Kurz und kritisch

Bemerkenswerte Diplomatie

Ein Exemplar der Schlussakte des Wiener Kongress aus dem Jahr 1815 im Haus-, Hof und Staatsarchiv in Wien
Ein Exemplar der Schlussakte des Wiener Kongress aus dem Jahr 1815 im Haus-, Hof und Staatsarchiv in Wien © picture alliance / dpa / Roland Schlager
06.12.2014
Weil weder eine Kriegsschuldfrage noch moralische Überheblichkeit eine Rolle gespielt hätte, sei Friede möglich gewesen, attestiert Journalist Eberhard Straub dem Wiener Kongress. Der Historiker Wolf D. Gruner betont dessen Modernität.
Der Wiener Kongress tanzte, aber er tanzte nicht nur. Der Rostocker Historiker Wolf D. Gruner nimmt die diplomatische Großveranstaltung der Jahre 1814 und 15 vor ihren Kritikern in Schutz. Sie sei modern gewesen, habe eben nicht nur restaurativ gewirkt.
Lesart-Cover: Wolf D. Gruner "Wiener Kongress 1814/15"
Wolf D. Gruner "Wiener Kongress 1814/15"© Philipp Reclam jun.
Sicher habe sie alte Dynastien und Machtstrukturen gestärkt, zugleich aber den Übergang in das Industriezeitalter ermöglicht. Die Moderne, inspiriert durch die Aufklärung, veränderte zunächst die Gesellschaft, also Bildung, Wissenschaft, Verwaltung und die Stellung des Bürgers.
Der Kongress aber habe nach den napoleonischen Kriegen neues Völkerrecht und damit eine Friedensordnung geschaffen, die kleinen und mittleren Staaten ein Gleichgewicht mit den großen erlaubte, die wiederum die großen stark und mächtig, aber nicht hegemonial sein ließ. Und sie sei flexibel genug gewesen, um auf neue Krisen diplomatisch reagieren zu können.
Auch deswegen hätte Europa Frieden gefunden, weil Preußen und Österreich sich arrangiert, Frankreich trotz der Niederlage seinen Platz erhalten und inmitten des Ganzen die deutschen Gebiete in einem eigenen Bund kooperiert hätten.

Wolf D. Gruner über den Wiener Kongress 1814/15, Philipp Reclam Verlag Ditzingen, 261 Seiten, 8,00 Euro, auch als ebook erhältlich

Eine heilsame Restauration entdeckt der Journalist Eberhard Straub im Geschehen um den Wiener Kongress. Mit der Französischen Revolution und Napoleons Kriegen sei eine lange Friedenszeit unterbrochen worden, die vom Westfälischen Frieden bis zum Ersten Weltkrieg gedauert habe. Im Wien des Jahres 1814 sei lediglich ein bereits entwickeltes Staatensystem erneuert worden.
Lesart-Cover: Eberhard Straub "Der Wiener Kongress"
Eberhard Straub "Der Wiener Kongress"© Klett-Cotta
Nicht Reaktionäre, sondern Realisten sieht er dabei am Werk. Frieden sei möglich geworden, weil weder eine Kriegsschuldfrage noch moralische Überheblichkeit eine Rolle gespielt hätte. Er kann sich sogar vorstellen, dass der österreichische Außenpolitiker Fürst Metternich gern mit dem machtbewussten Bürgerkaiser Napoleon europäische Politik gemacht hätte, wäre der Franzose nur berechenbar gewesen.
Und darin liegt für ihn das Übel, in politischer Ideologie, in diesem Fall in französischer Erziehungsdiktatur, die ihre revolutionären Ideen wie in einem Konfessionskrieg den Nachbarn aufzwingen will, die den Feind nicht respektiert, ihn total bekämpft, nicht als Partner von gestern und auch von morgen ansieht.
Deshalb hält er für bemerkenswert, dass damals Europa noch den Willen hatte, eigene Konflikte aus eigener Kraft diplomatisch zu lösen. Später nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg habe es dazu die USA gebraucht.

Der Wiener Kongress. Eberhard Straub über das große Fest und die Neuordnung Europas, Verlag Klett-Cotta Stuttgart, 255 Seiten, 21,95 Euro, auch als ebook erhältlich

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