Lauftrend Retrorunning

Wer rückwärts läuft, kommt besser voran

Teilnehmer der 6. Weltmeisterschaft im Rückwärtslaufen starten am 15.07.2016 auf dem Sportplatz "Am Hallo" in Essen zu einem Vorlauf über 100 Meter.
Teilnehmer der Rückwärtslauf-WM 2016 starten in Essen zu einem Vorlauf über 100 Meter. © picture alliance / dpa / Bernd Thissen
Von Sabine Gerlach · 02.09.2018
Mit Rückwärtslaufen trainieren viele Athleten ihre Wendigkeit – etwa für Ballsportarten. Mittlerweile hat sich daraus ein eigener Sport entwickelt, in dem auch internationale Meisterschaften ausgetragen werden. Was ist dran am Lauftrend Retrorunning?
Wer sich umdreht und rückwärts läuft, muss seinen Körper anders ausbalancieren. Gelaufen wird nur auf dem Fußballen, die Ferse schwebt in der Luft. Die Schritte sind tänzelnd und kürzer als beim Vorwärtslaufen. Andere Muskeln werden beansprucht und gekräftigt, vor allem in Waden und Oberschenkeln.
Rückwärtslaufen ist zudem gelenkschonend. Gut also für diejenigen, die an Knieproblemen leiden oder eine Knieverletzung hatten. Der Sportmediziner Robert Margerie hält Retrorunning deshalb für eine sinnvolle therapeutische Maßnahme. Er empfiehlt seinen Patienten, zeitweilig rückwärts zu laufen, damit es danach wieder vorwärts geht:
"Wir sehen immer wieder, dass Sportler, die sich verletzen, meinetwegen beim Laufen, immer auf der Suche sind nach alternativen Trainingsformen, nach Rehabilitationsmaßnahmen, wo wir aber Dinge wie das Radfahren oder das Schwimmen oder ganz allgemein auch Gymnastik und Krafttraining empfehlen. Hier kann das Rückwärtslaufen tatsächlich eine zusätzliche sinnvolle Maßnahme sein."

Wegen chronischer Kniebeschwerden gewechselt

"Und das ist er, auf Bahn Nummer vier Roland Wegner."
Roland Wegner, einer der erfolgreichsten deutschen Rückwärtsläufer der letzten Jahre, war früher ein ambitionierter Vorwärtssprinter. Wegen chronischer Kniebeschwerden hatte er Anfang der 2000er Jahre ans Aufhören denken müssen:
"Man muss natürlich sehen, wenn man aus einem Sportlerleben mit einer Verletzung rausgerissen wird, ist es für die Psyche schon nicht ganz so einfach. Und wenn man dann was findet, wo man sich wieder auspowern kann, wo man Ziele erreichen kann, wo man alles geben kann ohne Schmerzen, dann ist es was Wunderbares – und das war für mich Rückwärtslaufen und 2004 bin ich meinen ersten Weltrekord gelaufen."
Richtungswechsel und Rückwärtsbewegungen gehören in vielen Sportarten zum Spielverlauf und werden entsprechend trainiert. Zum Beispiel beim Handball, Hockey, Fußball oder Tennis.
Teilnehmerinnen der 6. Weltmeisterschaft im Rückwärtslaufen starten am 15.07.2016 auf dem Sportplatz "Am Hallo" in Essen zum Finale über 3000 Meter.
Teilnehmerinnen der Rückwärtslaufen-WM 2016 im Finale über 3000 Meter© picture alliance / dpa / Bernd Thissen

Eine wichtige Fähigkeit – nicht nur für Athleten

Die Fähigkeit, sich rückwärts orientieren und fortbewegen zu können, sei aber nicht nur für Athleten wichtig, betont der Sportmediziner Robert Margerie:
"Vielleicht wäre das eine schöne Option, das Rückwärtslaufen auch im Kindergarten oder in der Grundschule mit den Kindern einzuüben. Denn neben dem Balancieren, auf einem Bein zu stehen beispielsweise oder auf einem Balken zu balancieren, scheinen die motorischen Fähigkeiten, auch was das Rückwärtslaufen angehen, doch zurückzugehen bei den Kindern, das ist bedenklich. Und das ist auch im Hinblick auf Sturzprophylaxe im Alter, womit wir im Gesundheitssport sehr viel zu tun haben, sicherlich auch eine Negativentwicklung, das man eben koordinativ doch auch das Rückwärtslaufen trainieren sollte."

Ein anderer Blick auf die Welt

"Innenbahn frei machen, Innenbahn frei machen. Die Innenbahn bitte frei machen für Thomas Dold."
Thomas Dold gehört zu den besten Rückwärtsläufern weltweit. Bei der WM Mitte Juli im italienischen Bologna gewann er die Rennen über 3000 und 5000 Meter. Was fasziniert ihn so am Rückwärtslaufen?
"Man sieht die Welt quasi ein bisschen mit anderen Augen, weil Sie sehen sie umgedreht und, zum Beispiel, man merkt das da dran, wenn man vorwärts eine Strecke läuft und man hat dort einen Blickwinkel und man dreht sich um, sieht die gleiche Strecke andersrum, sieht die irgendwie komplett anders aus. Und dann merkt man, wie cool der Perspektivwechsel ist und welche neuen Sachen man dadurch sehen kann. Und das spürt jeder Rückwärtsläufer."
Wer rückwärts läuft, sieht die Welt aus einer anderen Perspektive. Dabei geraten auch Gewissheiten ins Wanken? Wo ist hinten, wo ist vorn? Wo rechts, wo links? Bringt Rückenwind Vorteile? Oder ist Rückenwind nicht eigentlich Bauchwind? Wenn ich meinem Gegner beim Laufen keine Nasenlänge voraus sein kann, dann vielleicht eine Ellenbogenspitze? Und: Ist das, was wir als rückwärtsgewandt bezeichnen, in diesem Fall nicht eigentlich fortschrittlich?
Der Philosoph Wilhelm Schmid am 24.08.2016 in Berlin
Der Philosoph Wilhelm Schmid plädiert dafür, hin und wieder Perspektive und Richtung zu wechseln. © picture alliance / dpa / Paul Zinken

Die Philosophie des Richtungswechsels

"Es ist immer ein Vorteil, die Perspektive zu wechseln, das gilt in jeder Hinsicht, ich habe das gelegentlich selber auch betrieben und habe mich auf den Boden gelegt, auf den Rücken, auf den Bauch und plötzlich sieht die Welt ganz anders aus in der Tat."
Sagt der Philosoph Wilhelm Schmid. Es plädiert dafür, von Zeit zu Zeit, die Position oder die Richtung zu ändern:
"Alles, was die Sinne wach macht, ist von Vorteil, möchte ich mal behaupten. Das weckt die Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit ist immer die Grundlage unseres Weltzuganges und wenn wir immer nur den selben Weltzugang haben, in dem Fall vorwärts laufen, aufrecht stehen, dann ist das für die Sinne langweilig. Also, alles was die Sinne wieder zu einer Intensität bringt, ist wertvoll."

Fersen und Rücken nach vorne - Mit dem Rückwärtsläufer und Buchautor Achim Aretz hat für "Nachspiel" Thomas Wheeler gesprochen.
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Achim Aretz beim Retrorunning auf dem Gelände der Zeche Zollverein
© Privat
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