Leben für den Protest

Rezensiert von Jochen Staadt · 21.02.2010
Der Autor Aribert Reimann geht in seinem neuen Buch der Lebensgeschichte von Dieter Kunzelmann auf den Grund. Kunzelmann gilt - ohne selbst je Student gewesen zu sein - als ein maßgeblicher Anreger der 68er-Studentenbewegung.
Dieses Buch rekonstruiert die abenteuerliche Biografie Dieter Kunzelmanns im Kontext ihrer Zeit. Sie erklärt, wie und warum aus einem hoffnungsvollen Bamberger Messdiener ein Wanderer durch Zwischenwelten geworden ist. Vom Clochard und situationistischen Bürgerschreck zum Kommune-I-Gründer und Wortführer des terroristischen Untergrundkampfes, vom maoistischen Kommunisten zum Landtagsabgeordneten der Grünen spannt sich die von zahlreichen Gerichtsverfahren und Gefängnisaufenthalten begleitete Lebensgeschichte Kunzelmanns.

"Kaum einer der Protagonisten der sogenannten Studenten-Revolte von 1967/68 ist öffentlich so umstritten wie der Theoretiker und Mitbegründer der legendär gewordenen Kommune 1, Dieter Kunzelmann. Auch Jahrzehnte nach seinen öffentlichkeitswirksamen Provokationen der West-Berliner und bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft scheiden sich an seiner Person die Geister. An abschätzigen Charakterisierungen – insbesondere aus dem Mund ehemaliger SDS-Mitglieder und Veteranen der Bewegung – mangelt es denn auch nicht."

Aribert Reimann hat sich der Mühe unterzogen, der Lebensgeschichte des Mannes auf den Grund zu gehen, der – ohne selbst je Student gewesen zu sein – als ein maßgeblicher Anreger der 68er-Studentenbewegung von herausragender Bedeutung ist. Auch als Vordenker und Akteur des Übergangs vom radikalen Straßenhappening zum terroristischen Untergrundkampf - was für die bösen Folgen von 68 von Belang ist. Reimann interpretiert Kunzelmanns Biografie als extremes Gesamtkunstwerk. Er vergleicht das politische Chamäleon Dieter Kunzelmann mit Woody Allens fiktivem, überall und nirgends anwesenden Filmhelden "Zelig", der ein vollständig situativ determiniertes Leben führt.

"Im Gegensatz zu 'Zelig' jedoch verhielt sich Kunzelmann niemals affirmativ, sondern repräsentierte in beständig wechselnden Konstellationen immer die radikale Negation des Bestehenden."

Reimanns treffendes Resümee des Dieter Kunzelmann und seiner Kunst der impertinenten Einmischung in öffentlichen Angelegenheiten, die aufs engste mit einer unbedingten Verantwortungslosigkeit gegenüber dem öffentlichen Begehren nach Informationen über alles und jedes zu seiner Person verwoben ist, lautet:

"Je schwerer es den 'Veteranen' der Bewegung fällt, in seiner Biografie auch die jeweils eigenen Leistungen und Abwege zu reflektieren, um so leichter fällt es den Nachgeborenen, sich über die Erregung, die seine Biografie gelegentlich auslöst, zu amüsieren. Eine angemessene Historisierung der kulturrevolutionären Auf- und Umbrüche der Nachkriegszeit wird sich von beiden Haltungen verabschieden müssen."

Das wird wohl ein frommer Wunsch bleiben. Die Selbstvergessenheit der zu Ämtern und Würden gekommenen 68er hat inzwischen einen Verdrängungsgrad erreicht, der sich nur noch unwesentlich von dem unterscheidet, was sie in ihrer Jugend der Väter-Generation vorzuwerfen hatten. Während ihre Eltern die Vergangenheit hinter Nebeln des Schweigens verbargen, verstecken die meisten 68er ihre früheren Verstrickungen hinter einer Wand von beschönigendem Geschwätz. Im Rückblick erscheinen die damaligen Repräsentanten der Revolte nach einem damals gern gesehenen Western als "the good, the bad and the ugly", der gute Rudi, der böse Bader und der hässliche Kunzelmann.

Man will nicht mehr wissen, wie nah man sich einmal stand, bevor die einen innehielten und die süßen Früchte der Rebellion ernteten und die anderen bis zum bitteren Ende am Irrweg des Aufstands gegen die Verhältnisse festhielten. Aribert Reimann rückt mit seiner Habilitationsschrift über Dieter Kunzelmann, den Hässlichen unter all den im Nachhinein so gutmenschlich daherkommenden Alt-68ern, in den zeitgenössischen Wirkungszusammenhang, oder wie der Autor es ausdrückt:

"Eine solche Lesart bedeutet nicht, Kunzelmanns Weg in die Gewalt zu ästhetisieren, sondern sie versucht, einen plausiblen diskursiven Ort anzugeben, an dem sich Kunzelmanns Militanz innerhalb zeitgenössischer Medienspektakel aufhielt. (…) Seine subversive Allgegenwart hat unter anderem auch dazu geführt, dass Kunzelmann zu einem Übersetzer und Transformator der europäischen Protestkultur geworden ist. (…) Die unübersichtlichen neuen medialen Kommunikationsformen des Politischen im ausgehenden 20. Jahrhundert blieben Kunzelmann dagegen fremd."

Angesichts der Kommerzialisierung jedweder Provokation, hat die Realität heutiger Medienimaginationen Kunzelmanns Welt um Lichtjahre hinter sich gelassen. Der heute 70-Jährige lebt zurückgezogen als Rentner in Berlin-Kreuzberg. Er widmet sich engagiert seinen beiden Enkelkindern und ist ein gern gesehener Gast in den umliegenden arabischen, afrikanischen und türkischen Restaurants. Obwohl ihm Reimanns Habilitation vom Verlag schon vor Monaten zugesandt wurde, hat Kunzelmann, wie er selbst sagt, das Buch noch nicht gelesen.

Aribert Reimann: Dieter Kunzelmann. Avantgardist, Protestler, Radikaler
Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 2009
Aribert Reimann: "Dieter Kunzelmann. Avantgardist, Protestler, Radikaler"
Aribert Reimann: "Dieter Kunzelmann. Avantgardist, Protestler, Radikaler"© Vandenhoek & Ruprecht
Mehr zum Thema