Lee Gamble: "Mnestic Pressure"

Klangskulpturen über die Erinnerung

Menschliches Gehirn wird in Schraubzwinge gequetscht
Erinnerung unter Druck: Lee Gambles Leitmotiv auf seinem neuen Album © imago/Ikon Images
Von Paul Paulun  · 24.10.2017
Nach drei Jahren Pause: Mit "Mnestic Pressure" lässt der englische DJ und Produzent Lee Gamble endlich wieder von sich hören. Auf dem Album thematisiert er, wie Gedächtnis und Erinnerung unter Druck geraten sind.
Nach drei Jahren Pause ist ein neues Album des englischen DJs und Produzenten Lee Gamble erschienen. Es heißt "Mnestic Pressure". "Mnestic" heißt so viel wie Erinnerung oder Gedächtnis, "Pressure" Druck, dem man ausgesetzt ist. Gamble thematisiert auf seinem Album, dass Gedächtnis und Erinnerung unter Druck geraten sind und manipuliert werden - die Folgen sind ganz ähnlich wie bei Fake News.
"Ich möchte nicht in 20 Jahren auf mein künstlerisches Schaffen zurückblicken und denken: Warum habe ich 2017 ein verdammtes Ambient-Album gemacht? Und nichts, was sich anfühlt wie die Zeit, in der es entstanden ist?"
Bereits auf früheren Veröffentlichungen hat sich Lee Gamble künstlerisch mit dem Thema "Erinnerung" beschäftigt. Oft mit musikalischen Stimmungen, die in einem entspannten Nichts verharrten.

Eine Zeit, die immer stressiger wird

Solche Rückzugsorte zum Dahindriften passen für ihn nicht mehr in die heutige Zeit, die für immer mehr Menschen stressig und voller Unsicherheit ist.
"Ich hatte das Gefühl, ich müsste diese Klangräume hinter mir lassen, und hin zu etwas Realistischerem. Weg von dem Sphärischen, von Unterwasserwelten und Träumereien."
Gambles Wahrnehmung der Welt hat sich in den vergangenen drei Jahren stark verändert. Sie ist ihm fremd geworden oder hat sich zu einer Parodie ihrer selbst entwickelt.
"Einige britische Medien haben die Öffentlichkeit manipuliert, für den Brexit zu stimmen, indem sie ihnen sagten: Sobald wir aus dieser diktatorischen Beziehung mit der EU raus sind, werden wir wieder unsere schönen grünen Weideflächen zurückhaben. Man wird wieder sorglos auf den Straßen herumlaufen können und auch die Hintertür zum Garten kann einfach offen bleiben. Das ist natürlich totaler Unsinn! Es war, als würde den Leuten so eine Art Fake-Erinnerung implantiert."
Druck kommt aber nicht nur von dieser Seite:
"Ich bin alt genug, um mich an das Internet als einen Ort zu erinnern, wo man hingegangen ist, um etwas hinter sich zu lassen oder um Sachen zu finden. Jetzt ist es zum Leben selber geworden, zu 50 Prozent deines Daseins. Alle gucken die ganze Zeit auf ihre hell erleuchteten Displays."
Mnestic Pressure ist eine 45-minütige Komposition mit unterschiedlichen Stationen. Ein bisschen wie die Fahrt durch eine akustische Geisterbahn, die einen ständig überrascht. Mal werden Erinnerungen über Samples aktiviert, dann kann man in einen Breakbeat hineinhören, und schon rückt wieder etwas anderes in den Fokus.

Künstler sollten ihr Ungehagen thematisieren

"Ich habe eine zeitlang Musique Concrète studiert - dabei geht es um das Erkunden von Klängen in musikalischen Objekten. Ich bearbeite Sounds oder erzeuge sie - und ich benutze auch Samples. Einige Passagen überarbeite ich immer wieder, manchmal geht das mehrere Jahre. Dadurch entstehen so etwas wie skulpturale Klänge - und ab und an können die auch zum Teil eines Stücks werden."
Gambles Verständnis von elektroakustischer Musik und sein Hintergrund in Jungle und Techno treffen bei Mnestic Pressure aufeinander. Natürlich weiß er, dass sich mit einem Album nicht die Welt verändern lässt. Gamble sieht es aber als Aufgabe von Künstlern, ihr Unbehagen über die gegenwärtige Situation zu thematisieren. Und das ist in der elektronischen Musik viel zu lange nicht passiert.
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