Kurz und kritisch

Die Historiker Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael wagen in „Nach dem Boom“ eine vorläufige Analyse der jüngsten Vergangenheit. Claudia Kemfert präsentiert in „Die andere Klimazukunft“ banale Einsichten. Und der polnische Autor Andrzej Stasiuk trägt mit seinem Band „Dojczland“ nicht gerade bei zur Annäherung der beiden Länder.
Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: „Nach dem Boom – Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen

In der Nahsicht sieht man Details, in der Fernsicht Strukturen. Welche Erkenntnisse befördert die mittlere Distanz ans Licht? Diese Frage beschäftigt Zeithistoriker wie Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael. Sie wagen nun eine vorläufige Analyse der jüngsten Vergangenheit. Ihr Ergebnis: Mitte der 70er-Jahre habe sich ein dramatischer Epochenbruch ereignet; „fordistisch“ sei die Ära zuvor gewesen, geprägt vom Wandel der Schwerindustriegesellschaften in ein Massenkonsumparadies. Diesem „schwitzenden Idyll“ nahmen dann Neoliberalismus und Globalisierung den schützenden Gartenzaun fort. Die beiden Historiker sehen darin einen – auch mentalen – Strukturwandel von revolutionärer Qualität, dessen Ausläufer wir bis heute spüren können. Zeigt nicht gerade die Finanzkrise, wie sehr es uns an verlässlichen Orientierungsmustern gebricht? – Prädikat: Zeitgeschichte auf Höhe der Zeit.


Claudia Kemfert: Die andere Klimazukunft – Innovation statt Depression
Murmann Verlag, Hamburg

In der Fernsicht verliert man gern die Orientierung. Claudia Kemfert lässt den Blick sehr weit schweifen, der Klimawandel macht Visionen zum Kinderspiel. Im vorliegenden Fall leider auch im Kinderstil. Claudia Kemfert? Richtig, das ist jene Professorin am DIW, die bei jeder Ölpreisveränderung im Fernsehen verkünden darf, dass der Benzinpreis in Mitleidenschaft gezogen wird. Einsichten dieser Art prägen auch das vorliegende Buch – nebst peinlichen Selbstbespiegelungen. Mein Gott, was ist diese Frau akademisch schon herumgekommen! Oder herunter? Ihr simpler Optimismus – Klimawandel eröffnet neue Märkte – verlangt nach Mikrophonen, nicht nach bedruckbaren Seiten. Prädikat: PR-verdächtig. Bei der öffentlichen Buchvorstellung wünschte sich der Bundeswirtschaftsminister als Laudator, die Autorin möge sich doch sprachlich um die Vorlagen seines Hauses kümmern. Das ist, als erköre der Lispler einen Stotterer zum Souffleur.


Andrzej Stasiuk: Dojczland
edition suhrkamp, Frankfurt am Main

In der Nahsicht sieht man jeden Pickel auf der Haut des Nachbarn. „Man muss in Tulcea gewesen sein, um den Anblick von Frankfurt am Main bewältigen zu können”, schreibt Andrzej Stasiuk. Eine veritable Frechheit, denn das rumänische Tulcea ist ein Provinzkaff. Aber so stellt sich die Gemütslage des polnischen Schriftstellers auf seiner Lesereise durch „Dojczland“ dar: giftig, gnadenlos, gallebitter. „Ich habe nie gehört, dass sich Polen mit Deutschen angefreundet hätten. Deutsche eignen sich nicht für eine Freundschaft“, weiß der Autor. Anders seine Erinnerung an die gemütlichen Beinahe-Slaven im sozialistischen Osten: „Ich mochte die DDR. In der DDR passte mir außer den Skinheads alles.“ Sicher auch die Alkoholversorgung; noch immer führt Stasiuk stets eine Flasche Hochprozentigen mit sich. Prädikat: Nicht jeder berauschte Autor schreibt Weltliteratur. Kleiner Vermerk am Rande: Den Harz durchquert man auf der ICE-Strecke Dortmund-Berlin keineswegs. Aber geographisches Wissen verschwimmt ja mit steigender Promillezahl.


Lektüretipp von Heidemarie Wieczorek-Zeul:
Harald Schumann/Christiane Grefe: Der globale Countdown
Kiepenheuer & Witsch, Köln
Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom
Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom© Vandenhoeck & Ruprecht
Claudia Kemfert: Die andere Klimazukunft
Claudia Kemfert: Die andere Klimazukunft© Murmann Verlag
Andrzej Stasiuk: Dojczland
Andrzej Stasiuk: Dojczland© edition suhrkamp