Kurz und kritisch
In "Überflieger" geht es um erfolgreiche und weniger erfolgreiche Menschen. "Verlorene Wege" ist eine Bergbau-Historie. "Der gelernte Berliner" handelt vom Untergang Berliner Soziotope.
Malcolm Gladwell: Überflieger: Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht
Campus Verlag, Frankfurt am Main
Sie ziehen den Neid der Umwelt auf sich: IQ-Giganten und Genies. Schlauheit und Talent, so die Mär, garantieren beruflichen Erfolg. Malcolm Gladwell hat genauer hingesehen. Und siehe da: Nicht jeder Überflieger kriegt den Nobelpreis oder reüssiert als Firmengründer. Die Geburt in der richtigen Alterskohorte, ein den Talenten förderliches soziokulturelles Herkunftsmilieu und eine Vielzahl von glücklichen Umständen machen Ausnahmeerscheinungen wie Microsoft-Gründer Bill Gates erst möglich. Besonders verblüffend, dass es im Leben genügt, bestimmte Schwellen zu überschreiten. Ob einer den klassischer Akademiker-IQ von 115 hat oder ein Einstein mit 150 ist, besagt nicht viel für seinen späteren Lebensweg. 115 muss er allerdings mindestens haben, der Rest bleibt in der Regel wirkungslos. Auch wenn diese Botschaft frustriert – geburtenstarke Jahrgänge können ihre Träume gleich an den Nagel hängen –, Gladwell schreibt anschaulich, spannend, mitreißend. Amerikanischer Wissenschaftsjournalismus at it’s best.
Annett Gröschner, Arwed Messmer: Verlorene Wege
Verlag für moderne Kunst Nürnberg
Millionenzug, Grubenfusel, Schachtscheißer, Tischfachvariante und Weckbremsung ... fremd klingen die Worte in Annett Gröschners Bergbau-Historie "Verlorene Wege". Zusammen mit dem Fotografen Arwed Messmer hat sie ein sonderbares Kompendium über den Uranbergbau in der DDR vorgelegt. In unredigierten, aber kunstvoll komponierten O-Tönen kommen ehemalige Arbeiter der Wismut-AG, Reichsbahner und Mitropa-Kellner zu Wort. Bisweilen fühlt man sich tief ins 19. Jahrhundert versetzt, wenn Dreck und körperliche Schwerstarbeit sich nur mit Hektolitern an Alkohol ertragen lassen, und noch 1983 Dampflokomotiven rauchen. Gröschner bleibt strikt neutral, selbst dort, wo sich die Unbedarftheit der Strahlenopfer mit Händen greifen lässt. Die Wismut-Kumpel fühlten sich privilegiert und waren es in einigen Punkten tatsächlich. Dafür bezahlten sei aber einen hohen Preis. Wer davon liest, kann über aktuelle Krisenängste nur den Kopf schütteln: Ein hartes Leben sah noch vor vierzig Jahren ganz anders aus.
Bernd Cailloux: Der gelernte Berliner. Sieben neue Lektionen
edition suhrkamp, Frankfurt am Main
Kann man über bunte Werbezettel von Aldi und Lidl geistvolle Bemerkungen machen, ihnen Signale zum Zustand der Zeit entluchsen? Bernd Cailloux kann das. Er schreibt darüber so tiefsinnig wie über den Untergang Berliner Soziotope oder den Wandel der Zeitungslektüre. Fast 20 Jahre umfasst der essayistische Rückblick eines Autors, der einst nach Westberlin kam, weil er "anspruchslos wohnen und leben, aber auf hohem Niveau diskutieren und Erfahrungen machen" wollte. Nun, die Sechzig überschritten, folgt er einem Satz von Kierkegaard: "Das Leben wird vorwärts gelebt, aber rückwärts begriffen." Bernd Cailloux beim Begreifen der eigenen Biografie beizuwohnen und dabei städtebauliche Veränderungen wie gesellschaftliche Verwerfungen zu erkennen, beschert großen Genuss. All jene, die immer noch nicht wissen, dass der Essay die Königsform der Literatur darstellt – und nicht der massenwirksame Roman – können es hier lernen: Nahrung für den Schönheitssinn wie für den Erkenntnishunger.
Lektüretipp von Günter Pleuger: Paris 1919 von M. MacMillan
Random House, New York
Campus Verlag, Frankfurt am Main
Sie ziehen den Neid der Umwelt auf sich: IQ-Giganten und Genies. Schlauheit und Talent, so die Mär, garantieren beruflichen Erfolg. Malcolm Gladwell hat genauer hingesehen. Und siehe da: Nicht jeder Überflieger kriegt den Nobelpreis oder reüssiert als Firmengründer. Die Geburt in der richtigen Alterskohorte, ein den Talenten förderliches soziokulturelles Herkunftsmilieu und eine Vielzahl von glücklichen Umständen machen Ausnahmeerscheinungen wie Microsoft-Gründer Bill Gates erst möglich. Besonders verblüffend, dass es im Leben genügt, bestimmte Schwellen zu überschreiten. Ob einer den klassischer Akademiker-IQ von 115 hat oder ein Einstein mit 150 ist, besagt nicht viel für seinen späteren Lebensweg. 115 muss er allerdings mindestens haben, der Rest bleibt in der Regel wirkungslos. Auch wenn diese Botschaft frustriert – geburtenstarke Jahrgänge können ihre Träume gleich an den Nagel hängen –, Gladwell schreibt anschaulich, spannend, mitreißend. Amerikanischer Wissenschaftsjournalismus at it’s best.
Annett Gröschner, Arwed Messmer: Verlorene Wege
Verlag für moderne Kunst Nürnberg
Millionenzug, Grubenfusel, Schachtscheißer, Tischfachvariante und Weckbremsung ... fremd klingen die Worte in Annett Gröschners Bergbau-Historie "Verlorene Wege". Zusammen mit dem Fotografen Arwed Messmer hat sie ein sonderbares Kompendium über den Uranbergbau in der DDR vorgelegt. In unredigierten, aber kunstvoll komponierten O-Tönen kommen ehemalige Arbeiter der Wismut-AG, Reichsbahner und Mitropa-Kellner zu Wort. Bisweilen fühlt man sich tief ins 19. Jahrhundert versetzt, wenn Dreck und körperliche Schwerstarbeit sich nur mit Hektolitern an Alkohol ertragen lassen, und noch 1983 Dampflokomotiven rauchen. Gröschner bleibt strikt neutral, selbst dort, wo sich die Unbedarftheit der Strahlenopfer mit Händen greifen lässt. Die Wismut-Kumpel fühlten sich privilegiert und waren es in einigen Punkten tatsächlich. Dafür bezahlten sei aber einen hohen Preis. Wer davon liest, kann über aktuelle Krisenängste nur den Kopf schütteln: Ein hartes Leben sah noch vor vierzig Jahren ganz anders aus.
Bernd Cailloux: Der gelernte Berliner. Sieben neue Lektionen
edition suhrkamp, Frankfurt am Main
Kann man über bunte Werbezettel von Aldi und Lidl geistvolle Bemerkungen machen, ihnen Signale zum Zustand der Zeit entluchsen? Bernd Cailloux kann das. Er schreibt darüber so tiefsinnig wie über den Untergang Berliner Soziotope oder den Wandel der Zeitungslektüre. Fast 20 Jahre umfasst der essayistische Rückblick eines Autors, der einst nach Westberlin kam, weil er "anspruchslos wohnen und leben, aber auf hohem Niveau diskutieren und Erfahrungen machen" wollte. Nun, die Sechzig überschritten, folgt er einem Satz von Kierkegaard: "Das Leben wird vorwärts gelebt, aber rückwärts begriffen." Bernd Cailloux beim Begreifen der eigenen Biografie beizuwohnen und dabei städtebauliche Veränderungen wie gesellschaftliche Verwerfungen zu erkennen, beschert großen Genuss. All jene, die immer noch nicht wissen, dass der Essay die Königsform der Literatur darstellt – und nicht der massenwirksame Roman – können es hier lernen: Nahrung für den Schönheitssinn wie für den Erkenntnishunger.
Lektüretipp von Günter Pleuger: Paris 1919 von M. MacMillan
Random House, New York

Cover: "Malcolm Gladwell: Überflieger"© Campus Verlag

Cover: "Annett Gröschner, Arwed Messmer: Verlorene Wege"© Verlag für moderne Kunst

Cover: "Bernd Cailloux: Der gelernte Berliner"© edition suhrkamp