"Lärm" von Guy Helminger

Wenn die Wahrheit übertönt wird

06:09 Minuten
Das Cover zeigt Buchtitel und Autorennamen, "Lärm" von Guy Helminger.
© Capybarabooks

Guy Helminger

LärmCapybarabooks, Mersch 2021

328 Seiten

23,00 Euro

Von Jérôme Jaminet · 09.02.2022
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"Lärm" ist Denksport für Fortgeschrittene. In einer wilden Mischung aus Essay und Rätselkrimi geht es um einen potenziellen Terroristen. Gefragt wird, ab wann auch ein Mann des Wortes zu den Waffen greift.
So viel steht fest: Konrad Schnittweg, 68, Psychotherapeut, ist verschollen. Seine Praxis abgebrannt. Zuvor wurde ein Drohbrief gegen europäische Politiker in seinem Namen an die Medien geschickt. Der Rest ist Mutmaßung, ist Dichtung und Halbwahrheit.
Eine Autorenfigur namens Guy Helminger hat aus fiktiven Zeitungsartikeln und Zeugenaussagen, Therapieprotokollen und Tagebuchnotizen, Archivdokumenten und transkribierten Audio-Aufnahmen eine Textcollage gemacht, die man am besten im Konjunktiv liest.

Jeder verfolgt eine eigene Agenda

Der ermittelnde Polizeibeamte könnte befangen sein. Der Boulevardjournalist könnte die Fakten medienwirksam verbogen haben. Verwandte, Freunde, Patienten und frühere Wegbegleiter des abwesenden Protagonisten könnten eine eigene Agenda verfolgen. Alle Personen, die sich in der Causa Schnittweg zu Wort melden, leiden am Pippi-Langstrumpf-Syndrom, machen sich die Welt, wie sie ihnen gefällt.
Der titelgebende Lärm entsteht in diesem überaus komplexen Roman durch die Kakofonie der Stimmen. Äußerungsfragmente sind wie Puzzleteile über das ganze Buch verstreut, einige passen schlecht zusammen, andere fehlen ganz.

Alles hängt mit allem zusammen

Schnittwegs fremderzählte Identität ist letztlich Flickwerk. Bleibt die allgemeine Frage: Was wissen wir wirklich über andere? Und: Ist die Wahrheit als solche erkennbar? Als investigativer Leser gewinnt man jedenfalls über die Strecke von 328 Seiten den Eindruck, dass irgendwie doch alles mit allem zusammenhängt. Wie schon in Helmingers vorigem Roman „Die Lombardi-Affäre“. Und wie dieser ist „Lärm“ ein eminent politisches Buch, das ideen- und realgeschichtlich weit ausholt.
Immer wieder geht es um die Mont Pèlerin Society, die sogenannten Chicago Boys und andere Brutstätten der wirtschaftsliberalen Ideologie, um die Diktatur in Chile unter Pinochet, die Folterpraktiken in der „Colonia Dignidad“, einer deutschen Sektensiedlung und deren Rolle im internationalen Waffenhandel. Aber auch um die griechische Staatsschuldenkrise, um Freihandelsverträge und Wirtschaftsflüchtlinge.

Primat der Wirtschaft über die Politik

Die Traumata seiner Patienten hätten Konrad Schnittweg verdeutlicht, was Nationalismus, Neoliberalismus und Fanatismus anrichten können, heißt es an einer Stelle.
An einer anderen streiten er und sein anarchistischer Freund Guido Immertal darüber, wie man auf die Entmündigung der Bürger angemessen reagieren könne, auf das Primat der Wirtschaft über die Politik, auf den flagranten Widerspruch zwischen westlichen Werten und einem neoliberalen Handeln, das lukrative Geschäftsbeziehungen über Menschenrechte stelle. Doch während der eine noch an demokratischen Mitteln des politischen Widerstands festzuhalten scheint, ruft der andere bereits die Revolution aus.

Konrad Schnittweg ein linksradikaler Attentäter?

Guy Helminger treibt die Frage um, wie sich die Radikalisierungstendenzen in der Gesellschaft erklären lassen. Ab wann schwört auch ein Mann des Wortes dem Dialog ab und lässt die Waffen sprechen? Ist Konrad Schnittweg ein linksradikaler Attentäter in spe?
Die Antworten bleiben in der Schwebe, wie so vieles in diesem klugen literarischen Vexierspiel. Die epistemischen, politischen und moralischen Fragen, die hier gestellt werden, gehen uns alle etwas an. Wir sollten sie nicht ignorieren.
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