Kurz und kritisch

Griechenland früher und Europa heute

Blick auf die Akropolis in Athen (Griechenland), aufgenommen am 17.10.2012. Im Vordergrund sind die Propyläen zu sehen, die den monumentalen und repräsentativen Torbau zum heiligen Bezirk der Akropolis bilden.
Nicht viel mehr als die Ruine der Akropolis stand in Athen vor Beginn der Nationalbewegung in Griechenland. © picture alliance / dpa / Sven Hoppe
09.06.2014
Woher die griechischen Vorurteile gegenüber Deutschland kommen und wie das heutige Griechenland entstanden ist, das legen zwei neue Sachbücher dar. Darüber hinaus diskutieren "linke und progressive" Intellektuelle Europas Zukunft.
Es ist ein Missverständnis. Und Schuld an ihm sind die Deutschen. Genauer gesagt, ein Deutscher, Johann Joachim Winckelmann aus Stendal, der im 18. Jahrhundert die griechische Antike als Maßstab aller Schönheit und menschlichen Vollkommenheit entdeckte. Winckelmann sah in den griechischen Bauern und Schafzüchtern ihrer Zeit die Ebenbilder Solons, Platons und Alexanders des Großen. Mit schlimmen Folgen für die Griechen selbst, meint Nikos Dimou: Deren Ego sei dadurch etwas zu groß geraten für ihr Land.
Lesart-Cover: Nikos Dimou "Die Deutschen sind an allem Schuld"
Cover: Nikos Dimou "Die Deutschen sind an allem Schuld"© Kunstmann Verlag
Dimou hat einst Philosophie in München studiert, lebt als Publizist in Athen und ist ein Kritiker der politischen Kultur seines Landes. Das Verhältnis zum Westen sieht er nicht erst seit der Finanzkrise gestört. Entscheidend waren die Spaltung zwischen römischer und orthodoxer Kirche vor fast 1000 Jahren und die Verwüstung Konstantinopels durch westliche Kreuzfahrer vor rund 800 Jahren.
Heute sind für manche Griechen Europa und Angela Merkel Inbegriffe des westlich Bösen. Dimou erklärt die historischen und mentalen Hintergründe. Als Philosoph tut er dies in der literarischen Form des Dialogs, den er mit fiktiven ausländischen Gesprächspartnern über griechische Befindlichkeiten führt. Eine lehrreiche Lektüre.

Nikos Dimou
Die Deutschen sind an allem Schuld
Kunstmann, 118 Seiten, 9,95 Euro (Ebook 7,99 Euro)

Das heutige Griechenland ist eine Schöpfung des 19. Jahrhunderts. Davor, als Untertanen des Osmanischen Reiches, nannten sich die Hellenen noch "Romäer" oder einfach "Christen". Wo heute Griechenland ist, lebten Griechen neben Albanern, Türken, Slawen. Und in Athen stand nicht viel mehr als die Ruine der Akropolis.
Lesart-Cover: Ioannis Zelepos "Kleine Geschichte Griechenlands"
Cover: Ioannis Zelepos "Kleine Geschichte Griechenlands"© C.H. Beck Verlag
Von den Anfängen dieser Nationalbewegung bis zum Beginn der Finanzkrise 2009 beschreibt der Münchener Professor Ioannis Zelepos eine "Kleine Geschichte Griechenlands". Es ist die Geschichte einer labilen politischen Existenz. Schon die Staatsgründung gelang 1830 nur mit Hilfe der Großmächte. Sie übten auch weiterhin ein robustes Patronat aus.
Wenn die Hellenen nicht spurten, blockierten britische Schiffe ihre Häfen. Nach dem Staatsbankrott 1893 überwachten internationale Kontrolleure die öffentlichen Finanzen. Patriotische Machtfantasien, militärisches Desaster, die Toten des zweiten Weltkriegs – wir wissen wenig davon. Mit seinem klar und schlüssig geschriebenen Buch hilft Zelepos, eine deutsche Bildungslücke zu füllen.

Ioannis Zelepos
Kleine Geschichte Griechenlands
Von der Staatsgründung bis heute
C.H. Beck Verlag, 240 Seiten, 12,95 Euro (Ebook 9,99 Euro)

Was fällt uns zu Europa ein: mehr als Krise, Demokratiedefizit, Brüsseler Zentralismus? Vielleicht sogar eine "fortschrittliche Vision"? Das ist die Ausgangsfrage dieses Sammelbandes, der einer Initiative der Friedrich-Ebert-Stiftung zu verdanken ist. Die Herausgeber haben 17 "linke und progressive" Intellektuelle aus zehn Ländern um Meinungsäußerungen gebeten und den Minimalkonsens im Vorwort formuliert: Wir alle wollen ein starkes, demokratisches und wohlhabendes Europa.
Lesart-Cover: : Ernst Hillebrand u.a.: "Für ein anderes Europa"
Lesart-Cover: : Ernst Hillebrand u.a.: "Für ein anderes Europa"© Dietz Verlag
Das versteht sich. Übereinstimmung besteht auch in der Diagnose. Die Autoren beschreiben das Dilemma zwischen dem durch die Finanzkrise erhöhten Integrationsdruck und der damit einhergehenden Machtverschiebung von demokratisch legitimierten auf technokratisch verfasste Institutionen. Sie beklagen, dass Europa nicht mehr für Wohlstand stehe, sondern für Deregulierung und Abbau der Sozialstandards.
Was empfehlen die versammelten Intellektuellen? Den großen Sprung in die Vereinigten Staaten von Europa mit Steuerhoheit, Zentralregierung und Finanzausgleich? Erwartungsgemäß kommen solche Vorschläge aus Spanien und Frankreich. Aus Großbritannien und den Niederlanden dagegen lesen wir Mahnungen zu einem maßvolleren Europa und mehr Respekt vor den Nationalstaaten. Und so endet die Lektüre mit der Erkenntnis, dass im linken und progressiven Milieu die Ratlosigkeit nicht geringer ist als anderswo auch.

Ernst Hillebrand, Anna Maria Kellner (Hrsg.)
Für ein anderes Europa
Beiträge zu einer notwendigen Debatte
Dietz Verlag J.H.W. Nachf, 191 Seiten, 16,80 Euro