Laurence Sterne und sein "Shandy Hall"

Ein schiefes Haus als literarischer Wallfahrtsort

Von Hans von Trotha · 26.02.2018
In "Shandy Hall", einem windschiefen mittelalterlichen Haus auf dem englischen Land, schrieb der Pfarrer Laurence Sterne gleich mehrere Bestseller - echte Überraschungshits, die die Menschen noch immer inspirieren. Heute ist das Haus ein Museum - oder so etwas in der Art.
Vor 250 Jahren erschien "A Sentimental Journey", eines der meistgelesenen Bücher des 18. Jahrhunderts, das bis heute Künstlerinnen und Künstler aller Sparten inspiriert. Geschrieben wurde es von Laurence Sterne, der zuvor bereits mit "Leben und Meinungen von Tristram Shandy, Gentleman" einen Sensationserfolg gelandet hatte, der die Leserschaft spaltete: die einen riefen "genial!", die anderen: "Schund!".
Hans von Trotha berichtet an fünf Tagen aus Shandy Hall, einem verwunschenen Pfarrhaus im Norden Englands, wo Laurence Sterne, von Beruf Pfarrer, lebte und schrieb – ein literarischer Wallfahrtsort, an dem sich Wirklichkeit und Fiktion auf wundersame Weise vermischen.

I. Shandy Hall, das Haus und der Kurator

Audio Player Es gibt Melodien, die versetzen einen sofort in eine andere Zeit und in eine andere Sphäre. Es gibt auch Bücher, die das können, für mich zum Beispiel der Roman, der mit den Worten beginnt:

"Ich wünschte, entweder mein Vater oder meine Mutter, oder fürwahr alle beide, denn von Rechts wegen oblag die Pflicht ihnen beiden zu gleichen Teilen, hätte bedacht, was sie taten, als sie mich zeugten."

Und es gibt Orte, die einen wie magisch verzaubern, ohne dass man erklären könnte, warum. Dazu gehört für mich das Haus, in dem der Roman geschrieben wurde, der so beginnt.

In North Yorkshire, weit im Norden Englands, steht dieses mittelalterliche, ein wenig windschief anmutende Haus, das zum Garten hin absurderweise eine elegante Londoner Stadtfassade aufweist.

Diese Fassade hat sich der Autor Laurence Sterne von dem Geld geleistet, das er vor gut 250 Jahren mit dem Roman "Leben und Meinungen von Tristram Shandy, Gentleman" verdiente. Der Ruhm ereilte ihn in London. Geschrieben hat Sterne vorzugsweise hier, in dem kleinen Ort Coxwold inmitten der wie verzaubert schönen, wenn auch bisweilen etwas schroffen Variante von "Englands green and pleasent lands".

II. A Sentimental Journey – heute vor 250 Jahren erschienen
"Ich denke, es waltet ein Verhängnis dabei – ich gelange selten da hin, wohin ich eigentlich will."
Mit diesem Zitat lässt sich ein Bestseller zusammenfassen, der genau heute vor 250 Jahren erschienen ist, der zuvor in Shandy Hall, einem mittelalterlichen Pfarrhaus im englischen North Yorkshire, geschrieben wurde, und dessen Titel auch nach 250 Jahren noch wirkt, als sei er eine Idee unserer Tage: A Sentimental Journey.
Dass uns der Titel so vertraut ist, mag auch daran liegen, dass er oft zitiert wird und dass Doris Day mit ihrer Version einer Sentimental Journey 1945 ihren erste großen, bis heute unvergessenen Hit gelandet hat.
Patrick Wildgust ist Kurator von Shandy Hall – einem Museum, dessen wichtigstes Exponat die Tatsache ist, dass hier Weltliteratur geschrieben wurde. Ich sitze mit Patrick in einem kleinen, würfelförmigen, dunklen Raum im mittelalterlich verwinkelten Shandy Hall, in dem Laurence Sterne weite Teile seines Tristram Shandy und die Sentimental Journey geschrieben hat.
Mit der Idee einer Sentimental Journey, einer Reise also, auf der es einzig und allein um die Empfindungen des Reisenden geht, hat Sterne seine Zeitgenossen verstört und begeistert. Hierzulande wurde die Übersetzung von sentimental sogar zum Namen der Epoche, die das Wort hervorgebracht hat: Empfindsamkeit. Ein wahrhaft epochaler Roman also.
Mein Lieblingssatz aus diesem an großen Sätzen reichen Buch lautet übrigens:
"Fliegt das Herz dem Verstande voran, so erspart es der Urteilskraft unsägliche Mühe."
Das ist es, was man hier erleben kann, in Shandy Hall ebenso wie bei der Lektüre der Mutter aller Sentimental Journeys.

III. Tristram Shandy, das Buch
Audio Player

Das sagt ein gewisser Tristram Shandy in dem Roman, der nach ihm benannt ist, der mit der Zeugung des Erzählers beginnt und der dessen Leben und Meinungen zum Besten gibt, gemischt mit allerlei zweideutigen Anspielungen, und ansonsten weitgehend auf das verzichtet, was man eine Handlung nennen könnte.

Patrick Wildgust: "Sternes Erzählen besteht fast ausschließlich aus sogenannten Digressionen, das sind Umwege und Abwege von dem, was eigentlich zu erzählen wäre – eine Art ewige Umleitung."

Dieses Prinzip der ewigen Umleitung hat viele Künstler inspiriert - so auch den Komponisten Michael Nyman, den der Roman Tristram Shandy zu verschiedenen Kompositionen veranlasst hat, so auch zu einem Nose List Song, einem Lied über Nasen, die im Allgemeinen und speziell in ihrer Relation zum männlichen Glied eine sozusagen tragende Rolle in Tristram Shandy spielen.

"Laurence Sterne sprengt in seinem literarischen Debüt die Regeln des Romans, die gerade erst erfunden worden waren", wie Patrick Wildgust, Kurator von Shandy Hall, dem Ort, an dem das Buch geschrieben wurde, erläutert.

Sterne will immer alles erzählen – möglichst auf einmal. Das klingt zum Beispiel so:

"Versprach ich nicht der Welt ein Kapitel über Knoten? Zwei Kapitel über das richtige und über das falsche Ende einer Frau? Ein Kapitel über Knebelbärte? Ein Kapitel über Wünsche? – ein Kapitel über Nasen? – Nein, das habe ich bereits geliefert – ein Kapitel über meines Onkel Toby’s Züchtigkeit? gar nicht zu reden von einem Kapitel über Kapitel, das ich noch vor dem Schlafengehen beenden will – "

Während Kurator Patrick Wildgust Besuchern von Shandy Hall Sternes Arbeitszimmer zeigt, in dem das Buch geschrieben wurde, klingelt ein Telefon. Schon befinden wir uns inmitten einer Digression beim Versuch, über ein Buch zu sprechen, das aus solchen Digressionen besteht – das ist der Anfang einer Spirale, der man sich, hat sie einen einmal erwischt, kaum entziehen kann, ein Sog, der Künstler aller Sparten bis heute mit sich reißt – Schriftsteller, Maler – und Komponisten wie Michael Nyman...

IV. Die Bienen, Onkel Toby und die Vermischung von Realität und Literatur
Bei einem meiner Besuche in Shandy Hall, dem englischen Pfarrhaus, in dem der Autor Laurence Sterne zwischen seinen Predigten Weltliteratur schrieb, wurde ich, während ich meinerseits schreibend im Garten saß, von einer Biene in den Kopf gestochen.
Sie hatte sich in meinen Haaren verheddert. Vielleicht wollte sie mir aber auch zu verstehen geben, dass sie hier zu Hause war. Ich saß unmittelbar vor einer kleinen Terrasse – vor, nicht auf wohlgemerkt. Denn die Terrasse ist für Menschen gesperrt, wenn sich ein Bienenvolk hier aufhält. Die Maßnahme, durch ein selbstgemaltes Pappschild mit der Aufschrift: "No entry. Bees" der Öffentlichkeit zur Kenntnis gegeben, atmet den Geist einer der handelnden Figuren in Sternes Roman Tristram Shandy.
Kurator Patrick Wildgust stellt Besuchern von Shandy Hall Onkel Toby vor, eine besonders sanftmütige Figur. Er fängt eine Fliege, tötet sie aber nicht, obwohl sie ihn empfindlich genervt hat, er lässt sie vielmehr frei, und zwar mit den unsterblichen Worten:
"Die Welt hat sicherlich doch Raum genug für dich und mich."
Aber Onkel Toby war auch im Krieg.
Zur Traumabewältigung stellt er zusammen mit einem Diener in seinem Garten in einer Art Reenactment Belagerungen nach. Im Garten von Shandy Hall kann man sich derlei Aktivitäten, ist man erst einmal ein paar Tage dort gewesen, lebhaft vorstellen.
Onkel Toby verliebt sich in die Nachbarin, die dabei zusieht. Das ist ein Kapitel für sich. Schließlich ist er in der Schlacht von Namur am Schambein verletzt worden und man weiß nicht recht, was da noch geht und was vielleicht nicht mehr. Die Angebetete fragt sicherheitshalber: "Wo genau haben Sie sich verletzt?" Onkel Toby, der Gute, antwortet: "Bei Namur."

V. Die Kirche, die Predigten, Predigen als Literatur, der schlüpfrige Pfarrer
Audio Player

Hans von Trotha: A Sentimental Journey
Laurence Sterne in Shandy Hall
Wagenbach Salto, 2018
144 Seiten, 17 Euro

Mehr zum Thema