Medizin im Holocaust

Wie stark Ärzte an NS-Verbrechen beteiligt waren

Symbolfoto: Vier Ärzte und eine Krankenschwester während einer Operation in den 1930er Jahren
Ausgebliebene Entnazifizierung: Viele Mediziner haben im Nationalsozialismus das menschenverachtende System unterstützt und konnten nach 1945 weiter Karriere machen. © picture alliance / imageBROKER / our-planet.berlin
17.11.2023
Hunderttausende Menschen wurden im Zweiten Weltkrieg gegen ihren Willen sterilisiert oder als medizinische Versuchspersonen missbraucht. Täter waren Ärztinnen und Ärzte. Sie standen der NS-Ideologie näher, als bislang angenommen.
Menschen in Gesundheitsberufen hatten in der NS-Zeit einen großen Anteil daran, die nationalsozialistische Rassenlehre, den Antisemitismus und die Diskriminierung von Menschen gesellschaftlich zu legitimieren. Das ist das Ergebnis eines jüngst erschienenen Berichts der Lancet-Kommission zu Medizin, Nationalsozialismus und Holocaust. Ärztinnen und Ärzte hatten demnach eine Schlüsselrolle bei der Planung und der Umsetzung unmenschlicher Praktiken.

Wie viele Ärzte waren an den NS-Verbrechen beteiligt?

Je nach Region waren zwischen 55 und 60 Prozent der Mediziner in Deutschland Mitglied der NSDAP, der SA oder der SS. Mehr als die Hälfte der Mediziner stand der NS-Ideologie nah und richtete ihre Arbeit danach aus.
Die Menschenexperimente und Zwangsterilisationen wurden von medizinischen Fachpersonal ausgeführt – in Krankenhäusern oder auf Krankenstationen in Konzentrationslagern. Der Bericht der Lancet-Kommission belegt, dass es nicht Einzeltäter waren, wie der berüchtigte KZ-Arzt Josef Mengele, die das menschverachtenden System des Nationalsozialismus stützten, sondern eine breite Masse.
Tatsächlich gab es einige wenige Ärzte, die sich weigerten, kranke Patienten zu quälen oder zu töten. Konsequenzen für die Mediziner hatte das meistens nicht. Insofern war es durchaus möglich, eine andere Entscheidung zu treffen.
Allerdings zeigt sich rückblickend, dass der Widerstand gering war. In allen renommierten Institutionen, etwa dem Robert-Koch-Institut oder der Charité in Berlin, arbeiteten überzeugte Nationalsozialisten im weißen Kittel. Sie hatten keine moralischen Bedenken, beispielsweise KZ-Häftlinge als Testpersonen für Impfstoffe zu missbrauchen und ihren Tod für die Forschung in Kauf zu nehmen.

Wer waren die Opfer der Mediziner im Holocaust?

Zwischen 310.000 und 350.000 Menschen sollen gegen ihren Willen sterilisiert worden sein, weil ihr Leben als “lebensunwert“ galt. Das betraf vor allem Kinder und Erwachsene mit Behinderung und Menschen mit psychischen Krankheiten. Wer den Eingriff überlebte, hatte ein lebenslanges Trauma und häufig mit schweren körperlichen und psychischen Probleme zu kämpfen.
Mindestens 230.000 Menschen mit Behinderung wurden im Zuge des „Euthanasie-Programms“ getötet. Es war ein Massenmord an Menschen mit körperlichen oder psychischen Einschränkungen. Darüber hinaus wurden Zehntausende Menschen als Forschungsobjekte missbraucht.
Außerdem wurden Leichen von Menschen, die im KZ ermordet worden waren, in die Forschungsinstitute transportiert, damit Studierende und Professoren daran arbeiten konnten. Der österreichische Anatom Eduard Pernkopf, ein glühender Nazi, der mit Hakenkreuz unterschrieb und der SA angehörte, fertigte anatomischen Zeichnungen von ermordeten Juden an.
Pernkopfs „Anatomieatlas“ erschien erstmals 1937 und wurde nicht nur zur NS-Zeit hochgeschätzt. Das Buch wird wegen seiner detaillierten Zeichnungen noch heute genutzt.

Warum waren Mediziner für die NS-Ideologie empfänglich?

Unter der Nazi-Herrschaft sollte der deutsche „Volkskörper“ gestärkt werden, um ihn dafür vorzubereiten, ein "tausendjähriges Reich" zu errichten. Hier spielte die nationalsozialistische Rassenlehre eine entscheidende Rolle.
Der krude Gedanke dahinter: Das deutsche Volk sei allen anderen Rassen überlegen. Daher müsse das "deutsche Blut" reingehalten werden und dürfe sich nicht vermischen.
Um dies zu erreichen, wurden Juden zunächst gesellschaftlich geächtet, ausgeschlossen und schließlich verhaftet und ermordet. Kranke und Menschen mit Behinderung sollten in der NS-Ideologie ebenfalls an der Fortpflanzung gehindert oder getötet werden. Diese Aufgabe übernahmen Mediziner.
Professor Ferdinand Sauerbruch unterhält sich mit Medizinstudenten im Hörsaal der Charite in Berlin, Deutschland ca. 1935.
Professor Ferdinand Sauerbruch arbeitete und lehrte an der Charité: Er war der berühmteste Chirurg seiner Zeit und überzeugter Nationalist.© picture alliance / United Archives / United Archives / kpa / Grimm
Die Eugenik – oder auch Erbgesundheitslehre – hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa und den USA viele Anhänger unter Wissenschaftlern. Die Idee dahinter ist, dass sich nur die Menschen mit den besten Genen fortpflanzen sollten, um den bestmöglichen Menschen zu schaffen. Diese wurde von den Nazis dankbar aufgenommen, da sie eine deutsche „Herrenrasse“ anstrebten.
In ihrer nazistischen Ideologie hatten Menschen mit Behinderungen oder Krankheiten darin genausowenig Platz wie Juden, Sinti oder Roma. Ethische Bedenken, für die Wissenschaft Experimente an Menschen durchzuführen, gab es kaum, da die Forscher in einem gesellschaftlichen Klima lebten, in dem das Leben vieler Menschen als wertlos betrachtet wurde.

Was ist die Lancet-Kommission?
„The Lancet“ ist eine medizinische Fachzeitschrift. Die Chefredaktion setzt eine Kommission für verschiedene Fachbereiche ein, die ihre Forschungsergebnisse in dem Blatt publizieren. Seit 2020 erforscht ein internationales Team, dem unter anderem Medizinhistoriker und Ärzte angehören, wie medizinisches Fachpersonal, darunter Ärzte und Pflegekräfte, die NS-Ideologie während des Holocaust mitgetragen hat.
Am 9. November veröffentlichte die Lancet-Kommission zu Medizin, Nationalsozialismus und Holocaust ihren Bericht über die menschenverachtenden Gräueltaten, die in Krankenhäusern und auf Krankenstationen in Konzentrationslagern begangen wurden. Sie stützt sich dabei auf 878 Quellen. Das Autorenteam setzt sich dafür ein, dass die Ergebnisse der Studie auch in der Lehre eingesetzt werden. Sie soll Ärztinnen und Ärzten ihre hohe Verantwortung vor Augen führen und sie dazu ermutigen, stets nach ethischen Grundsätze zu handeln.

Warum sind die NS-Verbrechen heute noch relevant?

Die Ergebnisse der Lancet-Kommission zeigen, dass große Teile der Ärzteschaft, mehr als bisher angenommen, in die NS-Verbrechen verstrickt war. Zwar wurden einige wenige Ärzte in den Nürnberger Prozessen verurteilt, die meisten Mediziner, die Verbrechen begangen hatten, wurden indes nie angeklagt.
Die medizinischen Forschungsinstitute und Krankhäuser haben erst Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs begonnen, ihre Geschichte aufzuarbeiten. So hatten ihre Taten für die allermeisten Beschäftigten im Gesundheitssektor keine Konsequenzen. Sie konnten nach 1945 weiter in ihrem Beruf arbeiten und Karriere machen.
Nicht so die Überlebenden der medizinischen Experimente. Sie haben bis heute keine Entschädigung erhalten, wissen nicht, welche Substanzen ihnen injiziert worden sind und haben das Vertrauen zu den Menschen verloren, die aufgrund ihrer Profession eigentlichen anderen Menschen helfen sollen.
Mediziner, das hat der Lancet-Bericht deutlich gezeigt, haben eine große Macht und tragen eine hohe Verantwortung. Ihr Tun hat Einfluss auf die Gesellschaft. Auch heute noch stehen sie vor ethischen Fragen, etwa wenn es um Operationen oder Sterbehilfe geht.
Aus der Vergangenheit entstehe Verantwortung für unser jetziges Handeln, sagte Jürgen Dusel, Beauftragter der Bunderegierung für die Belange von Menschen mit Behinderung, bei der Vorstellung des Lancet-Berichts. Sechs Millionen Juden wurden im Zweiten Weltkrieg ermordet. Hunderttausende wurden Opfer medizinischer Eingriffe und menschenverachtender Experimente. „Wir dürfen nicht vergessen, hinter jeder Zahl steht eine Person. Unsere Verantwortung endet niemals, das ist Teil unserer Geschichte. Wir dürfen nicht vergessen, alles zu tun, damit so etwas nie wieder passiert.“

rey
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