Die Zwangsverwaltung abwählen?
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Am 31. März sind Kommunalwahlen in der Türkei. Besonders die kurdischen Ortschaften im Südosten warten darauf. Viele wollen ein Ende der Zwangsverwaltung und ihre gewählten Bürgermeister zurück. Präsident Erdogan warnt davor, "Terrorhelfer" zu wählen.
Es ist Samstagmittag: Alle Übungsräume der Musikschule "Ma" in Diyarbakir sind besetzt. Einige Schüler üben Geige, andere versuchen sich an der Saz, der langhalsigen Laute dieser Region. Sogar in der Besenkammer spielt eine fortgeschrittene Schülerin Santur – ein Hackbrett-ähnliches Instrument aus Mesopotamien.
Im Vorzimmer der Musikschule basteln und malen junge Frauen mit Kindern, die auf ihre musizierenden Geschwister warten. Die Eltern trinken Tee und plaudern. Eine Familie trägt Töpfe mit Mittagessen für die Lehrer herein, andere haben Gebäck mitgebracht. Die Musikschule ist eine Art Kooperative, erklärt der Musiklehrer Weysi Aydin – daher der Name "Ma", denn das kurdische Wort bedeutet "gemeinsam". Wie alle Lehrer bei "Ma" war Aydin früher an der städtischen Musikschule von Diyarbakir angestellt, bis diese vor knapp drei Jahren – wie alle kommunalen Einrichtungen – der Zwangsverwaltung unterstellt wurde:
"Wir haben uns geweigert, mit der Zwangsverwaltung zusammenzuarbeiten, weil wir es nicht hinnehmen wollten, dass unsere gewählte Stadtverwaltung einfach abgesetzt wird. Wir haben die Zusammenarbeit verweigert und sind deshalb entlassen worden. Aber wir wollten auch, dass weiter musiziert wird in dieser Stadt, und deshalb sind wir mit unserer Musik und unserer Motivation und unseren Schülern hingegangen und haben diese Schule aufgemacht."
HDP-Bürgermeister abgesetzt statt Partei-Verbot
Diyarbakir ist die größte Stadt des Kurdengebiets im Südosten der Türkei, und sie wurde fast 20 Jahre lang von der Kurdenpartei regiert, die nach mehreren Parteiverboten und Umbenennungen heute HDP heißt. Bis zum Herbst 2016: Da setzte die türkische Regierung die beiden Bürgermeister Gültan Kisanak und Firat Anli per Notstandsdekret ab und entsandte einen Zwangsverwalter in die Stadt – ebenso wie in 92 weitere kurdische Städte in Südostanatolien.
Möglich wurde das durch den Notstand nach dem Putschversuch in Ankara vom Sommer 2016. Der eigentliche Hintergrund war aber ein anderer: Die türkische Regierung wollte die Kontrolle über den kurdisch besiedelten Südosten zurückgewinnen. Dort hatten PKK-Milizen im Sommer 2015 mehrere Städte besetzt und zu autonomen Zonen erklärt.
Erst nach monatelangen Kämpfen gewannen die türkischen Sicherheitskräfte im Frühjahr 2016 die Oberhand. Die HDP-Bürgermeister wurden abgesetzt, weil die türkische Regierung sie im Verdacht hatte, mit der PKK gemeinsame Sache zu machen, sagt der Politologe Hüseyin Alptekin von der türkischen Denkfabrik Seta:
"Sie leisteten zum einen logistische Unterstützung: Die PKK-Kämpfer nutzten die Fuhrparks der Kommunen, sie rissen mit den kommunalen Baggern die Straßen auf, um Schützengräben auszuheben; und in einigen Fällen fuhren sie sogar kommunale Fahrzeuge mit Bomben beladen in die Sicherheitskräfte hinein. Zum anderen instrumentalisierte die PKK die Kommunen zur Rekrutierung ihrer Kämpfer, sie nutzte kommunale Einrichtungen wie Jugendzentren oder Frauenzentren als Propagandazentren."
Um der Lage Herr zu werden, habe die Regierung damals mehrere Optionen erwogen, sagt Politologe Alptekin:
"Eine Option war es, die HDP einfach zu verbieten, so wie das früher immer gemacht wurde. Das hat ja eine lange Tradition in der Türkei, das Land ist ein wahrer Friedhof für Kurdenparteien. Aber es bringt in der Praxis nichts, weil es die Kanäle für politische Beteiligung verschließt und die Leute nur weiter in die Arme der PKK drängt."
Der HDP-Vorsitzende protestierte vergebens
Deshalb entschied Ankara schließlich, die Partei nicht verbieten zu lassen, dafür aber ihre Bürgermeister abzusetzen und ihre Kommunen unter Zwangsverwaltung zu stellen. Vergeblich protestierte der damalige HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas gegen das Gesetz, das im September 2016 erlassen wurde:
"Auch wenn ihr dieses Gesetz verabschieden könnt, so werden eure Zwangsverwalter diese Städte doch nie regieren können. Das wird in der Praxis nicht funktionieren. Ich rufe hiermit alle Angestellten unserer Kommunen, die Gewerkschaften, die Zivilgesellschaft, die Berufsverbände und Kammern und unser ganzes Volk auf, dass sie die Zwangsverwalter nicht anerkennen sollen. Die Zwangsverwaltung unserer Kommunen wird nicht funktionieren, das sage ich euch. Warum nicht? Weil das Volk da nicht mitmachen wird."
HDP-Chef Selahattin Demirtas, immerhin Vorsitzende der drittstärksten Partei im türkischen Parlament, wurde wenige Wochen darauf in seiner Wohnung in Diyarbakir festgenommen und sitzt seitdem hinter Gittern. Zwei Jahre lang war er in Untersuchungshaft und wurde auch auf Aufforderung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes nicht freigelassen. Vor drei Monaten wurde er schließlich zu einer mehrjährigen Haftstrafe wegen Terrorpropaganda verurteilt.
Durch Zwangsverwalter mehr Straßenbau und Beleuchtung
Aber die Worte von Demirtas nahmen sich viele kommunale Angestellte zu Herzen. Auch die Santur-Lehrerin Negris. Sie und andere verweigerten sich dem Zwangsverwalter Cumali Atilla, der Ende 2016 aus Ankara nach Diyarbakir entsandt wurde, um die kurdische Millionenstadt zu regieren. Seitdem unterrichtet die Musikerin Nergis in der neu gegründeten Musikschule "Ma":
"Ich war früher an der städtischen Musikschule, aber ich musste leider aufhören, weil die Zwangsverwaltung eingesetzt wurde. Wie hätte ich da weitermachen sollen? Das hätte bedeutet, mit der Zwangsverwaltung zu kooperieren. Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir da nicht mitmachen, und deshalb sind wir weggegangen und haben anderswo neu angefangen. Es hat natürlich auch Leute gegeben, die geblieben sind, aber ich bin gegen die Zwangsverwaltung und habe deshalb dort aufgehört."
Andere städtische Angestellte blieben – manche aus wirtschaftlichen Gründen, andere aus Überzeugung. Denn an der kommunalen Verwaltungskompetenz der HDP hatte es durchaus auch Kritik gegeben. Die Zwangsverwaltung habe ihre Vorteile, findet Kenan Okutucu, der Leiter des Straßenbauamtes von Diyarbakir:
"Wir haben einen Motivationsschub erlebt"
"Seit der Zwangsverwalter im Amt ist, haben wir eine große Steigerung im Straßenbau zu verzeichnen. Wir haben in Diyarbakir jetzt jährlich 600.000 Tonnen Asphalt gegossen, das war viel bis fünf Mal so viel wie in den Vorjahren. Wir haben schon im ersten Jahr 500.000 Quadratmeter Pflastersteine verlegt, wir haben die Straßen begrünt und beleuchtet. Durch die Zwangsverwaltung haben wir einen Motivationsschub erlebt und ausreichende Mittel bekommen. Wir haben gute Arbeit leisten können, und die Bürger sind sehr zufrieden."
Straßenbau, Müllabfuhr, Infrastrukturprojekte – das sind die Markenzeichen der Partei von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, seit er in den 90er-Jahren Oberbürgermeister von Istanbul war und die Stadt gründlich aufräumte. Doch Diyarbakir ist nicht Istanbul, und die kurdische Bevölkerung erwartet von ihrer politischen Vertretung mehr als nur gut beleuchtete Straßen, wie dieser Markthändler bei einer Straßenumfrage sagt:
"Wir bedanken uns bei Cumali Atilla und hoffen, dass er jetzt geht und wieder einer unserer eigenen Leute ins Amt kommt. Wir gratulieren Atilla zu allem, was er hier gemacht hat, zu der Straßenbegrünung und der Beleuchtung. Er hat durchaus gute Sachen getan für die Stadt, das soll man nicht in Abrede stellen. Aber jetzt wollen wir wieder einen Kandidaten aus dem Volk haben, aus der HDP."
Wahlkampf mit Kampfansage an die HDP
Am 31. März sind Kommunalwahlen – in Diyarbakir und in der ganzen Türkei. Ganz wohl ist der Regierung in Ankara dabei nicht, sagt Politologe Alptekin:
"Es gab im Staatsapparat die Überlegung, die Wahlen im Südosten auszusetzen mit Verweis auf die Sicherheitslage und einfach mit dem Status Quo weiterzumachen. Aber wenn man in einem Teil des Landes wählen lässt und im anderen nicht, dann ist das problematisch, dann wird die Demokratiefrage gestellt. Deshalb wurde dieser Gedanke schnell fallengelassen. Und jetzt wird eben gewählt. Aber es gibt Besorgnis bei den Sicherheitskräften, im Staatsapparat und auch bei den AKP-Wählern vor Ort."
Als ihren Spitzenkandidaten für das Amt des Oberbürgermeisters von Diyarbakir schickt die Regierungspartei AKP den Zwangsverwalter Cumali Atilla ins Rennen, den sie dort als Statthalter installiert hat. Atilla eröffnete seinen Wahlkampf mit einer Kampfansage an die Kurdenpartei HDP, die bei der Wahl haushoher Favorit ist:
"Diyarbakir ist 17 Jahre lang rein ideologisch regiert worden. Gottseidank haben wir die Stadt nun seit zwei Jahren wie eine AKP-regierte Stadt verwalten können und ihr unsere ausgezeichneten Dienstleistungen gebracht. Und heute, an diesem gesegneten Tag, brechen wir auf zu einem geheiligten Marsch. Was wir bisher geschafft haben in Diyarbakir, das ist nur die Grundlage für alles, was wir hier noch alles machen werden."
Ex-HDP-Bürgermeister sitzen im Gefängnis
Für die HDP ist das Wahlziel natürlich klar, in Diyarbakir wie in allen zwangsverwalteten Kommunen im Kurdengebiet. Der Parteivorsitzende Recai Temelli formulierte es vor der HDP-Parlamentsfraktion, deren Reihen durch Festnahmen und Gefängnisstrafen gelichtet sind:
"Wir werden bei den Kommunalwahlen eure Zwangsverwaltungen hinwegfegen! Hinterher könnt Ihr kommen und den Müll einsammeln. Wir werden dieses Land von der Schande der Zwangsverwaltung befreien."
Anders als die AKP kann die HDP ihre früheren Oberbürgermeister von Diyarbakir nicht als Kandidaten aufstellen, denn die sitzen wegen Terrorvorwürfen im Gefängnis.
Die Kurdenpartei schickt deshalb in diesem Jahr ein neues Tandem ins Rennen – einen Mann und eine Frau, wie das bei der HDP üblich ist. Den männlichen Part übernimmt der Parlamentsabgeordnete Selcuk Mizrakli, der keine Zweifel am Wahlausgang hat:
"Die Zwangsverwaltung wird in Diyarbakir komplett abgelehnt. Kein Mensch in dieser Stadt hat den geringsten Zweifel daran, dass dies eine Vergewaltigung des Volkswillens ist. Die Bürger von Diyarbakir werden am 31. März ihr Grundrecht als Staatsbürger gebrauchen, um diesem Willen erneut Ausdruck zu verleihen. Und sie werden eine eindeutige Antwort darauf geben, dass ihnen ausgerechnet der Zwangsverwalter als Kandidat vorgesetzt wird."
Präsident Erdogan droht mit erneuter Zwangsverwaltung
An einem Wahlsieg der HDP zweifelt niemand: Die Kurdenpartei könnte in Diyarbakir einen Besenstiel aufstellen und immer noch gewinnen. Mizrakli und seine Ko-Kandidatin Hülya Alökmen Uyanik können deshalb ziemlich fest damit rechnen, gewählt zu werden. Die Frage ist nur, wie lange sie im Amt bleiben können. Staatspräsident Erdogan hatte die Drohung schon vor Monaten offen ausgesprochen:
"Ich kündige hiermit ganz klar an: Wenn bei den Kommunalwahlen im März wieder Terrorhelfer gewählt werden sollten, dann werden wir nicht abwarten und zusehen, was geschieht. Wir werden sofort – sofort! – handeln und wieder Zwangsverwalter einsetzen."
Der Staatspräsident drohe den Wählern und wolle die Kurden von der Wahlurne abschrecken, klagt die HDP. Politikwissenschaftler Alptekin hat sich im Staatsapparat umgehört und glaubt, dass es eher eine Warnung an die neuen Bürgermeister sein soll:
"Das hört sich jetzt vielleicht so an, dass die neuen HDP-Bürgermeister am Morgen nach der Wahl festgenommen und eingesperrt werden sollen, aber die Wahrscheinlichkeit für ein solches Szenario ist meiner Ansicht nach gleich Null."
"Diesmal wird es anders"
Die kurdischen Kommunen würden künftig aber an die kurze Leine gelegt, meint Alptekin. Eine Rückkehr zu der begrenzten Selbstverwaltung des letzten Jahrzehnts werde es jedenfalls nicht geben.
"Diesmal wird es anders. Das wird nicht einfach ein neuer Zyklus, das wird die Regierung nicht zulassen. Auch wenn die HDP diese Kommunen zurückgewinnt, wird es diesmal mehr Überwachung und Kontrolle geben. Kontrolle über die Finanzen etwa, damit die nicht für Propaganda ausgegeben werden. Und wenn die Kommunen den Leuten wieder Bücher von Öcalan zu lesen geben oder PKK-Funktionäre auf ihre Gehaltslisten setzen, dann können wir damit rechnen, dass die Regierung wieder interveniert."
Was Propaganda ist und was nicht, das ist freilich Ansichtssache. Das fängt bei der grundlegendsten aller Fragen an, sagt Weysi Aydin von der Musikschule "Ma", nämlich: Welche Sprache wird gesprochen?
"Solange Diyarbakir von der HDP regiert wurde, war Kurdisch die Unterrichtssprache an der städtischen Musikschule, doch unter der Zwangsverwaltung wird dort nur noch auf Türkisch unterrichtet. Aber eine staatliche Einrichtung, die nicht die Sprache der einheimischen Gesellschaft gebraucht, ist eine koloniale Institution, so sehen wir das jedenfalls. Deshalb haben wir ‚Ma Musik‘ gegründet und unterrichten hier auf Kurdisch."
Kurdischer Sprachunterricht gehört zum Lehrplan
Nicht nur der Musikunterricht wird bei "Ma Musik" auf Kurdisch erteilt. In einem der Übungsräume bringt ein Lehrer seiner Schülergruppe gerade die kurdischen Vokabeln für Gesteinsformen bei. Kurdischer Sprachunterricht gehört bei "Ma Musik" zum Lehrplan, sagt der Lehrer – und zum politischen Programm:
"Ich bin jetzt 32 Jahre alt, das bedeutet bei einer Lebenserwartung von etwa 70 Jahren, dass die kurdische Sprache durch mich noch 38 Jahre weiterleben wird. Aber diese Kinder werden sie 60 oder 70 Jahre weitertragen in die Zukunft. Sie müssen Kurdisch lernen, damit die Sprache weiterlebt, und zwar nicht nur als Gassensprache. Wir wollen, dass Kurdisch zur Bildungssprache wird. Wir wollen, dass Kurdisch zur offiziellen Sprache wird."
An dieser Mission wollen die Mitarbeiter von "Ma Musik" festhalten, gleich wie die Kommunalwahl am 31. März ausgeht. Wenn die HDP wie erwartet gewinnt, dürften ihnen zwar ihre alten Jobs an der städtischen Musikschule wieder offenstehen, aber auf die kommunale Hand wollten sie nicht mehr vertrauen, sagt Weysi Aydin:
"Wir haben nicht die Absicht zurückzukehren. Denn wenn die Stadt irgendwann wieder unter Zwangsverwaltung gestellt wird und die städtischen Einrichtungen wieder unter Besatzung kommen, dann sind wir wieder heimatlos. Nein, wir müssen uns das erhalten, was wir hier als Alternative aufgebaut haben."