Lange Diagnosewege, wenig Forschung, kaum Therapien

Christine Mundlos im Gespräch mit Korbinian Frenzel |
Wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen betroffen sind, spricht die Medizin von einer seltenen Erkrankung. Schon deren Diagnose sei eine Herausforderung, sagt die Ärztin Christine Mundlos, weil ihre Kollegen im Alltag wenig Zeit hätten, sich ihren Patienten im Detail zu widmen.
Korbinian Frenzel: Krank sein ist nicht schön. Das gilt für jede Erkältung. Aber immerhin: In solchen Fällen weiß man, es geht vorbei. Krank sein ist schlimmer, wenn man weiß, dass nichts schnell vorbei geht, wenn es ernst ist, bei Krebs etwa. Aber es gibt möglicherweise noch etwas Schlimmeres. Wenn man nämlich krank ist, sich krank fühlt, aber kein Arzt sagen kann, was es eigentlich ist, welche Krankheit man hat und was dagegen helfen könnte.

Seltene Krankheiten, das ist ein Phänomen, das alles in allem gar nicht so selten vorkommt. Selbsthilfegruppen kümmern sich im ganzen Land darum. Zusammengeschlossen sind sie in der Allianz chronischer seltener Erkrankungen, ACHSE ist das abgekürzt, und diese Allianz hilft Menschen unter anderem durch eine Lotsin, die versucht, Patienten mit dem Arzt in Verbindung zu bringen, der ihnen möglicherweise doch helfen kann. Diese Lotsin ist Christine Mundlos, Ärztin an der Berliner Charité und jetzt am Telefon. Guten Morgen, Frau Mundlos!

Christine Mundlos: Guten Morgen, Herr Frenzel.

Frenzel: Vielleicht erst mal vorweg. Was sind seltene Krankheiten? Wer kommt da zu Ihnen?

Mundlos: Von seltenen Krankheiten spricht man nach europäischer Definition, wenn nicht mehr als fünf Betroffene auf zehntausend Menschen in der Bevölkerung kommen. Sie zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass es lange Diagnosewege sind, es gibt wenig Informationen, wenig Forschung, wenig Experten und natürlich auch wenig Therapien.

Frenzel: Und wie gehen Sie dann ganz konkret vor? Jemand kommt zu Ihnen, beschreibt seine Leiden und Sie beginnen dann zu suchen?

Mundlos: Nein, ich sehe persönlich gar keine Patienten. Ich stelle auch keine Diagnose und ich gebe keine Therapieempfehlung. Ich bin sozusagen eine Schnittstelle aus Fleisch und Blut. Ich bin bei der Achse Ansprechpartner für Mediziner und Therapeuten, die beim Umgang mit seltenen Erkrankungen Unterstützung benötigen. Das heißt, die Kollegen können an mich herantreten mit einer Frage, die sie haben, die dann entweder sich konkret um eine seltene Erkrankung handelt, zum Beispiel, dass es darum geht, was sind neueste Therapien, oder gibt es da Forschungsansätze, oder wer ist der spezifische Experte vielleicht in räumlicher Nähe zum Patienten, der sich dem annehmen kann, oder sie kommen halt mit Fragestellungen, wo es unklar ist, die Diagnose noch gar nicht gestellt ist, und jetzt in der Hoffnung, dass ich über mein Netzwerk oder die Zeit, die ich für Recherche habe, jemanden finden kann, der sich dem Patienten möglichst unvoreingenommen auch noch mal annimmt.

Frenzel: Klappt das denn immer? Können Sie immer vermitteln, oder haben Sie auch schon Situationen gehabt, wo Sie passen mussten, wo Sie sagen mussten, wir haben keine Ahnung, was diese Krankheit sein könnte?

Mundlos: Ich bin natürlich kein Experte für seltene Erkrankungen und das gibt es ja nun gar nicht. Bei fünf bis 8000 seltenen Erkrankungen gibt es ja den spezifischen Experten gar nicht. Ich bin sozusagen nur die Möglichkeit, eine Recherche zu machen und Zeit zu haben dafür. Ich bekomme diese Anfragen und schaue sie mir an, versuche, das ein bisschen dann einzugrenzen, was die Symptomatik betrifft, um dann einen Experten anzusprechen.

Und natürlich ist es nicht so, dass wir allen Anfragen gerecht werden können und helfen können. Es ist eigentlich so: Vermeintlich einfach ist es, wenn die Diagnose schon gestellt ist zu einer seltenen Erkrankung und es dann darum geht, eben eine spezifische Frage zu beantworten. Das hatte ich bei einer jungen Patientin, die eine seltene Bindegewebserkrankung hat. Da ging es um die Frage, soll ein weiteres Mal operiert werden, was können die Nebenwirkungen sein, die Nachwirkungen. Über eine Mitgliedsorganisation bei der ACHSE, die diese Erkrankung vertritt, haben wir dann Experten gesucht, waren im Norden von Berlin, die Eltern sind mit dem Kind hingereist, es wurde das ganze geklärt, sie wurde noch erneut operiert und das ganze ist geglückt. Das ist etwas, was dann gut läuft.

Was ich jetzt auch hatte und was mich im Nachhinein auch sehr berührt hat, ist: Wir hatten eine Patientin mit einem erwachsenen Sohn, der eine seltene neurologische Erkrankung hat, sehr gut therapeutisch eingestellt ist, was Krankengymnastik betrifft, das hat alles gut funktioniert. Die sind umgezogen innerhalb von Deutschland, dann ist ihnen sozusagen die krankengymnastische Therapie weggebrochen, die notwendig war. Sie haben das hier in Berlin, sie sind nach Berlin gezogen, wieder aufbauen können und es lief.

Und dann habe ich eine erneute Anfrage von einem Kinderarzt zu demselben Syndrom bekommen bei einem praktisch Neugeborenen. Die Eltern völlig verzweifelt, weil sie mit der Erkrankung nichts anfangen konnten, und diese Betroffenen habe ich dann zusammenführen können und jetzt können die neu betroffenen Eltern sozusagen von der Expertise der Mutter und des Sohnes, der erwachsen ist, profitieren, die mit dieser Krankheit schon länger leben. Das sind natürlich Sachen, die liegen uns sehr am Herzen, weil das heißt im Endeffekt für unsere Arbeit auch Hilfe zur Selbsthilfe, und wenn wir dabei unterstützen können, ist das natürlich auch toll.

Frenzel: Sind denn alle Fälle, die Sie da vorliegen haben, auch wirklich seltene Krankheiten, oder ist das manchmal einfach nur eine mangelhafte Diagnose eines Arztes gewesen?

Mundlos: Das ist genau das Problem, was uns auffällt in unserer Arbeit. Wir bekommen ja auch nun viele Anfragen, wo die Diagnose einfach unklar ist und wir aber irgendwie schon erkennen können im Laufe der Zeit, das wird wahrscheinlich auch nie was seltenes werden. Es ist ja nun nicht nur ein Problem natürlich für die seltenen Erkrankungen, dass Mediziner wenig Zeit haben im Alltag, sich länger, sehr lange, ausgiebig mit einzelnen Dingen zu beschäftigen, sondern das ist natürlich auch ein Problem bei den häufigen Erkrankungen. Und es passiert natürlich immer wieder, dass wir sagen, das hier wird nie was Seltenes werden. Aber dennoch versuchen wir, Experten zu finden, die sich dann dem Problem noch mal annehmen, um auch diesem Patienten zumindest ein bisschen Unterstützung zu geben.

Frenzel: Vielen Dank, Christine Mundlos, für das Gespräch.

Mundlos: Danke schön!

Frenzel: Und wenn Sie mehr über die Arbeit, mehr über seltene Krankheiten und was man dagegen tun kann erfahren möchten, dann schauen Sie auf die Website der Allianz: ACHSE-online.de ist die Adresse.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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