Lateinamerika

Geschichte von Gier und Gewalt

Der vierjährige Joel versucht sich auf einem zentralen Platz in La Paz als Schuhputzer.
In "Die offenen Adern Lateinamerikas" klagt Eduardo Galeano die Ausbeutung Lateinamerikas an. © picture alliance / dpa / epa afp Gonzalo Espinoza
Gespräch mit Julio Segador · 11.02.2015
Der Autor Eduardo Galeano hat in seinem Werk "Die offenen Adern Lateinamerikas" (1971) Ungleichheiten und globale Abhängigkeiten der dortigen Staaten analysiert und kritisiert. Sind die Thesen Galeanos heute noch aktuell? Wird Lateinamerika noch von den alten Kolonialherren ausgebeutet - nur in anderer Form?
Zitat "Die offenen Adern Lateinamerikas":
"Die Massaker des Elends in Lateinamerika geschehen unbemerkt. Jedes Jahr explodieren in aller Stille, ohne Aufsehen zu erregen, drei Atombomben über diesen Völkern, die es gewöhnt sind, ihr Los mit zusammengebissenen Zähnen zu ertragen. Diese systematische, zwar nicht sichtbare, aber reale Gewalt nimmt zu. Sie ist bislang noch ungestraft, weil die Armen keinen Weltkrieg auslösen können. Aber das Imperium zeigt sich besorgt. Und da es nicht die Brote vermehren kann, tut es sein Möglichstes, um sich der Esser zu entledigen."
Isabella Kolar: Das war ein Zitat aus dem in viele Sprachen übersetzten Standardwerk "Die offenen Adern Lateinamerikas". Eine Geschichte der wirtschaftlichen Ausbeutung des Subkontinents von Kolumbus bis zur Gegenwart. In den Worten seines uruguayischen Autors Eduardo Galeano ein "gepfeffertes kapitalistisches Manifest". Veröffentlicht wurde es im Jahr 1971, und der vor zwei Jahren verstorbene Präsident Venezuelas Hugo Chavez schenkte es bei einem Gipfeltreffen US-Präsident Obama, was dazu führte, dass das Buch auf der Bestsellerliste von Amazon sensationell nach oben schnellte. Julio Segador, unser Südamerika-Korrespondent: Ist der linke Dauerbrenner von Galeano nach über 40 Jahren also noch aktuell? Sollte ihn Außenminister Steinmeier, wenn er morgen seine Lateinamerikareise startet, doch noch einstecken?
Julio Segador: Das wäre vielleicht keine schlechte Idee. Um die Psyche vieler Südamerikaner, vor allem jener, die von der politischen Einstellung eher linksgerichtet sind, besser zu verstehen, hilft dieses Buch von Eduardo Galeano in der Tat. Bis heute fühlen sich viele Menschen in der Region ausgebeutet, erniedrigt. Das hat zum einen wirtschaftliche Hintergründe: Südamerika war und ist immer noch sehr reich an Rohstoffen, das macht die Region natürlich interessant. Früher waren es Gold, Silber und Salpeter, die ausgebeutet wurden, wobei die Menschen hier gar nichts oder nur sehr wenig davon hatten, kaum entschädigt wurden. Heute sind es immer noch Gold, dazu Kupfer und Soja und natürlich Erdöl, etwa in Venezuela.
Dazu kommt, dass viele auch politische Interessen in Lateinamerika hatten, etwa die Vereinigten Staaten, die Region wurde ja auch der Hinterhof der USA genannt. Die Amerikaner haben sich, wie inzwischen feststeht, aktiv in die Politik einzelner Staaten eingemischt, etwa in Chile beim Sturz Salvadore Allendes 1972. Und diese Dinge sind vielen noch gut, ja man muss eigentlich sagen, schlechter Erinnerung. Und all das sollte Außenminister Frank-Walter Steinmeier, wenn er morgen seine Reise nach Brasilien, Peru und Kolumbien antritt, vielleicht ein wenig berücksichtigen.
Kolar: "Die offenen Adern Lateinamerikas" sind ja einfach, verständlich und für ein Geschichtsbuch alles andere als trocken und wissenschaftlich geschrieben, eher schon polemisch. Es geht um Begriffe wie Klassenkampf, den Krieg gegen den in Europa vorrückenden Kapitalismus sowie die Plünderung der Ureinwohner Amerikas. Marx, Engels, Lenin, Hegel und Che Guevara werden bemüht. Irgendwie hat man bei der Lektüre den Eindruck, der Autor ist ungeheuer wütend, oder?
Segador: Eduardo Galeano war in der Tat ungeheuer wütend, als er dieses Buch vor über 40 Jahren geschrieben hat. Man könnte fast sagen, er hat es persönlich genommen. Er ist auch persönlich betroffen. Er lebte ja lange Jahre im Exil, als in seinem Heimatland Uruguay eine rechtsgerichtete Diktatur herrschte, eine Diktatur, die auch von den USA unterstützt wurde. Und das hat Galeano ohne Zweifel geprägt. Er lehnt jegliche Art von Einmischung von außen ab, sei es wirtschaftlicher, sozialer oder politischer Natur.
Und er ist ja auch einer der prononciertesten Verfechter der sogenannten Dependenz, also Abhängigkeitstheorie, und die besagt, dass die Abhängigkeit Lateinamerikas von den Vereinigten Staaten oder früher von den europäischen Kolonialherren, also Spanien, Portugal, die Ausbeutung dieser Staaten für Armut, für die sozialen Unterschiede, für die Ungleichheit auf dem Kontinent verantwortlich sind, und zwar bis heute. Und diese frühere Abhängigkeit, die trägt für Galeano auch dazu bei, dass sich die Länder bis heute nicht entsprechend entwickeln konnten.
Kolar: Sie sprachen bereits von den Rohstoffen. Gold, Silber, Diamanten, Zink, Erdöl, Zucker, Kakao, Kaffee, Bananen – nur eine kleine Auswahl der Rohstoffe, die Lateinamerika zu bieten hat und die im Verständnis von Galeano auch das Verderben dieser Länder sind. Sie waren im berühmten Cerro Rico, dem reichen Silberberg bei Potosi in Bolivien, der bei Galeano als "Schlund der Hölle" bezeichnet wird, weil er jährlich Abertausende von Indios verschlinge. Ein Zitat dazu:
"In drei Jahrhunderten rieb der reiche Berg von Potosi nach Schätzungen acht Millionen Menschenleben auf. Die Indios wurden ihren Dorfgemeinden entrissen und mit ihren Frauen und Kindern zum Berg getrieben. Von zehn, die in die eisigen Hochebenen gelangten, kehrten sieben nie zurück. In den Dörfern hatten die Indios viele trauernde Frauen ohne ihre Ehemänner und viele Waisen ohne Eltern zurückkommen sehen und wussten, dass in den Minen tausend Tode und Verhängnisse warteten. Es waren die furchtbaren Arbeitsbedingungen in den Minen, die die meisten Opfer forderten."
Kolar: Julio Segador, wir hören ja gleich Ihr Feature über die Arbeitsbedingungen im Cerro Rico heute. Galeano schreibt auch, dass die Arbeiter ihr Schicksal nur mit Coca-Blättern und Branntwein ertragen konnten. Einhunderttausend Körbe mit einer Million Coca-Blättern seien jährlich in die Silberminen von Potosi geschafft worden. Ist das heute noch so?
Segador: Das ist leider Gottes immer noch so. Da hat sich gar nicht so viel geändert. Die Arbeit ist unglaublich hart. Sie geht an die Substanz der Menschen, in diesen Schlund, wie ihn Galeano bezeichnet hat. Und die Coca-Blätter, die machen die Arbeiter, ja, man könnte sagen, fügsamer. Durch das Kauen dieser Blätter brauchen sie weniger Schlaf. Sie werden schmerzunempfindlicher, und sie können auch die Höhe besser aushalten. Dieser Berg, Cerro Rico, liegt ja auf über 4.000 Metern Höhe. Sie geraten also, man könnte sagen, in so einen dumpfen Dämmerzustand, obwohl sie eigentlich wach sind. So habe ich die Arbeiter im Berg jedenfalls erlebt.
Und natürlich spielt auch der Alkohol eine sehr, sehr große Rolle, da hat sich auch nichts geändert. Ohne zu übertreiben, ich glaube, dass die meisten dieser Kumpel, die nach ihrer Schicht aus dem Berg kommen, betrunken sind. Aus meiner Sicht ist diese harte Arbeit auch gar nicht zu ertragen, könnte man jetzt sehr polemisch sagen. Es sind arme Teufel in der Tat, die wie Ameisen den Berg nach Mineralien, vor allem natürlich nach Silber durchkämmen, und das hat seinen Preis.
Kolar: "Die offenen Adern Lateinamerikas" von Eduardo Galeano, eine offensichtlich große Anklage, bei der die Armen von den bösen Kapitalisten 400 Seiten lang über den Tisch gezogen werden. Damals schon einseitig oder heute noch realistisch? Ihr Fazit? Und heute noch lesenswert?
Segador: Also lesenswert auf jeden Fall, weil es in der Tat ein kurzweiliges Geschichtsbuch ist, das – Sie haben es ja vorhin gesagt – sehr, sehr polemisch auch aufbereitet wurde. Es ist die Geschichte eines Kontinents aus linker Sicht gesehen. Es ist auch realistisch, weil die Gründe für viele Übel, mit denen Länder wie Bolivien, Peru oder Chile zu kämpfen haben, in der Tat in dieser Zeit der großen Abhängigkeit zu finden sind.
Aber: Die Länder des Kontinents hatten ja auch inzwischen über 200 Jahre Zeit, sich eigenständig zu entwickeln, und sie haben es nur mit mäßigem Erfolg geschafft. Daher ist das Ganze schon ein wenig einseitig. Galeano hat diese Kritik inzwischen auch angenommen. Er hat vor Kurzem, vor einigen Monaten in einem Interview auch gemeint, er müsste manches im Buch umschreiben. Ich glaube nicht, dass er es tun wird, aber sogar er hat inzwischen zugestanden, dass auch die Staaten selbst eine gewisse Mitschuld tragen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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