Leben jenseits der Erwerbsarbeit

Rente mit 40?

29:41 Minuten
Ein Mann sitzt im Büro, hat die Augen geschlossen und träumt vor sich hin.
Lebst du dein Leben oder überlebst du nur? – Auch diese Fragen stellen sich viele, die nicht bis 65 Jahre in einem regulären Job arbeiten wollen. © imago/PhotoAlto/Sigrid Olsson
Von Kai Adler |
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Mit 40 in Rente gehen? Diese Möglichkeit verspricht die so genannte FIRE-Bewegung aus den USA. In jungen Jahren nicht mehr auf eine Erwerbstätigkeit angewiesen zu sein, ist ihr Ideal. Ein besonderer Finanzplan und Lebensstil sollen das ermöglichen.
"Als das Studium zu Ende ging, dachte ich: ´Scheiße, jetzt ist alles vorbei. Du kannst nicht einfach skaten gehen, wenn die Sonne scheint, sondern du musst jeden Morgen ins gleiche Büro fahren, arbeiten gehen und das, bis du 67 bist und in Rente gehen kannst.` Ich dachte: ´Okay, so ist das Erwachsenenleben, es geht ja nicht anders. Man muss Miete bezahlen und Ausgaben, das machen alle so.` Da war mir noch nicht klar, dass man das anders machen kann. Wenn man bereit ist."

Oliver Noelting stellt sich vor fünf Jahren, an der Schwelle zwischen Studenten- und Berufsleben, die Frage nach Alternativen zum schnöden Nine-to-five-Job. Wie lässt sich trotz oder mit Arbeit ein gutes Leben herstellen?

Es geht anders! Die Idee vom frühen Feierabend

Als Oliver Noelting an Alternativen zum regulären Jobleben nachdenkt, ist er Mitte 20, ein studierter IT-Fachmann mit guten Berufsaussichten. Im Netz stößt er auf andere Antworten und Lebensmodelle - auf Menschen, die es geschafft haben, bereits in frühen Jahren finanziell unabhängig zu sein.
"Im Internet ist mein Name Mister Money Mustache. Im Netz bin ich der Guru eines ironischen Kultes, einer Bewegung, denn vor 15 Jahren hatte ich einen Traum, zusammen mit meiner Freundin: Wir wollten eine Familie gründen, aber wir wollten auch Zeit für unsere Familie haben. Deshalb wollten wir nicht mehr von unserer Arbeit abhängig sein, über unsere Zeit frei verfügen können und finanziell frei sein. Also haben wir uns einen Zehnjahresplan erstellt, um uns diesen Traum zu erfüllen. Und kurz vor meinem 31. Geburtstag, kurz vor der Geburt unseres Sohnes, konnten wir tatsächlich in Rente gehen."
Der unter dem Pseudonym Mister Money Mustache bloggende Kanadier Peter Adeney ist der bekannteste Vertreter der aus den USA kommenden FIRE-Bewegung, kurz für Financial Indepence Retire Early. Adeney inzwischen 45 ist für viele seiner Leser eine Art Guru. Er schreibt über sein Leben als Frührentner, es geht um gesundes, preiswertes Essen und kostenlosen Sport draußen vor der Haustür.
Er gibt Anlagetipps und Ratschläge, wie man sein Haus eigenständig, ohne Handwerkerkosten repariert – und Mister Money Mustache philosophiert über Geld, hedonistische Gewohnheiten und das wahre Glück, das er nicht dort, wo die meisten es suchen, gefunden hat. Ein Leben jenseits gängigen Konsumverhaltens, das er dank mehrerer Jahre in einem guten Job und entsprechender Geldanlagen in nur zehn Jahren erreicht hat.
Noelting: "Von einer Sekunde auf die andere war mir klar, so wie ich früher gedacht habe, das war ein Holzweg. Ich hatte das Gefühl damals, dass man ein gutes Leben führt, wenn man die richtigen Produkte und Dienstleistungen kauft, wenn ich Klamotten anziehe, in denen ich gut aussehe. Wenn ich ne Wohnung habe mit schöner Dekoration, wenn ich ein Auto fahre, das zu mir passt. Ich war schon so gepolt, dass ich konsumieren wollte und das Gefühl hatte, ich muss die richtigen Produkte kaufen, um wertvoll zu sein, um was aus meinem Leben zu machen."

Am Anfang stand ein Bewusstseinswandel

Dass man, um frühe finanzielle Unabhängigkeit zu erlangen, mit seinem Geld anders haushalten muss, dass man die Einkünfte in jungen Jahren sparen und klug anlegen und den gesamten Lebensstil ändern muss, liegt auf der Hand. Am Anfang seines Weges aber habe vor allem ein Bewusstseinswandel gestanden, sagt Oliver Noelting.
Welchen Zweck haben die Ausgaben, was will man damit erreichen? Und was zahlt man für seinen konsumorientierten Lebensstil wirklich – also wie viel Lebenszeit investiert man in bezahlte Arbeit, um sich dieses Leben leisten zu können?
"Ich kenne Leute, die kommen mit 1200, 1300 Euro im Monat über die Runden. Und es gibt andere, auch Singles, die brauchen 5000 Euro im Monat."
Lars Hattwig. Der Berliner ist seit acht Jahren finanziell unabhängig.
"Also, die Spanne ist schon sehr groß. Das hängt schon von den eigenen Bedürfnissen, den eigenen Erwartungen, die man hat, ab. Also ich würde sagen, normalerweise kommt man schon mit 2000, 2500 Euro als jemand, der keine Familie hat, erstmal hin."
Das ist eine Menge – in einem Pflegeberuf, als Erzieher oder beispielsweise als Beamter im Polizeidienst verdient man, Vollzeit arbeitend, häufig weniger. Der Hartz IV Satz für Alleinstehende liegt bei 424 Euro monatlich, zuzüglich Mietkosten.
Doch Geldsorgen kennt auch Lars Hattwig. Den 48-Jährigen ehemaligen Meteorologen führt ausgerechnet die finanzielle Pleite auf den Weg in die Unabhängigkeit. Damals ist er noch voll erwerbstätig und arbeitet in einer Führungsposition.
"Bei mir war es so, ich bin einfach schlecht mit dem Geld umgegangen. Ich hab nicht darauf geachtet, wohin das Geld fließt. Ich hab kein Haushaltsbuch geführt und dann war Geld da und dann hab ich es genutzt, für was ich jetzt meinte, dass ich es mir leisten könnte, müsste. Und weil ich nicht darauf geachtet habe, war es so, dass mein Kontostand sehr stark ins Minus geraten ist. Irgendwann war der Punkt, da bekam ich kein Geld mehr. Da hatte ich mein Konto überzogen, ich hatte mich auch noch verschuldet und dann hat mir der Geldautomat die rote Karte gezeigt."

Der Weg zur finanziellen Freiheit

Das Buch "Your money or your life" der beiden amerikanischen Investmentexperten Vicki Robin und Joseph Dominguez erscheint erstmalig 1992. Es verspricht: "Neun Schritte, wie Sie ihr Verhältnis zu Geld verändern und finanzielle Unabhängigkeit schaffen".
Es ist die Bibel der FIRE-Anhänger und ein Bestseller. Schritt für Schritt wird darin erklärt, wie viel Geld ich wie zurücklegen und wo ich es anlegen muss, um nicht mehr von einem Arbeitgeber abhängig zu sein. Vereinfacht lautet die Formel: Vier Prozent meines Vermögens muss ich jährlich ausgeben können, um mit meinem Geld circa 25 Jahre über die Runden zu kommen. Gebe ich also 20.000 Euro im Jahr aus, brauche ich 500.000 Euro Vermögen, um davon 25 Jahre leben zu können.


Weniger ausgeben, als man einnimmt, lautet die lapidare Empfehlung des Frugalisten-Guru Mister Money Mustache. Klingt einfach und ist doch schwer. Seit nunmehr 14 Jahren ist der 45-Jährige finanziell unabhängig. Idealerweise so heißt es bei FIRE-Ratgebern, solle man während seiner Berufstätigkeit 40 Prozent seines Einkommens sparen und es gut anlegen, damit sich das Vermögen auch vermehrt – mittels Aktienfonds, so empfiehlt es Lars Hattwig.
Bereits mit kleinen Anlagen erziele man in 15, 20 Jahren enormen Gewinn.
"Im Grunde gibt es zwei Stellschrauben: Einnahmen und Ausgaben. Es können viele wahrscheinlich relativ schnell unabhängig werden, wenn sie ihre Ausgaben senken. Dann reden wir schon über Minimalismus. Nicht jeder möchte minimalistisch leben, Minimalismus ist, dass man nur noch das Lebensnotwendige sich leistet, da bleibt viel Lebensqualität auf der Strecke."
Unzählige Werke im Stile des Buches "Your money or your life" sind inzwischen erschienen. "Minimalismus: Sachen machen, anstelle Sachen kaufen" - "Wie du dein Leben aufräumst und glücklicher wirst" - "Lebst du dein Leben oder überlebst du nur?" - "Mehr durch weniger: wieder Freiheit, Glück und Zufriedenheit in dein Leben bringen".
Die Ratgeber sind eine Mischung aus knallharter Finanzlektüre und Hippieliteratur. Ist die Suche nach dem einfachen, guten Leben nur eine Emanzipationsbewegung für die Satten, Überdrüssigen, für die, die es sich leisten können? Dafür spricht, dass zur wachsenden Zahl von Followern der FIRE-Bewegung viele gut ausgebildete IT-Fachleute, also Menschen mit gutem Verdienst gehören, die Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben und gut verdienen.
Eine Frau steht in einem Büro und hält einen Stift in der Hand, um etwas zu schreiben.
Ist die Suche nach dem einfachen, guten Leben nur eine Emanzipationsbewegung für die, die es sich leisten können?© imago/PhotoAlto/Frédéric Cirou

Frugalismus: Hipster-Lifestyle oder politische Bewegung?

Noelting: "Ich habe mich vorher nie so wirklich damit beschäftigt, was unsere Konsumgesellschaft eigentlich für ökologische Folgen hat. Also sich einfach vor Augen führen, wenn jetzt alle so leben wie ich? Man hat ja selbst nie den Eindruck, dass man so ausschweifend oder so exorbitant lebt. Man denkt: ´Ich bin relativ normal.` Wenn man sich mit dem ökologischen Fußabdruck oder dem ökologischen Rucksack beschäftigt und schaut, wie viele Ressourcen sind eigentlich nötig, wie viel Fläche es auf der Erde benötigt und was hat es für Auswirkungen, wenn ich so konsumiere? Dann stellt man fest, das ist ganz schön heftig, was ein normaler westlicher Lebensstil für einen Fußabdruck, für Folgen für die Umwelt, hat."
Oliver Noelting ist keiner, der für seinen Lebensentwurf auf der Straße demonstrieren geht, zugleich aber handelt er ganz konkret politisch, im Alltag.
Für den Soziologen Harald Welzer ist, wie er in seinem Buch "Selbst denken" schreibt, genau diese drastische Veränderung unseres Konsumverhaltens die einzige Möglichkeit, den drohenden Umweltkollaps abzuwenden. Nicht einfach grüner, sondern tatsächlich weniger müssten wir konsumieren, um als Spezies noch eine Zukunft zu haben. Doch dafür brauche es einen radikalen Bewusstseinswandel, so Oliver Noelting.
Noelting: "Ein Bewusstsein für so kognitive Verzerrungen zu schaffen oder kognitive Effekte. Genau zu wissen und sich bewusst zu sein: Das Gefühl, sich etwas Neues zu kaufen, das ist nur von kurzer Dauer. Eigentlich bin ich viel besser dran, wenn ich in Sachen investiere, die mir langfristig Zufriedenheit geben."
Die Ratgeber-Literatur ist voll von der Sehnsucht nach Einfachheit und nach einem Verzicht, der Fülle statt Leere verspricht. Und das nicht erst seit heute. "Simplify your Life" ist seit Jahrzehnten ein Bestseller und die japanische Aufräumexpertin Marie Kondo erklärt in 27 Sprachen Interessierten, wie sie materiellen – und damit auch ideellen – Ballast aus ihrem Leben räumen. Der Grundgedanke: Alles, was nicht Freude schenkt, ist überflüssig.

Schenkt mir meine Tätigkeit Freude?

Für Frugalisten stellt sich diese Frage auch in Bezug auf den eigenen Job. Der frugale Lebensstil macht es möglich, dass die Lohnarbeit eine weniger wichtige – vielleicht auch irgendwann gar keine – Rolle mehr spielt. Die zentrale Frage ist auch hier: Schenkt mir meine Tätigkeit Freude?
"Wenn wir über Arbeit und Geld sprechen, so reden wir eigentlich über zwei verschiedene Dinge. Der Sinn der Arbeit ist es, etwas zu schaffen. Die Seele zu nähren. Wohingegen der Sinn des Geldverdienens der ist, genügend Geld zu haben. Doch wie viel Geld ist genug? Nun, genug eben, um dein Glück zu maximieren. Darüber hinaus Geld zu haben, ist sinnlos, denn es wird dich nicht glücklicher machen. Das bedeutet nicht, dass die Totenglocke für Deine Berufslaufbahn geklingelt hat. im Gegenteil, es ist eher die Geburtsstunde: Wenn du arbeitest, ohne das Geld zu brauchen, kannst du deine Arbeit voller Hingabe ausüben. "
So der kanadische FIRE-Guru Mister Money Mustache.
Der Hannoveraner Oliver Noelting will da erst noch hin. Noch arbeitet er freiberuflich als IT-Fachmann . Wenn er dann , wie geplant, in einigen Jahren finanziell unabhängig ist, soll sein Leben mehr von dem enthalten, was Noelting als Ikigai bezeichnet: Das Wort kommt aus dem Japanischen und bedeutet, frei übersetzt, "das, wofür es sich zu leben lohnt".
Noelting: "Relativ bekannt ist das Schaubild: Da sind vier Kreise, die sich teilweise überlappen. In der Mitte gibt es einen Bereich, wo sich alle vier Kreise überschneiden. Diese vier Kreise sind Tätigkeiten, denen ich nachgehe. Der erste Kreis sind Dinge, die mir Spaß machen. Der zweite Kreis sind Dinge, die ich gut kann. Der dritte Kreis sind Dinge, die die Welt verbessern. Der vierte Kreis sind Dinge, für die ich bezahlt werde. Ich glaube, man kann Tätigkeiten, denen man so nachgeht in diese vier Kreise packen, manche Tätigkeiten befinden sich auch in mehreren Kreisen. Ikigai ist der kleine Bereich in der Mitte, wo wirklich alle vier Tätigkeiten stattfinden. Also wenn ich einer Tätigkeit nachgehe, an der ich Spaß habe, in der ich gut bin, die die Welt braucht und für die ich bezahlt werde, dann ist diese Tätigkeit Ikigai."

Die Versöhnung von Arbeit und Vergnügen

Berlin-Mitte. Im Gebäude einer ehemaligen Backfabrik ist heute die Firma Wooga untergebracht. Ein hippes, zehn Jahre junges Unternehmen, das erfolgreich Onlinespiele für Computer und Smartphones herstellt.
Jensen: "Wir sind ja auf drei Ebenen, knapp 3000 Quadratmeter."
Tomas Jensen ist zuständig für die Unternehmenskommunikation bei Wooga. Wir stehen inmitten der riesigen Küche, die quietschend gelb und so überdimensioniert ist, dass man sich in Kindheitstage zurück versetzt fühlt. An der Wand: Bilder der Mitarbeiter – junge, kreativ aussehende Menschen aus allen Teilen der Welt.
Jensen: "Es gibt nur eine Küche, weil wir entschieden haben, es ist am schönsten, wenn die Leute alle am selben Ort sich treffen. Tagsüber ist hier eigentlich immer so ne Stimmung wie im Taubenschlag, weil wir auch Frühstück anbieten in Form von Cerealien, es ne Kaffeemaschine gibt, man sich an den Getränken bedienen kann. Es kommt auch immer wieder vor, dass auch nach Feierabend, 18,19 Uhr sich Kollegen hier treffen, zusammen stehen und quatschen."


Alles wirkt bunt, verspielt, offen und modern. Eine Welt wie in den Spielen, die sie hier entwerfen. In den Gängen sind kleine Kojen eingelassen – zum Schlafen und Entspannen. Es gibt Ruheräume und große Hängesessel – man fühlt sich ein wenig wie beim Ikea-Besuch, nur das Bällebad fehlt. Keine Frage: Hier haben sich Architekten Gedanken darüber gemacht, wie man möglichst viel Ikigai-Feeling in die Räume holen kann.
Und doch stellt sich die Frage: Ist das, was hier stattfindet, Freizeit, Arbeit oder eine gelungene Kombination aus beidem? Wie schaut es mit der Trennung von Privatem, Beruflichen, Freizeit, Familie, Arbeit bei Wooga aus?
"Natürlich kann es passieren, dass es Mitarbeitern schwer fällt, die Grenze zu ziehen – wie viel Zeit will ich wo investieren? Wie geh ich in der Partnerschaft damit um? Bei Wooga haben wir zum Glück ein Angebot, wo ein Unternehmen mit einem Kita-Service in Berlin zusammenarbeitet, wo Mitarbeiter sich deutlich mehr Zeit nehmen können, wenn das Kind krank ist."
Die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie, eine ausgewogene Kinderbetreuungs-Partnerschafts-, Jobleben- und Freizeitbilanz herzustellen, eben die berühmte Work-Life-Balance, ist ein modernes Dilemma, die Trennung zwischen Arbeit und Leben eine recht junge Erfindung.
Zwei Angestellte sitzen auf einem gelben Sofa in der Computerspiele-Firma Wooga in Berlin und spielen im Spieleraum mit einer Playstation.
Fast wie bei vielen Zuhause: Spieleraum mit einer Playstation in der Berliner Computerspiele-Firma "Wooga".© picture alliance/dpa/Foto: Oliver Mehlis

"Trennung zwischen Arbeit und Leben ist Bullshit"

Doch bereits 1929 stellte der Soziologe Siegfried Kracauer in seiner Studie "Die Angestellten" fest, dass das Dasein des modernen Angestellten von der Trennung in Arbeits- und Freizeitwelt bestimmt sei: Auf der einen Seite bewege er sich in einer hierarchisch organisierten, rationalen Arbeitssphäre, auf der anderen Seite in der Welt der Freizeit, die Vergnügen und private Erfüllung verspricht. Zwei Bereiche, die konträr und zugleich komplementär miteinander sind.
Was Krakauer Ende der 20er-Jahre beschreibt, klingt fast schon ein wenig nach jener berühmten Work-Life-Balance, um die wir uns heute bemühen. Doch Tomas Vasek, Redakteur einer Philosophiezeitschrift und Autor des Buches "Der Work-Life-Bullshit", hält dagegen:
"Dahinter steckt die Vorstellung, dass Arbeit und Leben zwei grundsätzlich verschiedene Bereiche sind, zwischen denen wir trennen können: Die Arbeit als die lästige Notwendigkeit und dann diese andere Welt, das Leben, der Bereich, in dem wir wirklich frei sind und uns selbst verwirklichen können. Ich glaube, dass die Trennung zwischen Arbeit und Leben so nicht existiert. Arbeit ist ein wichtiger, sinnstiftender Teil von Leben. Insofern ist diese Trennung zwischen Arbeit und Leben tatsächlich Bullshit in meinen Augen."
Vielleicht ist die Unterteilung in Work- und Life-Bereiche inzwischen ja auch ein alter Hut, haben sich doch im Zuge der digitalisierten Arbeitswelten die Grenzen verschoben und wir stehen immer häufiger vor dem Dilemma, dass es kaum mehr eine klare Trennung gibt: Ständig sind wir erreichbar, sind permanent online und obwohl immer mehr Menschen – scheinbar relaxed und flexibel – immer öfter auch von zuhause, aus ihren Homeoffices heraus, arbeiten, so hat die Arbeitslast für viele doch eher zu- als abgenommen.

Arbeitende werden von smarten Computern ersetzt

Vielleicht lassen sich diese beiden Bereiche am ehesten in einer kreativen Tätigkeit versöhnen, dort, wo Menschen einer Arbeit nachgehen können, die sie als persönlich erfüllend betrachten können und sich nicht entfremdet erleben. Tomas Vasek.
"Solche Jobs, und ich weiß das aus eigener Erfahrung, sie können nicht nur unterbezahlt sein, sie können auch unsicher sein, sie können sogar mit Formen der Entfremdung verbunden sein oder mit Formen der Vereinsamung, wenn ich da auf die vielen Freien denke, die zuhause sitzen, die vielleicht auf nen Auftrag warten. Also ne kreative Tätigkeit ist nicht per se gute Arbeit."
Doch was ist mit den Tätigkeiten, die weniger kreativ, eher mechanisch ablaufen?
"Die Vorstellung, dass es bestimmte Formen von per se entfremdeter Arbeit gibt, denen das jeweilige Subjekt so rein gar nichts abgewinnen kann, das ist mir zu einfach."
Sehr wahrscheinlich wird es im Zuge der digitalisierten Arbeitswelten Berufe, die eine geringe persönliche Beteiligung brauchen, eh nicht mehr lange geben – Arbeitende werden von smarten Computern ersetzt.
Die verbleibende Arbeit, die "gute kreative Arbeit", soll längst nicht mehr nur attraktiver gemacht werden. Sie soll komplett anders gedacht und organisiert werden: Die alte Arbeitswelt soll zu "New Work" werden, damit sich der Arbeitende nicht entfremdet fühlt, sondern entfalten und sich nicht nur in seiner Tätigkeit, sondern in seinem Arbeitsumfeld wiederfinden kann.

Wunschvorstellung und Realität der Arbeitswelt

Der Begriff New Work wurde von dem Sozialphilosophen Frithjof Bergmann geprägt und meint weit mehr als die Digitalisierung altbekannter Jobs – eine Reformation der Arbeitswelt, in der sich der Arbeitende wiederfinden, verwirklichen, frei sein kann. Dafür werden andere Strukturen, etwa flache Hierarchien oder mitunter auch vollkommen hierarchiefreie Organisationsformen geschaffen. Der Einzelne soll möglichst selbst bestimmt arbeiten und mitunter auch direkt am Gewinn des Unternehmens beteiligt werden.
Die Realität sieht für die meisten Arbeitnehmer jedoch anders aus: Laut einer im vergangenen Jahr veröffentlichten Gallup-Studie sind nur die wenigsten Deutschen mit ihrer Arbeit zufrieden: 71 Prozent der Befragten gaben an, nur noch Dienst nach Vorschrift zu machen, 14 Prozent – das sind fünf Millionen Deutsche – haben innerlich gekündigt.
Identifikation mit der eigenen Tätigkeit, Selbstbestätigung, Erfüllung, gar Ikigai? Fehlanzeige.

Utopien – Neue Aussichten für alle

"Man muss sich dann genau anschauen, woher kommt diese innere Kündigung? Hat das mit der Tätigkeit selbst zu tun, also passt diese Person gar nicht in diesen Beruf? Sind es vielleicht nur nicht die richtigen Arbeitsbedingungen? Oder traut man sich noch nicht, herauszutreten? Vielleicht würde heute jemand, der innerlich gekündigt hat, viel lieber etwas machen, was dann als Ehrenamt bezeichnet wird, also gar nicht erwerbsförmig tun. Das geht ja gar nicht, das müssen Sie sich leisten können."
Der Soziologe Sascha Liebermann ist einer der ersten, die die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens propagiert haben. Wie dieses umgesetzt werden und ob es mit zusätzlichen Sozialleistungen ergänzt werden könnte oder sollte – dazu gibt es unterschiedliche Überlegungen. Doch Sascha Liebermann ist überzeugt: Nicht nur auf die Digitalisierung der Arbeitswelten und die damit wegfallenden Arbeitsstellen wäre dies eine probate Antwort, es würde zudem völlig neue Arbeits- und Gesellschaftsentwürfe ermöglichen.
Die Initiative Mein Grundeinkommen testet diese Idee seit einigen Jahren in der Praxis und hat bislang dank Spenden 273 Menschen per Losverfahren und ohne Vorbedingung ein Jahr lang ein Grundeinkommen von 1000 Euro ausgezahlt. Eine der Testpersonen war die Berlinerin Corinna Crusius.
"Es war ein riesengroßes Geschenk. Erstmal war es auch ein Stückchen überfordernd. Ich hab viel gegrübelt – was mach ich jetzt damit? Erfüll ich mir Wünsche, Konsumwünsche? Geb' ich das für Dinge aus oder nicht? Klar war halt, die Fortbildung, die muss auf jeden Fall laufen, weil ich mich beruflich nochmal neu orientieren möchte, dafür brauche ich diese Ausbildung."

Die Möglichkeit frei entscheiden zu können

Corinna Crusius ist Sozialarbeiterin, Mutter zweier kleiner Töchter und lebt mit ihrer Familie in Berlin-Kreuzberg. Ihren Gewinn hat sie in eine Zusatzausbildung zur Familientherapeutin gesteckt und hat trotzdem weder den Job gewechselt noch die Arbeitsstunden reduziert.
"Nicht zu wechseln hat auch ne bestimmte Gelassenheit gegeben. Also die Wahl zu haben, ich könnte auch Nein sagen. Ich würde halt nicht bei nichts landen. Hab mich doch für den gleichen Job mit den gleichen Bedingungen entschieden. Und hab damit wie ne Art Frieden geschlossen."


Allein die Möglichkeit frei entscheiden zu können, habe etwas in ihr bewirkt, sagt sie. Ein Argument, weswegen auch Thomas Vasek das Grundeinkommen befürwortet.
Vasek: "Das Argument, dass Menschen nur wirklich im emphatischen Sinne frei sein können, wenn sie ne basale Sicherheit, im Sinne einer existenziellen Grundsicherung haben, denn erst diese Sicherheit ermöglicht es mir, von meiner Freiheit Gebrauch zu machen – einen Job, den ich als sehr unbefriedigend erlebe, aufzugeben und was Neues zu machen."
Crusius: "Ich arbeite ja mit Jugendlichen zusammen und häufig erlebe ich Jugendliche mit 16 Jahren in der zehnten Klasse, die völlig überfordert sind, sich festzulegen, was sie tun sollen. Ich glaube, dass man sich ja nicht festlegt für 20 Jahre im heutigen Berufsleben. Das macht man sowieso nicht. Und da auch ein stückweit den Druck raus zu nehmen und zu transportieren, man kann immer etwas anderes tun."
Keiner der Probanden habe aufgrund des bedingungslosen Einkommens nicht mehr gearbeitet, sagt Corinna Crusius Sie selbst sei während der Zeit mit dem bedingungslosen Einkommens viel entspannter mit ihren Kindern gewesen, auch wenn sie wegen der Ausbildung sogar mehr gearbeitet habe.
"Mein Grundeinkommen"-Initiator Michael Bohmeyer mit Moderatorin bei einer Verlosung von bedingungslosen Grundeinkommen in Höhe von 1000 Euro
"Mein Grundeinkommen"-Initiator Michael Bohmeyer bei einer Verlosung des bedingungslosen Grundeinkommens 2016.© Deutschlandradio / Wolf-Sören Treusch

"Arbeit gehört zu einem erfüllten Leben"

Für Sascha Liebermann ist die Freiheit bei der Familiengestaltung und Kinderbetreuung ein maßgeblicher Punkt für die Einführung des Grundeinkommens. All jene, die schon jetzt unbezahlt arbeiteten – in der Kinderbetreuung, in der Pflege von Angehörigen, im Familienalltag – könnten davon profitieren.
"Wir reden immer über Erwerbstätigkeit. Wenn wir mal schauen, bezogen auf das Arbeitsvolumen, die Stunden pro Jahr, die geleistet werden, dann wird ja der größere Teil von Leistungen in nicht bezahlter Arbeit erbracht. Darüber erwerben sie so gut wie keine Rentenansprüche."
Noelting: "Da hilft es, diese drei Begriffe – Arbeit, Job, Beruf – mal zu trennen und unabhängig voneinander zu betrachten."
Für den Frugalisten Oliver Noelting ist Lohnarbeit bestenfalls ein Teil jenes Tuns, das wir Arbeit nennen. Im schlimmsten Fall sei es einfach nur ein Job – Arbeit hingegen etwas viel Bedeutsameres, auf das er, auch wenn er in einigen Jahren finanziell unabhängig sein wird – nicht verzichten wolle.
"Weil ich finde, Arbeit gehört zu einem erfüllten Leben. Die Lebensphilosophie unter FIRE da geht es darum, Dinge anzupacken, aktiv zu sein und eben nicht, nur sich passiv berieseln zu lassen und den bequemen Weg zu gehen. Und wenn man aus der Komfortzone rausgeht, dann muss man natürlich Arbeit reinstecken, irgendwas aktiv tun. Deshalb schätze ich, dass ich mit 40 genauso weiterarbeite oder sogar mehr – aber eben nicht mehr in einem Job."
Crusius: "Ich krieg ja dadurch für mich, für mein Wirken, ne Aufwertung. Und Menschen sind ja grundsätzlich soziale Wesen. Also ich denke schon, dass die Mehrheit, die wollen was tun. Sonst hätten wir nicht so viele Ehrenämtler, die eben nicht bezahlt werden für ihre Arbeit. Warum machen die das? Sind die alle blöd? Und dann gibt es auch bestimmte Menschen, die nicht so arbeiten können, wie wir uns das vorstellen. Die Einschränkungen haben, gesundheitliche, körperliche. Oder die tatsächlich nicht arbeiten wollen, kann schon sein, aber die haben wir jetzt auch."

Arbeit als sinnstiftendes Tun

Das Recht auf Faulheit, wie es Paul Lafargue, Schwiegersohn von Karl Marx, inmitten der schwierigsten industriellen Umbrüche Mitte des 19. Jahrhunderts proklamierte, führt also nicht zwangsläufig zu schnödem Nichtstun.
Arbeit als sinnstiftendes Tun, das für das Menschsein zentral ist, das persönliches Wachstum und gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht – mit dieser Idee sind die Grundeinkommensgewinnerin Corinna Crusius und die Frugalisten und FIRE-Aktivisten Lars Hattwig und Oliver Noelting ganz nah an dem, was der Soziologe Max Weber Anfang des vergangenen Jahrhunderts in seiner protestantischen Arbeitsethik unter "Beruf" verstand:
Eben nicht einfach einem Job nachzugehen, mit dem möglichst viel Geld zu verdienen ist, sondern eine Tätigkeit auszuüben, zu der man sich berufen fühlt. Nicht mehr angewiesen zu sein auf bezahlte Arbeit, mache genau dies möglich und damit das Leben nicht bequemer, aber reicher, so Oliver Noelting.
"Ich hatte immer diese Vorstellung, dass das Leben am besten ist, wenn man es so bequem wie möglich hat. Wo man wenig Arbeit hat, so ein Schlaraffenland. Ich habe irgendwann aber festgestellt, dass so ein bequemes Leben total langweilig ist. Tatsächlich ist ein gutes Leben eines, wo man aktiv ist. Wo man nicht auf Bequemlichkeit abzielt, sondern wo man manchmal eher den unbequemen Weg geht, wo man Neues lernt, wo man sich persönlich weiter entwickelt. Dafür muss man tatsächlich manchmal in unserer modernen Welt diesen bequemen Weg vermeiden. Aus sich rauskommen, seine eigene Persönlichkeit weiter entwickeln, um Abenteuer zu erleben."
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