Lag-Baomer-Katastrophe am Berg Meron

Orthodoxe warnten vor Verantwortungslosigkeit

07:58 Minuten
Eine israelische Flagge, die vor brennenden Kerzen weht, ist an die alte Stadtmauer von Jerusalem projiziert. Davor sind die Silhouetten von zweit orthodexen Männern zu sehen. Am 2. Mai hat Israel einen nationalen Trauertag für die Opfer einer Massenpanik während des Lag-BaOmer-Festes am Berg Meron ausruft. Das tödliche Gedränge am Berg Meron im Norden Israels ist eine der schlimmsten Katastrophen in Friedenszeiten seit der Gründung der Nation im Jahr 1948.
Pnina Pfeuffer bemängelt, dass die schuldigen Politiker und Funktionäre sich jeder Verantwortung entziehen, während traumatisierte Orthodoxe ihre Toten begraben. © AFP / Ahmad Gharabli
Von Igal Avidan · 07.05.2021
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45 Menschen sind während der Lag-Baomer-Feier bei einer Massenpanik umgekommen, Dutzende wurden verletzt. Es ist eine der größten israelischen Katastrophen in Friedenszeiten, obwohl Orthodoxe bereits seit Jahren vor dem Gedränge am Berg Meron warnen.
Der junge orthodoxe Israeli Issachar Zalmanovitz nahm in den vergangenen Jahren mehrmals am jährlichen Fest am Berg Meron teil. Wenn er darüber erzählt, gerät er ins Schwärmen.
"Jeder, der den Berg Meron kennt, weiß, dass je höher man hinaufläuft, desto mehr verlieren die Beine den Kontakt mit dem Boden. Man schwebt unkontrolliert in einem Meer von Menschen. Es ist beeindruckend: Diese Energie, die Ekstase und die Musik auf dem Berg, die fast 48 Stunden ununterbrochen spielt und mit dem Gebet vermischt wird", sagt er.
"Und überall werden Essen und Getränke angeboten – das ist ein tiefes spirituelles und religiöses Erlebnis. Mehrmals war ich in den letzten Jahren dort, fühlte mich wegen des Andrangs aber irgendwann unsicher. Ich habe so eine Angst, dass ich nicht mehr hinfahre."
Issachar Zalmanovitz ist Reporter des orthodoxen Radiosenders Kol BaRama. Sein Kollege Arie Erlich warnte bereits vor drei Jahren vor dem schmalen Gang, der aus dem Hof der Chassidim Toldot Aharon führt.

Ein gefährlicher schmaler Gang

Der Engpass birgt die Gefahr, im Gedränge der Massen erdrückt zu werden, twitterte Ehrlich und forderte, einen breiteren Ausgangsweg anzulegen. Genau dort starben in der letzten Woche 45 Menschen.
Issachar Zalmanovitz erklärt den Ablauf der Zeremonie am Berg Meron.
"Um das Grab des Rabbiners Shimon Bar Jochai entfachen orthodoxe Juden Feuer zum Andenken an ihn, indem sie mit einer Fackel in Öl getränkte Stoffreste in einer großen Metallschale in Flammen setzen. Auf dem Dach direkt über der Grabstätte entzündet seit 200 Jahren der Rabbiner der Bojan-Chassidim das erste und wichtigste Feuer. Daran nehmen bis zu 30.000 Menschen teil", berichtet er.
"Der sephardische und der aschkenasische Oberrabbiner sowie Dutzende Rabbiner anderer orthodoxer Gruppen entfachen weitere Feuer. Das Fest endet mit dem Anzünden der zwei rivalisierenden chassidischen Dynastien: Toldot Aharon und Toldot Avraham Jitzhak. Jährlich finden 30 bis 50 solche Feuer statt. In diesem Jahr wurde wegen Corona die Zahl auf zehn reduziert, nicht jedoch die Zahl der Teilnehmer."
Die Zeremonie gleicht einer großen orthodoxen Open-Air-Party.
Mitte April bekam Issachar Zalmanovitz Ärger vom Direktor des Zentrums für die Entwicklung heiliger Stätten, das zum Religionsministerium gehört. Der Reporter twitterte, dass der Direktor Yossi Schwinger – noch nicht öffentlich – gefordert hatte, den Zugang zum Fest in Meron zu beschränken, was die Polizei aber ablehnte.

"Wir sind wütend auf die orthodoxen Politiker"

Schwinger forderte über seine Anwälte eine Entschuldigung von Zalmanovitz und umgerechnet 25.000 Euro als Entschädigung – eine leere Drohung. Als Sprachrohr der Orthodoxen sieht sich Issachar Zalmanovitz nun in seiner Kritik bestätigt.
"Wir sind wütend auf die orthodoxen Politiker, weil wir, um unsere religiöse Pflicht zu erfüllen, als gläubige Juden zum Gebet nach Meron kommen und heil nach Hause zurückkehren wollen, ohne Leichen (nach Hause) mitbringen zu müssen. Diese Katastrophe war die Folge daraus, dass die Orthodoxen jahrelang die Sicherheitsvorkehrungen ignorierten und die Polizei ausschließen wollten, aber selbst nicht in der Lage waren, für Sicherheit zu sorgen. Die Orthodoxen erkennen inzwischen, dass ihre Funktionäre, die angeblich für uns arbeiten, die Schuld an dieser Katastrophe tragen."
Es waren vor allem die aschkenasisch-orthodoxen Parlamentarier, die in diesem Jahr eine Begrenzung der Teilnehmerzahl wegen des zuvor erfolgten strengen Lockdowns ablehnten. Es sollte eine Wiedergutmachung für die Entbehrungen des letzten Jahres sein. Über Sicherheitsbedenken sprach niemand.

Geplant als orthodoxer Schlussakt der Pandemie

Die orthodoxe Aktivistin Pnina Pfeuffer wirft den orthodoxen Politikern vor, sie hätten Macht und Prestige über die Sicherheit ihrer Gemeinden gestellt.
"Schon in der Coronapandemie stellten diese Politiker, aber auch die orthodoxen Rabbiner, die strengreligiöse Lebensart über das Einhalten der gesundheitlichen Einschränkungen", sagt sie.
"Versammlungen bilden den Kern des orthodoxen Alltags – in der Synagoge, der Gebetsstube und der jährliche Höhepunkt ist am Berg Meron. Im letzten Jahr hat die Coronapandemie dies schwer beeinträchtigt. Daher planten sie die diesjährige Ansammlung am Berg Meron als den orthodoxen Schlussakt der Pandemie, wofür die Orthodoxen ihrer Führung dankbar sein sollten."

Der Berg ist zu einer Goldgrube geworden

Aufgrund von Sicherheitsmängeln ordnete bereits 2008 der Bürgermeister des Landkreises die Schließung des heiligen Ortes an. Die orthodoxen Pilger kamen dennoch in Scharen – auf Anweisung ihrer Politiker.
Fünf Jahre später, im Jahr 2013, verstaatlichte der damalige Finanzminister Yair Lapid die Grabstätte, um entsprechende Sicherheitsmaßnahmen zu ermöglichen. Doch die dortige Religionsschule klagte dagegen und das Oberste Gericht kassierte die Verstaatlichung drei Jahre später.
Die orthodoxe Aktivistin Pnina Pfeuffer erklärt das: "Zurzeit streiten sich die Orthodoxen über die Frage, ob man diese heilige Stätte verstaatlichen soll. Die meisten Chassidim sind dagegen. Der Kampf ist heftig, denn dieser Berg ist zu einer Goldgrube geworden. Allein in diesem Jahr gab die Regierung umgerechnet knapp vier Millionen Euro für das Fest aus."

Aktivistinnen und Aktivisten setzen Politik unter Druck

Pnina Pfeuffer bemängelt, dass die schuldigen Politiker und Funktionäre sich jeder Verantwortung entziehen, während traumatisierte Orthodoxe ihre Toten begraben, Sie lobt hingegen die orthodoxen Aktivisten, Publizisten und freien Blogger, die einen gewissen Einfluss auf die eigenen Politiker ausüben.
"Möglicherweise werden ausgerechnet einige orthodoxe Journalisten den Aufruf nach einer Untersuchungskommission führen. Ich bin überrascht, dass sie alle mit einer Stimme sprechen", sagt sie.
"Denn manche stehen dem Innenminister sehr nah. Wenn wir in die nächsten Parlamentswahlen hineinschlittern, wird die Katastrophe schnell vergessen. Aber wenn eine neue Regierung stünde, deren Minister keine Verantwortung für diese Katastrophe haben, wird eine Untersuchungskommission einberufen und die Schuldigen werden den Preis bezahlen."
Man kann nur hoffen, dass die schwerste zivile Katastrophe in Israel manche Orthodoxen dazu bewegen wird, selbst für ihre Sicherheit zu sorgen, statt blind ihren Rabbinern zu folgen.
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