Kurz und kritisch

Ganz unterschiedlich sind die Erfahrungen und die Horizonte von Migranten in Deutschland: Den einen schlägt Hass und Gewalt entgegen, anderen tut sich ein neues Stück Freiheit auf. Semiya Simsek, Seyran Ates und Yasar Aydin geben drei ganz verschiedene Perspektiven auf Deutschland und seine Einwanderer.
Enver Simsek war seit neun Jahren ein erfolgreicher Blumengroßhändler. Sein Geschäft hatte er verkauft, weil er mehr Zeit für sich und seine Familie haben wollte. Nur um einen Kollegen zu vertreten, betreute er ein letztes Mal einen mobilen Stand an einer Nürnberger Ausfallstraße, als er am 9. September 2000 getötet wurde.

So wurde er zum ersten Opfer einer Mordserie, welche die Gruppe Nationalsozialistischer Untergrund, NSU begangen hat, was elf Jahre lang unerkannt blieb. Sachlich, geradezu fair schildert seine Tochter Semiya, wie die Polizei aufwändig und umfangreich ermittelte – nur stets in die falsche Richtung.

Ihre Mutter, als 36-Jährige mit zwei Kindern zurückgeblieben, wurde darüber depressiv, weil sie selbst, ebenso wie Verwandte oder Bekannte die ganze Zeit über unter Tatverdacht standen, als seien sie Teil eines kriminellen Komplotts - eine fleißige Frau, deren Glück und Träume zerstört wurden und die zudem in ein finanzielles Desaster geriet.

Ganz bewusst, glaubt Semiya Simsek, sei ihr Vater ausgewählt worden, obschon die Täter ihn nicht persönlich kannten, weil er als Einwanderer seinen Weg in der deutschen Gesellschaft gemacht hatte. Und sie schreibt die wahre Geschichte ihrer Eltern auf, über die lange Zeit so viel Abfälliges zu lesen war.

Cover: Semiya Simsek "Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater"
Cover: Semiya Simsek "Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater"© Rowohlt Berlin
Semiya Simsek: Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater
Rowohlt Verlag, Berlin 2013
272 Seiten, 18,95 Euro
auch als ebook erhältlich


Die Pädagogin Semiya Simsek lebt derzeit in der Heimatregion ihrer Eltern, weil sie dort ihren Ehemann kennengelernt hat. Die Anwältin Seyran Ates hat sich bewusst gegen ein Leben in der Türkei entschieden und ihren Pass zurückgegeben, weil sie empört war, wie dort Menschenrechte verletzt würden – und das, obwohl sie sich für eine doppelte Staatsbürgerschaft eingesetzt hat.

43 Jahre lebt sie in Deutschland und sei mittlerweile in eine türkisch-deutsche Identität hineingewachsen. Weder habe sie sich assimiliert und von ihren Wurzeln abgeschnitten, noch lebe sie multikulturell in einer parallelen Gesellschaft, sondern sei geprägt von Erfahrungen, die aus vielen kulturellen Einflüssen gespeist seien und die sie mit Urberliner teile.

Sie nennt das transkulturell. Und könnte sich deswegen vorstellen, auch sehr gut in New York zu leben. Nicht Herkunft, Kultur oder Religion, sondern Verfassungspatriotismus, also Demokratie und Teilhabe, bestimmen nach ihrer Meinung, ob sich ein Mensch einem Gemeinwesen zugehörig fühlt.

Cover: Seyran Ates "Wahlheimat. Warum ich Deutschland lieben möchte"
Cover: Seyran Ates "Wahlheimat. Warum ich Deutschland lieben möchte"© Ullstein Verlag Berlin
Seyran Ates: Wahlheimat. Warum ich Deutschland lieben möchte
Ullstein Verlag, Berlin 2013
176 Seiten, 16,99 Euro
auch als ebook erhältlich


Transnational bewegen sich jene Akademiker, die Yasar Aydin für seine Studie über ihre Motive befragt hat. Es sind junge Leute aus türkisch-stämmigen Familien, die von Deutschland in die Türkei umgezogen sind.

Und je mehr er bemüht ist, gegen das Urteil anzuschreiben, sie seien an der Integration gescheitert, desto mehr belegt er, dass sie im Gegenteil durch Sprache, Bildung und Netzwerke privilegiert sind, in verschiedenen Ländern leben und auch mehrfach zwischen ihnen wechseln zu können.

Sicher hätten sich diese Hochqualifizierten hierzulande zuweilen diskriminiert gefühlt, entscheidend sei für sie aber gewesen, dass sich faszinierende Chancen aufgetan hätten, vorzugsweise in türkischen Großstädten. Der Verdienst wäre dabei weniger ausschlaggebend gewesen.

Und auch wenn Befragte an ihrer Identität zweifeln, so erscheinen sie eher als solche, die Identität engagiert pflegen, indem sie sich bewusst zwischen Sprachen und Kulturen bewegen.

Cover: Yasar Aydin "'Transnational' statt 'nicht integriert'"
Cover: Yasar Aydin "'Transnational' statt 'nicht integriert'"© UVK Verlagsgesellschaft Konstanz
Yasar Aydin: "Transnational" statt "nicht integriert". Abwanderung türkeistämmiger Hochqualifizierter aus Deutschland"
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2013
136 Seiten, 19,99 Euro