Kurz und kritisch

Philosophisch begründete pragmatische Wege zu einer gerechten Gesellschaft und soziale Krankheitsbilder im Neoliberalismus – zwei Buchempfehlungen zeigen Perspektiven auf. Zudem geht es um das Rätsel individueller und kollektiver Identität.
Womit ist das Ich eigentlich identisch, wenn ein Individuum auf seiner Identität beharrt? Vincent Descombes nähert sich den Rätseln der Identität in Form von Fragen an. Wie kann man zeitgemäß über Gruppenidentität sprechen? Ist die Identität eines Staatsbürgers in Deutschland deutsch oder europäisch, national oder transnational? Bin ich Muslim oder Berliner oder sowohl als auch?
Cover: Vincent Descombes "Die Rätsel der Identität"
Cover: Vincent Descombes „Die Rätsel der Identität“© Suhrkamp Verlag
Manchmal kurzweilig, manchmal Denkkraft fordernd, aber stets elegant, zeigt Descombes‘ Diskurs, wie Identität kulturell oder politisch begründet wird, wie sie individuell oder kollektiv, subjektiv oder objektiv zur Wirkung kommt. Descombes diskutiert mit dem Philosophen Amartya Sen das Problem pluraler Identität und mit Charles Taylor die Potenziale der Krise. Er zitiert Taylor so: " Wir müssen lernen, uns als Individuen im normativen Sinne des Wortes vorzustellen. Dieser Lernprozess heißt Identitätskrise“.
Philosophische Denkhilfen tun not, und diese hier ist mehr als tauglich.

Vincent Descombes: „Die Rätsel der Identität“
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
252 Seiten, 25,00 Euro

Was haben diese Begriffe gemein: Rating und Controlling, Evaluierung und Ranking, Effektivität und Kapitalisierung, Wettbewerb und Qualifizierung, Marketing und Leistung? Sie gehören zum Jargon des Wirtschaftsmanagements und gelten dort als unabdingbare Werkzeuge für den großen Erfolg. Inzwischen mutieren sie aber zur ideologischen Machtrhetorik einer durchökonomisierten Gesellschaft.
Cover: Vincent Descombes "Die Rätsel der Identität"
Cover: Vincent Descombes „Die Rätsel der Identität“© Kunstmann Verlag
Leider trifft großer Erfolg nur bei wenigen ein. Dass weiß Paul Verhaeghe nicht zuletzt als klinischer Psychologe, als praktizierender Psychoanalytiker und als wacher Beobachter der holländischen Gesellschaft. Viele andere, die ohne den ganz großen Erfolg, reagieren mit Stresssymptomen wie ADHS, mit sozialem Fehlverhalten wie Mobbing am Arbeitsplatz, mit einer zunehmenden Sucht nach Alkohol und Drogen, Porno und Pillen jeder Art, sagt Verhaeghe.
Der Autor beschreibt die Symptome des sozialen Krankheitsbildes genauso kompetent wie die Ursachen. So etwa im Kapitel „Die Enron-Gesellschaft“, wo er die 20/70/10-Regel für multinationale Konzerne erklärt: 20 von 100 Arbeitnehmern gelten als Überflieger, 70 Prozent bilden die kritische Masse und jeder Zehnte muss – auf der Basis eines Negativ-Rankings – jedes Jahr vor die Tür gesetzt werden. Das steigert laut Theorie die Motivation, führt in der Wirklichkeit jedoch zum Fälschen der Leistungsnachweise auf jeder Ebene.
Rank and Yank macht krank, zunehmend auch bei öffentlichen Arbeitgebern, in den Krankenhäusern, Universitäten und im Schulwesen. All das beschreibt Verhaeghe detailgenau. Doch er macht nicht mutlos. Er weist darauf hin, dass die neoliberale Ideologie keineswegs alternativlos ist, und so ermöglicht sein Buch dem Leser eine kritische Distanzierung zu dieser Geisteshaltung. Das ist schon einmal ein erster Schritt zu Gegenwehr und späterer Entspannung.

Paul Verhaeghe: „Und ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft“
Antje Kunstmann, München 2013
252 Seiten, 19,95 Euro

„Was ist eine gerechte Gesellschaft? Eine Gesellschaft, in der das Zusammenleben der Menschen in den wesentlichen Hinsichten durch gerechte Normen geregelt ist.“
Cover: Norbert Hoerster "Was ist eine gerechte Gesellschaft"
Cover: Norbert Hoerster „Was ist eine gerechte Gesellschaft“© C.H. Beck
So lautet das theoretische Resümee von Norbert Hoerster. Der praktische Testfall ist für ihn die gerechte Verteilung der Ressource Erde. Doch mit deren gerechter Verteilung sieht es schlecht aus: Solange Grund und Boden vererbbar sind, bekommt nicht jeder Mensch sein einmaliges und gleiches Recht auf die Nutzung von Grund und Boden.
Soweit so ungerecht, aber Hoerster will keine Revolution ausrufen. Er fordert keinen materiellen Ausgleich dafür. Und erst recht will er keine grundlegende Gerechtigkeit durch einen Ausgleich aller genetisch sowie sozial bedingten Ungleichheiten erzwingen. Vielmehr fordert Hoerster: Alle Steuerzahler sollen das gleiche Maß an Anstrengung und Energie aufwenden, um die unvermeidlichen Steuerlasten zu tragen. Der Staatsbürger opfert dabei Lebensqualität, doch davon verliert ein Geringverdiener wesentlich mehr als ein Großverdiener, auch wenn beide je ein Viertel ihres Einkommens abgeben. Wo es gerecht sein soll, muss dieses ausgeglichen werden. So liefert Hoerster mit philosophischer Begründung ganz pragmatische Wege zu einer gerechten Gesellschaft.

Norbert Hoerster: „Was ist eine gerechte Gesellschaft? Eine philosophische Grundlegung“
C.H. Beck, München 2013
144 Seiten, 12,95 Euro