Laura Freudenthaler: Geistergeschichte
Droschl, Graz/Wien 2019
168 Seiten, 20,00 Euro
Ein Paar wird sich fremd
06:08 Minuten
Laura Freudenthaler schreibt in "Geistergeschichte" über die 50-jährige Pianistin Anne und Drehbuchautor Thomas. Irgendwann ist Anne davon überzeugt, ihr Partner hat eine Affäre. Doch hier verwischt die Grenze von Realität und Phantasma.
Die Österreicherin Laura Freudenthaler zählt zu jenen jungen Autoren, die von Beginn an über einen eigensinnigen Erzählstil und eine unverwechselbare Stimme verfügen. 1984 in Salzburg geboren und heute in Wien lebend, debütierte sie 2014 mit dem Erzählband "Der Schädel von Madelaine" und veröffentlichte 2017 den viel beachteten Roman "Die Königin schweigt".
Nun erscheint der zweite Roman "Geistergeschichte". Diese drei Bücher genügen, um von einem Freudenthaler'schen Schreiben zu sprechen. Es ist dezent und bis in jede Silbe der meist kurzen Sätze von konzentrierter Präzision, es besitzt einen sehr sachlichen Duktus und dringt zugleich in die unbewussten Seelentiefen der Figuren vor. In "Die Königin schweigt" lernt eine alte Frau ihr hinter ihr liegendes Leben erst in nächtlichen Träumen kennen und verstehen.
Ein Haus in den Bergen für die seelische Erholung
Auch die "Geistergeschichte" ist aus der Innen- und Traumwelt einer weiblichen Hauptfigur erzählt. Auch für sie, die 50-jährige Pianistin und Klavierlehrerin Anne, hat die Realität einen doppelten Boden. Seit zwei Jahrzehnten führt die aus Frankreich stammende Anne mit dem österreichischen Drehbuchautor Thomas das mittelständisch gediegene Leben urbaner Kulturbürger. Die gemeinsame Wohnung ist bestückt mit geschmackvollen Möbeln und vielen Büchern, für die seelische und geistige Erholung hat das Paar ein Haus an einem See in den Bergen.
Aber der Boden, auf dem sich Anne bewegt, gerät mehr und mehr ins Schwanken, als sie ein sogenanntes Freijahr antritt und für diese Zeit nicht an der Musikschule arbeitet. Eigentlich hat sie vor, ein Lehrbuch zu verfassen und sich dem eigenen Klavierspiel zu widmen. Stattdessen stellen sich merkwürdige Irritationen ein. Anne verliert die Kontrolle über ihre Hände auf der Klaviertastatur, als wären es selbstständige Wesen.
Ist seine Liebesaffäre nur ihre Einbildung?
Sie läuft desorientiert durch die Straßen ihres Wohnviertels, als befände sie sich in einer unbekannten Stadt. Die Wohnung wird ihr so fremd wie ihr Lebenspartner Thomas. Überzeugt, er habe eine Liebesaffäre mit einer jungen Frau, durchwühlt sie nachts seine Anzugtaschen, um Beweise für seine Untreue zu finden. Anhand von Restaurantquittungen erstellt sie eine regelrechte Chronik seines amourösen Parallellebens. Endgültig ins Genre der gespenstischen "Geistergeschichte" führt der Roman, als Anne die junge Frau, die sie fortan "das Mädchen" nennt, in der Wohnung herumgehen hört. Die Spukgestalt wird zum festen Bestandteil ihres Alltagslebens und der Erzählung.
Das Kunststück des Romans liegt in der Verwischung der Grenze von Realität und Phantasma. Bis zur letzten Seite bleibt man als Leser unentschieden, wo jene endet und dieses beginnt, ob auch die Affäre von Thomas nicht mehr ist als eine Einbildung von Anne. Aus dem literarischen Mainstream der Gegenwartsliteratur, die sich zu einem übergroßen Anteil auf historischen und autobiografischen Realismus verlässt, ragt Laura Freudenthalers Roman auf erfreuliche Weise heraus. Er schöpft aus einer Urquelle der Literatur: Dem Phantastischen und Imaginären, das sich den Gesetzen der Realität nicht beugen muss.
Das Kunststück des Romans liegt in der Verwischung der Grenze von Realität und Phantasma. Bis zur letzten Seite bleibt man als Leser unentschieden, wo jene endet und dieses beginnt, ob auch die Affäre von Thomas nicht mehr ist als eine Einbildung von Anne. Aus dem literarischen Mainstream der Gegenwartsliteratur, die sich zu einem übergroßen Anteil auf historischen und autobiografischen Realismus verlässt, ragt Laura Freudenthalers Roman auf erfreuliche Weise heraus. Er schöpft aus einer Urquelle der Literatur: Dem Phantastischen und Imaginären, das sich den Gesetzen der Realität nicht beugen muss.