Kurt Drawert: "Dresden. Die zweite Zeit"

Monopolanspruch auf Schmerz

07:02 Minuten
Buchcover zu "Dresden. Die zweite Zeit" von Kurt Drawert auf orangefarbenem Aquarellhintergrund.
Ein halbes Jahrhundert nach seinem Wegzug kehrt Kurt Drawert als Stadtschreiber nach Dresden zurück. © C.H. Beck / Deutschlandradio
Von Jörg Magenau · 28.08.2020
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Kurt Drawert kehrt in "Dresden. Die zweite Zeit" in seine alte Heimat zurück. Konfrontiert mit der Gegenwart der Stadt versucht er zu begreifen, woher Pegida und der rechte Hass kommen. Entstanden ist ein gewaltiger, essayistischer Bericht.
Es gehört nicht unbedingt zum originellsten Genre, wenn Schriftsteller ihren Stipendienaufenthalt zum Gegenstand ihres nächsten Buches machen.
Bei Kurt Drawert ist das anders. 2017 nahm er das Angebot an, Stadtschreiber von Dresden zu werden, obwohl ihm die damit verbundenen Verpflichtungen – Interviews, freundliche Artikel und Elbspaziergänge im Abendlicht für die Lokalpresse – zutiefst zuwider waren und es Beklemmungsgefühle in ihm auslöste, welche Kollegen vor ihm die Stadtschreiberwohnung bewohnt und im selben Bett geschlafen hatten.

Rückkehr nach 50 Jahren

Doch weil ihm dieses Amt Gelegenheit bot, nach 50 Jahren in die Stadt zurückzukehren, in die er 1967 - zwölf Jahre alt - mit seiner Familie gezogen war und in der er die 1970er und 1980er Jahre verbracht hatte, nahm er an. Nicht zuletzt auch, weil seine Mutter noch immer dort lebt.
Sein essayistischer, autobiographisch-erzählerischer Bericht "Dresden. Die zweite Zeit" handelt von einer Rückkehr in die Fremde. Drawert verknüpft auf eindrucksvolle Weise die eigene Herkunft mit der Geschichte der DDR und der Familiengeschichte, was über die Figur des autoritären Vaters, eines Kriminalpolizisten, gewissermaßen zusammenfällt.
Doch auch die Mutter mit ihrem Putzwahn und der tief verinnerlichten allgemeinen Pflicht, beim Betreten der Wohnung die Schuhe auszuziehen, hat ihren Anteil daran. Auf diesem Boden, wo das Historische sich in den eigenen Leib eingeschrieben hat, konfrontiert Drawert sich mit der Dresdner Gegenwart der Montagsdemonstrationen, Pegida und AfD, und versucht zu begreifen, was 50-jährige Frauen dazu bringt, sich mit der Sachsenfahne zu schmücken und "Fotze Merkel!" zu brüllen.

Verkapselter Narzissmus

Drawert, der Lacan, Marx, Julia Kristeva, Zygmunt Bauman, Annie Ernaux und vor allem sein 1992 erschienenes Vater-Abrechnungsbuch "Spiegelland" im Gepäck hat, ist viel zu schlau, um sich mit einfachen Einsichten zu begnügen. Eine der möglichen Antwort besteht jedoch darin, dass das große Nein zur Gegenwart, das auf den Straßen so voller Hass zelebriert wird, ein verschobenes, nachträgliches Nein des einst versäumten Nein zur DDR sein könnte.
Drawert wundert sich darüber, warum die Kunstaktion des deutsch-syrischen Künstlers Manaf Halbouni, der zum Jahrestag der Zerstörung Dresdens 2017 zwei zerstörte Busse aus Aleppo aufstellte, so viel Empörung hervorrief, weil damit angeblich das Gedenken an die Opfer Dresdens entwürdigt und entweiht werde. Warum gibt es in Dresden einen Monopolanspruch auf Schmerz? Warum wurde Dresden zum Synonym der Zerstörung und nicht Hamburg, Nürnberg oder Darmstadt? Warum kann die Stadt ihre Trauer nicht mit der Welt teilen? Drawert erkennt in den Affekten von rechts außen einen in sich verkapselten Narzissmus, der das kleine Eigene so herrlich findet, dass alles Fremde nur feindlich sein kann.

Alles war schuldbehaftet

Das Großartige an Drawerts erzählerischer Reflexion besteht jedoch darin, dass er selbst als Fremd-Zugehöriger nicht bloß von außen spricht, als der Westler, zu dem er geworden sein mag, sondern als einer, dem die Kategorien Ost und West fragwürdig geworden sind.
Das subkutane Weiterwirken der DDR registriert er sehr genau, weil er ihre Gewalt am eigenen Leib erfahren hat – über den Vater und die Familie ebenso wie über die Schule und die Fabrikarbeit, zu der er einst degradiert worden war. Alles war schuldbehaftet, alles zielte auf die Vernichtung der Person, und schon die Ankunft in Dresden glich einer Flucht, nachdem er noch im Brandenburgischen Hohen Neuendorf beim Nazi-und Partisan-Spiel einem Freund mit Pfeil und Bogen ein Auge ausgeschossen hatte.
Es gibt viele blutige, demütigende Geschichten in diesem Buch, das mehr und mehr zu einer Geschichte des Schmerzes wird. Es ist mehr als bloß symptomatisch, dass der Stadtschreiber beim Kuchenkaufen für den Mutterbesuch auf Blitzeis ausrutscht, sich die Schultersehnen reißt und von da an auch körperlich ein Schmerzensmann ist, der kaum noch die Kaffeetasse zum Mund führen kann, aber trotzdem weiter schreibt und denkt.
Es scheint so, als schärfe sich sein Denken am und im Schmerz. "Dresden. Die zweite Zeit" ist ein gewaltiges, großes Dokument eines ums Verstehen ringenden Blickes auf die eigene Zerrissenheit und die der Stadt und des geteilten Landes.

Kurt Drawert: Dresden. Die zweite Zeit
C. H. Beck, München 2020
294 Seiten, 22 Euro

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