Kurze und pointierte Interviews

Rezensiert von Brigitte Neumann · 01.02.2009
Die in diesem Buch zusammengefassten "Zeit"-Gespräche zeigen Helmut Schmidt als offenen, humorvollen Menschen. Gelegentlich frotzeln sich der ehemalige Bundeskanzler und Chefredakteur Giovanni di Lorenzo an. Da ist aber keine Spur von "kokettierender Verachtung" des Politikers gegenüber den um Jahrzehnte jüngeren Journalisten.
"Ich habe oft mit ihm darüber gesprochen: Warum sind Sie so beliebt? In einem Interview, was wir gerade geführt haben, hat er gesagt: Ich fürchte, die Erklärung ist kein Kompliment für die herrschende politische Klasse. Je mehr Sehnsucht entstehen kann nach Autorität, nach Menschen, die glaubwürdig und verlässlich sind, desto mehr hängen die Leute offenbar an den Auskünften eines – wie er es selber von sich sagt – alten Mannes mit weißen Haaren."

Giovanni di Lorenzo, der seit eineinhalb Jahren mit Helmut Schmidt kurze und pointierte Interviews für das "Zeit"-Magazin führt, hat darin querbeet alles thematisiert: Gedichte von Storm, Ratschläge des römischen Kaisers Marc Aurel, die Rente, Bach und Schmidts Körperhygiene. Da ist es fast zwangsläufig, dass auch mal das Thema Schmidt-Witze aufs Tapet kam. Überraschung: Es gibt sie. Hier einer davon:

Helmut Schmidt kommt in die Hölle, und als Luzifer ihn sieht, fühlt er sich so geehrt, dass er sagt: "Lieber Helmut Schmidt, jetzt haben Sie einen Wunsch frei, von mir aus können Sie sogar in den Himmel." Schmidt entgegnet: "Haben Sie mal Feuer?"

Der Witz ist kein Kracher. Aber er zeigt alles, was den Helden auszeichnet: Coolness, Unerschrockenheit, Kultstatus, Chuzpe und Sucht. Helmut Schmidt raucht, seit er 17 ist. Und will seinem Chefredakteur tatsächlich weismachen: "Wenn ich es für notwendig hielte, könnte ich morgen aufhören." Der daraufhin: "Das sagen alle Süchtigen."

In diesem Moment hält der Leser den Atem an, fürchtet er doch eine saftige Retourkutsche. Aber nichts geschieht. Schmidt, der für Journalisten meist eine Art "kokettierender Verachtung" übrig hat, wie es Kurt Kister von der "Süddeutschen" einmal beschrieb, bleibt liebenswürdig und antwortet:

"Ich könnte das, aber es ist ja nicht notwendig. Weder gesundheitlich, noch seelisch, noch philosophisch."

Seine Gefäße seien inzwischen hinreichend auszementiert, sagt der 90-Jährige, der nach mehreren Infarkten fünf Bypässe und einen Herzschrittmacher in der Brust trägt.

Schmidts Raucherei ist ein vieldeutiges Symbol. Es sagt uns: Hier hat einer keine Angst sich. Denn es gibt Wichtigeres: die Aufgabe! Weiter: Hier steht einer über den Moden! Und genießt es womöglich auch, die Mehrheitsmeinung herauszufordern, indem er immer und überall mit einer brennenden Zigarette erscheint: Konsens war für ihn noch nie ein Ziel an sich!

Giovanni di Lorenzo:
"Helmut Schmidt hat ein Kapital, das er nie angetastet hat, geschweige denn verbraucht hat: Er ist glaubwürdig. Und er verkörpert eine Sehnsucht, die nicht ganz unberechtigt ist: Gäbe es mehr Schmidts heute noch in der Politik, würden manche Probleme auch besser angepackt werden."

In einem Interview mit NDR-Programmdirektoren im Jahr 2003 sagte Helmut Schmidt:

"Ich glaube, dass ich immer versucht habe, dass zu sagen, was ich dem Augenblick dachte, das zutraf und wahr gewesen ist. Auch unbequeme Wahrheiten habe ich nicht verschwiegen. Ob das zu der von Ihnen so genannten Popularität beigetragen hat, mag so sein. Vielleicht nachträglich."

Anders als das Einstunden-Gespräch mit Volker Herres und Joachim Knuth, das unter dem Titel "Bilanz eines großen Staatsmannes" als Hörbuch auf dem Markt ist, zeigen die "Zeit"-Gespräche Schmidt als offenen, humorvollen Menschen. Da ist keine Spur von "kokettierender Verachtung" gegenüber dem 40 Jahre jüngeren Chefredakteur. Man frotzelt sich gelegentlich zärtlich an. Zum Beispiel, wenn Schmidt auf di Lorenzos Frage:
Jetzt sind Sie schon fast 25 Jahre bei der "Zeit". Sind Sie inzwischen wenigstens ein bisschen Journalist? antwortet: "Ich fürchte nicht, und wissen Sie warum? Weil ich es mir einfach nicht abgewöhnen kann, gründlich zu arbeiten."

Die Zigaretteninterviews fanden meist freitags nach einer Redaktionskonferenz im stets gut gelüfteten Zimmer des Chefredakteurs statt. Schmidt war von di Lorenzo vorab über das Thema informiert worden, konnte sich also darauf vorbereiten. Vor Drucklegung bekam Schmidt den Text zur Autorisierung.

"Die Idee war eigentlich von Anfang an so. Nur, dass wir uns am Anfang ein bisschen steifer noch unterhalten haben. Also erst mit der Resonanz, die wir bei den Lesern und Leserinnen gefunden haben, haben wir erst diese Form gefunden, die immer eine Mischung war. Jedes Gespräch sollte im Idealfall eine Mischung sein aus Persönlichem, Biografischem, es sollte ein geschichtlicher Rückblick möglich sein. Und dann natürlich auch politisches Streiflicht, das ist immer dabei bei Helmut Schmidt. Das geht gar nicht anders."

Helmut Schmidt ist der Berühmteste aus der Riege älterer Herren, die gerade eine unheimliche Renaissance erleben. Unheimlich deshalb, weil viele Menschen mit Blick auf deren Beispiel ermessen können, wie sehr, wie schnell sich die Welt in den letzten 40 Jahren verändert hat. Zu Schmidts politisch aktiver Zeit galten andere Maßstäbe, andere Persönlichkeiten waren am Ruder. Vielleicht lassen sie sich ganz zutreffend mit der vom Soziologen David Riesman gefundenen Kategorie "innengeleitet" bezeichnen. Wenig auf Anerkennung angewiesen, ordnen sie alles dem Erreichen selbst gesteckter Ziele unter.

Heute dominiert der außengeleitete Typ, auch in der Politik: Ihn zeichnet große Flexibilität aus. Teamorientierung. Pragmatismus. So einem wie Helmut Schmidt muss das verdächtig vorkommen. Auf einem Ärztetag soll er gesagt haben, seit zehn Jahren habe er vor der Finanzkrise gewarnt, und als sie dann kam, hätte Europa reagieren müssen. Konnte es aber nicht, weil niemand da war.

Niemand mehr da. So sieht es aus Helmut Schmidts Perspektive aus.

Helmut Schmidt/Giovanni di Lorenzo:
Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt

Kiepenheuer & Witsch, Köln
Cover: "Helmut Schmidt/Giovanni di Lorenzo: Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt"
Cover: "Helmut Schmidt/Giovanni di Lorenzo: Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt"© Kiepenheuer & Witsch