Laura Cwiertnia über „Auf der Straße heißen wir anders“

Vom Schweigen in armenischen Familien

09:37 Minuten
Porträt der Schriftstellerin Laura Cwiertnia, die mit verschränkten Armen an einer Backsteinwand lehnt
Bei der Recherche für ihren ersten Roman brachte Laura Cwiertnia auch Teile ihrer Familie zum Sprechen. © Marlena Waldthausen
Moderation: Joachim Scholl · 18.03.2022
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Ihr Debütroman über vier Generationen einer armenischen Familie sei auch ein Buch über das Nichterzählen, sagt Laura Cwiertnia. Über der Geschichte schwebt der Genozid an den Armeniern 1915. Aber nicht alle Verfolgungen seien bekannt, so die Autorin.
Laura Cwiertnias eigene Familiengeschichte ist die Grundlage für ihren ersten Roman „Auf der Straße heißen wir anders“. Sie ist 1987 als Tochter eines armenischen Vaters und einer deutschen Mutter in Bremen geboren und aufgewachsen. Inzwischen arbeitet sie bei der Wochenzeitung „Die Zeit“. Dass ihre Familiengeschichte eine erzählenswerte sein könnte, darauf sei sie mehr durch Zufall gekommen, sagt Laura Cwiertnia. Sie habe einem Kollegen von ihrem Vater erzählt, der noch nie in Armenien war, obwohl er Armenier ist und in Istanbul geboren wurde. Daraus sei dann ein Artikel entstanden – und daraus letztlich der Roman, der sich aber auch von ihrer eigenen Geschichte entferne.
Figuren des Romans sind Karla, die in Bremen-Nord geboren wurde, ihr armenischer Vater Avi und ihre armenische Großmutter Maryam, die in den 1960er-Jahren als Gastarbeiterin nach Deutschland gekommen war. Außerdem noch Karlas Urgroßmutter Amine.

Vorwärts und rückwärts erzählt

Sie erzähle den Roman auf zwei Ebenen, so Laura Cwiertnia. Zum einen vorwärts auf der Gegenwartsebene – die Reise, die der Vater und die Tochter zusammen machen. Zum anderen erzähle sie rückwärts. „Die Personen werden in ihren Rückblicken immer jünger. Es beginnt in den 90er-Jahren in Bremen-Nord und geht über die 60er-Jahre in Istanbul bis hin zum Genozid.“ Ihr Buch sei auch ein Buch über das Schweigen und das Nichterzählen: „Das, was oft mit diesem sperrigen Wort transgenerationale Traumata zu tun hat, dass die Leute nicht darüber reden.“
Um die vielen Details, Nuancen und Bezüge zur armenischen Welt in ihr Buch bringen zu können, habe sie sehr viel recherchiert, sagt die Schriftstellerin und Journalistin: viel gelesen, mit vielen Menschen gesprochen, Armenierinnen und Armeniern, aber auch Forschern. Aber es sei auch vieles erfunden.

Fasziniert von den Erzählungen des Vaters

Teilweise habe sie auch ihre Familie zum Sprechen gebracht, sagt Cwiertnia. Zum Beispiel zu Avis Jugend im Istanbul der 50er-Jahre. Ihr Vater erzählte ihr von der Stadt in dieser Zeit. „Ich habe gefragt: ‚Wie sah es dort aus?‘ Und war ganz fasziniert, wenn mein Vater mir dann von den Sesamkringeln erzählt hat, die die Männer da am Markt auf dem Kopf tragen.“
Über der gesamten Geschichte schwebt der Genozid an der armenischen Bevölkerung in der Türkei während des Ersten Weltkriegs, als Millionen Menschen auf grausame Weise getötet wurden. Das sei der Anlass für ihren Artikel damals gewesen: dass in ihrer wie in sehr vielen anderen armenischen Familien „dieses große Thema des Genozids verschwiegen wurde", so Laura Cwiertnia. Die Türkei leugnet den Völkermord bis heute.

Der Pogrom von 1955 in Istanbul

Dass offenbar auch spätere Verfolgungen zumindest hierzulande nicht bekannt sind, das hätten ihre Recherchen ergeben: nämlich, dass bei einem Pogrom in einer Nacht im September 1955 in Istanbul auch Armenier betroffen waren. Vor allem die griechische Minderheit wurde damals Opfer eines wütenden Mobs, der Geschäfte zerstörte, Menschen misshandelte und tötete. Aber auch jüdische und muslimische Menschen wurden in dieser Nacht zur Zielscheibe.
Ihre eigene Großmutter habe zu der Zeit in Istanbul gelebt, erklärt Laura Cwiertnia. Ihr sei bewusst geworden, „dass das auch so etwas war, das nicht erzählt wurde, weil es einfach wahrscheinlich zu grauenhaft war“. Auf diese Zeit beziehe sich auch der Titel ihres Romans „Auf der Straße heißen wir anders“. Maryams Mutter sagt diesen Satz, um Maryam zu erklären, dass man sich schützen müsse.
Dass Namen verschwänden, sei ein großer Teil der armenischen Geschichte, so Cwiertnia. Es gebe viele Dörfer, die nicht mehr ihren armenischen Namen, sondern einen türkischen trügen. Aber viele Armenier hätten sich eben auf der Straße einen anderen Namen gegeben haben als Zuhause. „Damit nicht jeder weiß, dass sie Armenier sind.“
(abr)

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