Kurzgeschichten

Bedächtige Beobachtungen

Strand in Hampton Bays am östlichen Ende von Long Island
Strand in Hampton Bays am östlichen Ende von Long Island © Bild: dpa / picture alliance / Peter Foley
Von Carsten Hueck · 10.12.2013
Maeve Brennans feine Geschichten wurden in den 1960er-Jahren veröffentlicht, verströmen aber eine zeitlose Melancholie. Ihr Schauplatz ist zumeist der Meeresstrand des nahe New Yorks gelegenen East Hampton.
Mary Ann Whitty führt ihren Hund spazieren. Bluebell ist eine in die Jahre gekommene, schwarze Labradorhündin. Am Strand von Long Island verschreckt sie die Möwen und tollt mit Kindern herum, wühlt im Sand und jagt ins Meer rollenden Bällen nach, "ganz sie selbst, eine einsame Genießerin mit einem großen, ernsten, mutigen Kopf und einem Vorrat an Gleichmut."
Der Labrador ist die Hauptfigur der sechs Kurzgeschichten in Maeve Brennans "Bluebell". Die irischstämmige nordamerikanische Autorin, 1993 gestorben und über zwei Jahrzehnte Mitarbeiterin der legendären Zeitschrift The New Yorker, war berühmt für die Sensibilität und die Intelligenz, den Witz und den Stil ihrer Essays, Kurzgeschichten, Kritiken und Kolumnen.
Ihre Figur Mary Ann Whitty trägt autobiografische Züge. Sie bewohnt mit einigen Katzen und Bluebell - über dem Klappentext des schmalen Bändchens ist ein Foto der Autorin mit einem Labrador abgebildet - ein kleines Cottage am Atlantik. In der Nähe gibt es einen Golfplatz und "ein ungeheuer klobiges Haus, mit Hunderten von Sprossenfenstern", in dem Whitty mindestens 80 Zimmer vermutet, "das Schloss eines Riesen".
Sieben Kinder leben dort, Bluebell ist mit ihnen befreundet. Doch trotz selbstverständlicher Begegnungen verbleiben die Menschen, Tiere und Dinge in diesen Geschichten in einem unaufhebbaren Zustand der Einsamkeit.
Das vitale Sein des Vierbeiners
Bis auf eine Geschichte wurden alle in den 1960er-Jahren veröffentlicht. Nun liegen sie zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vor. Ihr Schauplatz ist einmal das sommerliche New York, ansonsten der Meeresstrand des nahe gelegenen East Hampton. Jede Geschichte verströmt eine zeitlose Melancholie. Das liegt an Brennans feinen Naturschilderungen, der gleichmütigen Beobachtung wechselnder Jahreszeiten und des Wirkens der Elemente.
Aber auch an ihrer Aufmerksamkeit für kleine Details. Wie nebenbei erzeugt die Autorin eine Stimmung der Vergeblichkeit: Sie beschreibt die Reanimation einer vom Sand begrabenen Biene oder die beharrliche Hoffnung eines kleinen Mädchens, am amerikanischen Unabhängigkeitstag mit einem aufgeweichten Streichholzbriefchen ein Feuerwerk zu entzünden.
Die Kreatürlichkeit der Hündin, das selbstverständliche, vitale Sein des vierbeinigen Wesens kontrastiert mit den bedächtigen Beobachtungen und stark reduzierten Handlungen der Frau. Gegenseitige Zuneigung ist spürbar, vielleicht auch die Sehnsucht, sich einander anzuverwandeln. Es ist die Sehnsucht des modernen Menschen, aufgehoben zu sein in der Welt. Und vielleicht die Sehnsucht des domestizierten Hundes, ein bisschen mehr zu verstehen von dem, der ihm ein Zuhause gibt.
Die letzte der Geschichten "Ein Tagtraum" stammt aus dem Jahr 1976. Noch einmal werden Strand, Dünen und das Haus in East Hampton mitsamt Bluebell und den Katzen beschrieben. "Einen milden Anfall von Heimweh" nennt die Autorin diesen Tagtraum. Damals lebte sie, von schizophrenen Schüben heimgesucht, allein und verarmt in einer Abstellkammer des New Yorker. Heimweh nach Verbundenheit und Aufgehobensein aber ist in allen Geschichten dieses schmalen Bandes spürbar.

Maeve Brennan: Bluebell
Aus dem amerikanischen Englisch von Hans-Christian Oeser
Steidl Verlag, Göttingen 2013
109 Seiten, 16 Euro

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