hier reinschaut, wird halt oft dieses Bild vermittelt: Legal Tech oder generell Digitalisierung bedeutet, die Menschen werden ersetzt und werden nichts mehr zu tun haben“, sagt Muskaan Multani. Bei den Richterinnen würde deswegen oft der Begriff Robo-Judge fallen. „Dass da bald eine Maschine oben sitzt und gar nicht mehr eine Richterin, die dann entscheidet. Diese Ängste spielen da auch auf jeden Fall mit.“
Muskaan Multani und Felipe Molina vom Verein  „Legal Tech Lab Cologne“.
Muskaan Multani und Felipe Molina sehen zahlreiche Chancen digitaler Technik in der Justiz.© privat
Beim Lab wollen sie zeigen, dass es nicht „so ins Extreme“ gehen müsse. „Es geht nicht darum, irgendwelche Berufsposten, seien es Anwälte, Anwältinnen oder Richterinnen, zu ersetzen, sondern es geht eher darum, dass man mit Maschinen oder mit Tools zusammenarbeitet.“
Muskaan Multani hat Wirtschaftsrecht studiert. Felipe Molina, der ihr an diesem Tag gegenübersitzt, Rechtswissenschaften. Sie sind Teil des Vorstandsteams des „Legal Tech Lab Cologne“. Ähnliche studentische Initiativen haben sich an vielen Universitäten in Deutschland etabliert. Die Zukunftsentwicklung der Justiz, das war das Gefühl vieler in den vergangenen Jahren, verläuft zu träge, die Weiterentwicklung werde verschlafen. Vielleicht auch, weil in einem an sich funktionierenden Rechtsstaat wie Deutschland Fortschritt auch immer mit Unsicherheiten einhergeht, mit Veränderungen, die Vorteile mitbringen können, aber bei denen viele auch Gefahren sehen.
„Wenn man sich mit Innovation beschäftigt, gibt es diesen Dreiklang: People, Processes, Technology“, erläutern sie. Menschen, Prozesse und Technologien. „Dass der Mensch immer im Fokus steht, das wird auch die ganze Zeit versucht zu betonen. Dass es einfach nur, derzeit jedenfalls, eine Hilfeleistung ist, das ist unumstritten. Ich glaube, bei dem Thema Smart-Sentencing und bei Technologien generell ist zu schauen: Was soll die überhaupt erzeugen, und was ist das tatsächliche Risiko?“

Legal Tech – eine Definitionsfrage

Die 1970er-Jahre: In Büros, auf Ämtern, aber auch in Rechtsanwaltskanzleien und in Gerichten werden immer mehr Computer genutzt. Schon bald entstehen auch die ersten Software-Angebote für den juristischen Bereich: zum Beispiel Programme, die Anwältinnen und Anwälten die tägliche Arbeit erleichtern sollen.
Doch während in anderen Branchen im Laufe der Jahre immer mehr Start-ups aus dem Boden schießen, die Lösungen für unterschiedlichste Probleme liefern, läuft die Entwicklung im juristischen Bereich lange schleppend. In den vergangenen Jahren hat sich das geändert. Mit immer neuen Geschäftsideen, Programmen und Zukunftsvisionen entwickelte sich auch ein Begriff für solche Technologien: Legal Tech.
Eine einheitliche Definition des Begriffes gibt es nicht, das Themenfeld ist breit gestreut. Legal Tech setzt sich aus den Worten „Legal Services“ und „Technology“ zusammen. Kurz gesagt: Alles, was die Digitalisierung der juristischen Arbeit betrifft, kann so genannt werden.
Das Wichtige bei Definitionen: „Dass man ordentliche Erwartungshaltungen schafft, Angst und zu krasse Hoffnung irgendwie balanciert“, sagt Daniel Halmer. Er sitzt im Innenhof eines großen Bürokomplexes in Berlin, ein ruhiger Mann im weißen Hemd. Er will zeigen: Bei Legal Tech geht es nicht um die mögliche Dystopie eines urteilenden Computers, der in Zukunft Richter und Richterinnen ersetzt und entscheidet, wer wie lange und wofür ins Gefängnis geht. Für ihn ist Legal Tech viel mehr eine wichtige Waffe im Zivilrecht.

Verbraucherrechte als Chance für Legal Tech

Halmer ist Rechtsanwalt, vor allem aber Geschäftsführer und Gründer von Conny“ einem sogenannten Legal-Tech-Inkasso. Gestartet ist das Unternehmen 2016 als wenigermiete.de, um für Verbraucher und Verbraucherinnen die Mietpreisbremse einfach und schnell gegenüber Vermietern und Vermieterinnen durchzusetzen oder einer Mieterhöhung entgegenzutreten.
Der Gedanke hinter solch einem Legal-Tech-Inkasso ist einfach: Massenverfahren, wie die Durchsetzung der Mietpreisbremse, sind einfach standardisierbar. Eine Onlinemaske, die gezielt Fragen an die Interessenten stellt und dann prüft, ob das Verfahren Aussicht auf Erfolg hat. Falls dem so ist, macht der Algorithmus den Rest. Schriftsätze, Forderungen, all das erledigt Conny dann automatisiert.
„Das ist nicht eine schlaue Geschäftsidee von technologieorientierten Anwälten, wie es manchmal dargestellt wird“, sagt Halmer. „Sondern: Ein moderner Rechtsstaat in der digitalen Zeit benötigt zwingend die Durchsetzbarkeit gering-volumiger Forderungen.“ Das sei die Gründungsidee von Conny beziehungsweise wenigermiete.de gewesen. „Warum Miete? Dort zeigt sich dieses enorme Auseinanderklaffen zwischen Recht haben und Recht bekommen in der Praxis am deutlichsten“, so Halmer. „Da zeigt sich, dass da in Berlin zigtausend Menschen jedes Jahr auf die Straße gehen und für mehr Mieterrechte irgendwie demonstrieren.“ In Wahrheit sei das Mietrecht aber „sehr, sehr streng“ und schütze den Mieter eigentlich sehr gut. “Das war so ein Gründungsimpuls, wo wir, mein Mitgründer und ich, damals uns die Augen gerieben haben, ins Gesetz geguckt haben und gesagt haben: Eigentlich ist es ein scharfes Schwert, aber es kommt irgendwie nicht an. Woran liegt das eigentlich?“
2019 spricht der Bundesgerichtshof ein Urteil, das viele Expertinnen und Experten damals als wegweisend für die deutsche Legal-Tech-Branche empfinden. Das Portal wenigermiete.de dürfe Ansprüche von Mieterinnen und Mietern durchsetzen, urteilte der BGH.
Ein Demonstrant trägt einen Mundschutz an dem ein Aufkleber mit der Aufschrift «Gegen Verdrängung und Mieten Wahnsinn» geklebt ist.
Mieter hätten in Deutschland weitreichende Rechte, meint Anwalt Daniel Halmer. Nur ließen sich diese schwer einklagen.© picture alliance / dpa / Britta Pedersen
Was viele Anwälte und Anwältinnen als einen Eingriff in ihr Berufsfeld ansehen, sei von der Inkassolizenz gedeckt, stellt das Gericht damals fest.
Wenigermiete.de darf weitermachen. Über Artikeln, die damals geschrieben werden steht „Tore auf für Legal Tech“ oder auch „Das ist erst der Anfang“. Denn das Urteil ist nicht nur für Anwälte und Anwältinnen relevant, die damals Sorge haben, dass ihnen Geschäftsfelder genommen werden, sondern auch für viele Großkonzerne: Fluggesellschaften, Volkswagen, große Firmen müssen nun damit rechnen, dass ähnliche Portale wie wenigermiete.de in Zukunft massenhaft Verbraucheransprüche durchsetzen können.
Genau das ist der Plan von Daniel Halmer. Verbraucherrechte seien „ein relativ junges Phänomen“, erläutert er. „Das hat so in den 80er-Jahren angefangen“, sei dann immer stärker ausgebaut worden, „von der europäischen Seite, aber auch von der nationalen Gesetzgeberseite her. Warum? Weil in den 80er-Jahren so richtig das sogenannte Direct-to-Consumer-Geschäft angefangen hat. Das heißt, die großen Konzerne haben direkt an den einzelnen Verbraucher Waren und Dienstleistungen vertrieben.“ Früher seien die Waren über diverse Ketten gestaffelt weiterverkauft worden, um schließlich beim Endkunden, im Tante-Emma-Laden gekauft zu werden. Jetzt ist man direkt bei Apple Kunde und bei Amazon und Co. „Das hat zu einem Machtungleichgewicht zwischen Verbraucher auf der einen Seite und Unternehmen, Konzernen auf der anderen Seite geführt. Und dieses Machtungleichgewicht hat die Politik seit den 80er-Jahren versucht aufzufangen und auszugleichen, durch Verbraucherschutz. Das wurde da erfunden.“

Justiz nicht auf kleinteilige Ansprüche ausgerichtet

Mit der Einführung des Verbraucherschutzes änderten sich auch die Verfahren, die vor deutschen Gerichten verhandelt wurden – vor allem in ihrer Menge. Denn jeder Verbraucher schließe täglich möglicherweise Hunderte Verträge, so Halmer. „In diesen Verträgen treten naturgemäß Störungen auf.“ Unser Justizsystem sei aber schlicht nicht ausgerichtet auf kleinteilige Ansprüche von Verbraucherinnen und Verbrauchern. „Das ist ein strukturelles Problem, das dann dazu führt, dass im Grunde im kleinvolumigen Bereich so gut wie keiner rational an sein Recht kommt.“
Halmer nennt ein Beispiel: „Angenommen, ein Fitnessstudio zieht mir zehn Euro zu viel ab für einen Monat, und ich stelle das fest, schreibe an das Fitnessstudio. Das wird nicht beantwortet, ich weiß, ich muss also jetzt rechtliche Schritte einleiten. Dann kann ich zunächst einmal versuchen, einen Anwalt zu finden, der mich mit meinen zehn Euro vertritt. Das wird schon mal sehr, sehr schwierig sein.“
Angenommen, der Betroffene findet einen Anwalt, stellt der jedoch wiederum eine Rechnung nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz. „Das Gesamtkostenrisiko, wenn ich das dann auch per Gericht einreiche, ist für mich 470 Euro, für einen Zehn-Euro-Anspruch. Das heißt, wenn man jetzt die statistische Erfolgswahrscheinlichkeit, die Erfolgswahrscheinlichkeit ausrechnet, die ich mindestens haben müsste, damit sich das lohnt von den Kosten her, dann komme ich auf über 98 Prozent. Das heißt, es ist prohibitiv teuer, in Deutschland und in Europa kleine Ansprüche gerichtlich durchzusetzen. Das heißt, faktisch gibt es eine Bagatellgrenze für Verbraucheransprüche, die nicht im Grundgesetz steht.“
Bringt man das, was hinter diesem Gedanken steht, auf den Punkt, dann lautet die Schlussfolgerung wohl: Das deutsche Rechtssystem muss jedem gerecht werden. Egal, ob es um 100.000 Euro geht – oder um zehn Euro für den Vertrag im Fitnessstudio. „Wer argumentieren möchte, dass Zehn- oder 20-Euro-Ansprüche eigentlich gar nicht vor die deutschen Gerichte gehören, der hat meines Erachtens das Prinzip unseres Rechtsstaates nicht verstanden.“ Es stehe mit Sicherheit im Widerspruch zum Grundgesetz. Denn es gebe keine Bagatellgrenze.
„Wenn der Staat einzelnen Verbraucherinnen und Verbrauchern Ansprüche auslobt, die so gering-volumig sind, dann muss der Staat auch effektive und effiziente Möglichkeiten der Durchsetzung schaffen.“ Und Daniel Halmer geht noch weiter: Beim Mietrecht, dabei sollte es nicht bleiben. Arbeitsrecht, Familienrecht, Finanzrecht – in diesen und mehr Bereichen bieten er und sein Team mittlerweile Hilfe an. Ob ein Anspruch mit Hilfe von Legal Tech durchgesetzt werden könne, sagt er, liege nicht daran, um welches Rechtsfeld es gehe. Sondern darum, wie einfach und gut die Durchsetzung der Ansprüche automatisierbar seien.
Denn die meisten verbrauchertypischen Fälle seien glasklar, die wenigsten Fälle sind rechtlich problematisch. „Vielleicht sind zehn Prozent so komplex, dass sie wirklich von einem Anwalt mit juristischem Sachverstand auf Einzelfallbasis geprüft und begutachtet werden sollten. 90 Prozent der Fälle sind, wie ich immer zitiert werde auch, aber ich sage das bewusst deswegen: Plain Vanilla. Und weil es Plain Vanilla ist, sollte nicht ein hochbezahlter Anwalt, der sechs Jahre studiert hat, sich dieses Falles annehmen, sondern es sollte ein Algorithmus oder ein automatisierter Prozess tun.“
Im Oktober 2021 trat in Deutschland das sogenannte Legal-Tech-Gesetz in Kraft. Es soll unter anderem dazu dienen, faire Wettbewerbsbedingungen zwischen Anwältinnen und Anwälten und Legal-Tech-Inkassos zu schaffen.
Halmer agiert, wie alle anderen Legal-Tech-Unternehmen, in einem aufstrebenden Markt. Der weltweite Gesamtumsatz von Legal-Tech-Unternehmen wurde für das Jahr 2019 auf etwa 17 Milliarden Dollar geschätzt – gleichzeitig sehen viele Unternehmen immer noch großes Wachstumspotenzial.

Es geht nicht um den Robo-Judge

Hunderte Kilometer von Daniel Halmer entfernt, in Köln, sitzt eine Frau, Sina Dörr ist ihr Name, an einem Tisch, vor einem aufgeklappten Notebook, in das sie sich Gedanken zur eigentlichen Aufgabe von Legal Tech notiert hat.
Es sind nicht nur Anwälte oder Staatsanwältinnen, die sich damit befassen müssen, wie sich Legal Tech in Zukunft auf Gerichtsprozesse auswirken wird. Allen voran müssen es auch diejenigen, die letztlich Entscheidungen, also Urteile fällen: Richter und Richterinnen. Sina Dörr ist Expertin zu Digitalisierungsfragen der Justiz und Richterin am Landgericht. Im Interview, das ist ihr wichtig zu betonen, teilt sie aber ausschließlich ihre persönlichen Einschätzungen.
Mit den Entwicklungen rund um Legal Tech und was sie für die Gerichte und die Menschen bedeuten könnten, befasst sie sich seit Jahren. Sie merkt: Es gibt viel zu tun. „Wenn ich mit Richterinnen und Richtern über Legal Tech spreche, dauert es maximal fünf Minuten, bis irgendjemand sagt: Was ist mit dem Robo-Judge?”, erzählt sie. „Es kann aber sein, dass ich eigentlich mit Ihnen darüber sprechen wollte, ob wir ein Tool, ein digitales Werkzeug einsetzen können, um unsere Arbeit zu erleichtern, indem es uns zum Beispiel hilft, die Schriftsätze, die wir lesen müssen, tagtäglich, einfacher zu strukturieren und zu durchdringen.“ Das müsse gar nichts mit künstlicher Intelligenz zu tun haben und erst recht nichts mit dem Robo-Judge.

Gericht als Ort rechtsstaatlicher Dienstleistung

Wenn Sina Dörr über die Zukunft der Justiz spricht, dann peilt sie immer wieder einen Punkt an, der ihr besonders wichtig ist: Legal Tech, das bedeute Bürger und Bürgerinnen in den Mittelpunkt zu stellen. Das Justizsystem müsse dem Menschen gerecht werden. „Was brauchen die Menschen eigentlich wirklich vom Gericht? Ist das Gericht ein Ort oder ist es eine rechtsstaatliche Dienstleistung? Das ist das, was ich denke. Wie müssen Gerichte erreichbar sein? Welche Funktion haben sie schon immer gehabt, und wie kann man diese Funktionen in das digitale Zeitalter transformieren?“
Aus ihrer Sicht die spannendste der vielen Fragen. Denn so, wie Gerichtsbarkeit und Justiz heute seien, seien sie quasi die Funktionserfüllung in der Form des analogen Zeitalters. „Und die Form, wie wir unsere Verfahren führen, was wir für ein Angebot haben, das ist die Art und Weise, wie wir die Antwort gegeben haben auf diese Funktionsfrage in den letzten hundert Jahren. Und jetzt ist die Frage: Wie beantworten wir die Funktionsfrage, also unsere Aufgabe zu erfüllen, gesellschaftlichen Frieden zu ermöglichen, Interessen auszugleichen, den Menschen zu helfen, Konflikte zu lösen. Wie beantworten wir diese Funktion vor dem Hintergrund der Möglichkeiten des digitalen Zeitalters?“
Wenn sie erklären möchte, was sie mit diesem Ansatz meint, der die Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt stellt, dann möchte sie weg vom Strafrecht, hin zum Zivilrecht. Es soll nicht um den Robo-Judge, gehen, also darum, ob und wie eine künstliche Intelligenz in Zukunft den Bankräuber, den Vergewaltiger oder die Mörderin verurteilen könnte. Vielmehr geht es ihr um Hilfestellungen, die alle, die ihr Recht im Zivilverfahren durchsetzen wollen, in Anspruch nehmen können.

Technik leitet durch den Paragrafen-Dschungel

„Wir helfen den Leuten, sich durchzuklicken, ihre Informationen zu finden aus dem Mehr an Informationen, das völlig unüberschaubar ist“, sagt sie. „Dann machen wir auch noch eine weitere Tür auf und sagen: Informiere dich erst einmal, trete zum Beispiel erst einmal mit der Gegenseite in Verbindung. Bei wem kannst du dir noch Beratung holen?“ Zum Beispiel bei Mietervereine, wenn es ums Mietrecht geht, oder bei Anwälten, um Beratungshilfe zu bekommen. Auch über Prozesskostenhilfe könne man Informationen bekommen.
„Versuch aber doch erst mal, dich mit der Gegenseite zu einigen. Hast du schon die Gegenseite kontaktiert? Wir helfen dir, ein Schreiben zu erstellen für die Gegenseite. Hier haben wir ein Musterschreiben. Das hast du schon gemacht? Die Gegenseite hat nicht reagiert? Ist jetzt Ultima Ratio, also ist jetzt für dich der letzte Schritt, die letzte Konsequenz: Willst du zu Gericht gehen? Was bedeutet das für dich, wenn du zu Gericht gehst? Welche Kosten kommen auf dich zu? Welche Risiken sind damit verbunden? Du hast das alles durchgelesen? Du willst es trotzdem machen? Alles klar. Hier ist ein Klageformular, das kannst du ausfüllen. Wir fragen dich die richtigen Fragen, und dann drückst du auf Absenden.“ Es werde außerdem gezeigt, wie der Betroffene das Gericht online erreichen könne oder einen Video-Call mit der Gegenseite vereinbaren. So die Vision von Sina Dörr.
Dystopien begegnet ihr allerdings immer wieder. Der richtende Roboter, der Urteile emotionslos, ausschließlich dem Algorithmus folgend fällt. Das sind die Bilder, die sich festgesetzt haben. Und doch sind es nicht die Bilder, mit denen sie arbeiten möchte.
Porträt der Richterin Sina Dörr
Mehr Zeit für Menschen: Das erhofft sich die Richterin Sina Dörr von Legal Tech.© privat
Ihr ist es wichtig, die Vorteile von Legal Tech zu suchen und abzubilden. Und sollte es doch jemals so weit kommen, dass Entscheidungen der Technik überlassen würden, dann ginge es vor allem darum, die Systeme so zu gestalten, dass sie eben nicht diskriminieren, dass sie nicht voreingenommen sind, dass diejenigen, die für die Programmierung zuständig sind, sich mit ihren eigenen Vorurteilen und Weltbildern auseinandersetzen.
Schließlich seien wir „immer menschliche Wesen“ und keine Computer. „Und das ist eben auch das Interessante, wenn wir Algorithmen haben, die entscheiden, die jetzt mal vorausgesetzt gut programmiert wurden, dass sie nicht mit Bias schon programmiert wurden, dass sie dann auch diskriminierend sind, die haben natürlich im Einzelfall nicht die Vorurteile, die wir haben.“ Im Einzelfall seien sie also erst einmal „neutralere Instanzen“, auch wenn sie nicht empathisch seien und über unsere kognitiven Fähigkeiten verfügten.
„Aber es ist eben eine ambivalente Situation. Algorithmen oder Software bringen eine Qualität mit in bestimmten Bereichen, wo wir als Menschen fehleranfällig sind. Und deswegen, finde ich, wäre die spannende Diskussion auch: Wie können wir das Beste aus diesen beiden Welten, also aus der künstlichen Intelligenz, die an bestimmten Stellen schneller und weniger fehleranfällig ist, mit den großen Ressourcen menschlicher Intelligenz, die Empathie hat, die komplexe Sachverhalte besser erfassen kann und mit allem, was wir eben als Menschen mit in die Waagschale werfen, wie können wir das kombinieren?“

Legal Tech wächst international

Egal ob in Deutschland oder in anderen Ländern wie Estland, wo intensiv daran geforscht wird, ob man kleinere Gerichtsentscheidungen durch Legal-Tech-Systeme treffen lassen könnte oder auch den Vereinigten Staaten, dem weltweit größten Rechtsmarkt: Fragen nach der Gerechtigkeit, der Unvoreingenommenheit von Menschen und Algorithmen tauchen immer wieder auf.
Kritiker und Kritikerinnen schlagen an dieser Stelle häufig den Bogen zum so genannten Predictive Policing. Hierbei geht es darum, Polizeiarbeit zu vereinfachen und hierdurch Verbrechen möglicherweise zu verhindern, indem man Technologien gezielt einsetzt. So wurde für die Polizei in Chicago beispielsweise 2013 eine sogenannte „Heatlist“ erstellt, auf der Menschen landeten, bei denen man aufgrund unterschiedlicher Daten, wie Wohnort, Vorstrafen und anderer Faktoren errechnete, wie wahrscheinlich sie in Zukunft Straftaten begehen oder selbst zum Opfer werden würden.
Solche Systeme finden mittlerweile in unterschiedlichen Formen in vielen Ländern Anwendung. Und auch, wenn es sich hierbei nicht speziell um Legal-Tech handelt – die Schlussfolgerung bleibt die gleiche: Es geht immer auch darum, über ethische Leitlinien und Grenzen zu sprechen.
Jeff Brantingham, ein Professor der University of California Los Angeles, zeigt "predictive policing" Zonen im Los Angeles Police Department.
Umstrittenes Predictive Policing in Los Angeles: Algorithmen sollen die Wahrscheinlichkeit von Straftaten berechnen und so Vorhersagen machen.© picture alliance / AP Photo / Damian Dovarganes
Wer programmiert die Programme, die später Entscheidungen treffen sollen? Besteht die Gefahr, dass rassistische Ressentiments, Vorurteile und eigene Präferenzen auf das System übertragen werden? Solche Fragen muss man sich stellen, damit am Ende wirklich alle Vorteile von Mensch und künstlicher Intelligenz in „eine Waagschale“ geworfen und kombiniert werden können, wie Sina Dörr es formuliert.
Wenn das klappt, dann könnte sich das Justizsystem mit dem Schritt in die Zukunft auch zum Besseren entwickeln. Als Richterin erlebt Sina Dörr es häufig selbst: Wenn sie verhandelt, braucht sie Zeit für die Menschen. Wenn Nebensächlichkeiten und Streitigkeiten, die sich automatisiert klären lassen, wegfallen, dann, so glaubt sie, könnte genau das passieren: Dass sie und andere Richter und Richterinnen mehr Zeit haben für das Wesentliche: fürs Zuhören, Verhandeln, Abwägen, dem Menschen, der Gerechtigkeit erfahren möchte, auch wirklich gerecht werden.
„Ich weiß, dass ich in nachbarrechtlichen Streitigkeiten oft anderthalb oder zwei Stunden mit den Parteien verhandeln musste, was sehr, sehr viel ist in einem Zivilverfahren, wenn es um keine hohen Streitwerte geht, einfach, weil wir Vergleichsverhandlungen geführt haben“, erzählt sie. „Und dann musste man immer nachjustieren und immer noch mal auf die Leute einreden, ihnen gut zuhören.“ Dafür brauche man Legal Tech bei den Gerichten. „Es geht nicht darum, dass wir anonyme, vollautomatisierte Entitäten werden wollen. Es geht darum, Zeit zu haben für menschlichen Kontakt. Vielleicht ist das der Twist in dem Ganzen, der so spannend ist. Eigentlich geht es darum, mehr Zeit für menschlichen Kontakt zu haben, wenn wir digitale Technologien nutzen, zumindest aus meiner Sicht.“

Die Möglichkeiten scheinen unendlich

Auf dem Gelände der Universität Köln stehen Muskaan Multani, Felipe Molina und andere Mitglieder des „Legal Tech Lab Cologne“ vor einer Hauswand und schießen Fotos von sich. Sie sollen später auf der Internetseite des Vereins landen. Es regnet. Doch für das Foto haben alle ihre Jacken kurz abgelegt.
Sie alle hier stehen am Anfang ihrer beruflichen Karriere. Einige von ihnen werden die Zukunft des Rechtssystems mitprägen, durch Ideen, Pläne und Ziele. Doch müssen auch sie erst einmal herausfinden, wo die Chancen und Grenzen liegen. „Oft wird gesagt: Guckt ruhig mal während des Jurastudiums über den Tellerrand, und niemand sagt, wer dieser Tellerrand ist, wo sich der befindet.“
Der Tellerrand: Momentan scheint er unendlich. Am „Legal Tech Lab Cologne“ arbeiten sie nicht nur am Smart-Sentencing-Tool. Auch ein Programm, das dabei helfen soll, einen Wohngeldantrag zu stellen, entwickeln sie. All die Möglichkeiten, die sich ihnen nun bieten, gilt es zu nutzen, so sieht es Felipe Molina. Für ihn ist klar: Dazu gehört es auch, Menschen zu überzeugen, die noch skeptisch sind und Generationenfragen zu überwinden.
Auch er bemerkt, dass es noch viel Widerstand, viel Misstrauen gegenüber dem Fortschritt gibt. Wenn man Innovationsideen, sei es im Gericht oder in der Kanzlei, etablieren möchte, müsse man oft erst einmal „Kulturkämpfe“ führen. „Dementsprechend geht es schon eher darum, den Leuten die Dinge schmackhaft zu machen. Manche Leute haben auch einfach nicht die Zeit dafür, sich damit zu beschäftigen und sagen: Komm, geh mir ruhig weg mit dem Wandel, bis das überhaupt eintritt, bin ich hier eh weg. Oder irgendwelche Großkanzleien sagen: Uns geht es gut genug. Warum sollen wir uns damit beschäftigen?“ Dementsprechend kann man das nicht pauschalisieren in dem Kontext.“
Die Zukunft wird zeigen, wie man Utopie und Dystopie trennen kann, wo Chancen liegen und was überbewertet wird. Wer sich mit Legal Tech befasst, der befindet sich momentan in einem Aushandlungsprozess: Wie definieren wir den Begriff? Wie sieht ein gerechtes Justizsystem aus, das sich Digitalisierung nicht nur auf die Fahne schreibt, sondern auch lebt? Sie alle stehen am Anfang, sie alle haben in den vergangenen Jahren zu viel Zeit verloren: Gerichte, Staatsanwälte, Anwältinnen, Forscher und Forscherinnen.
Das deutsche Justizsystem, da sind sich viele hier sicher, ist in seiner derzeitigen Form nicht zukunftsfest. Es braucht mehr Initiativen, noch mehr Ideen, mehr Menschen, die die Modernisierung aktiv und nicht nur nebenbei vorantreiben. „Weil es eben nicht darum geht: Digitalisierung oder Technologie der Technologie wegen, Innovation der Innovation wegen, sondern zur Verbesserung einer Rechtsdienstleistung. Darum geht es am Ende.“
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