Kunstausstellung

Bloß nicht originell sein

Der Shopping-Tempel "Mall of Berlin" in der Leipziger Straße wurde 2014 eröffnet.
Die neue "Mall of Berlin" interessiert auch die Kuratoren der Berlin Biennale 2016. © dpa / picture alliance / Tim Brakemeier
Von Gerd Brendel |
Die nächste Berlin Biennale findet erst im Sommer 2016 statt, aber die Kuratoren sind bereits in der Stadt: Das Herausgeberkollektiv des Internet-Magazins "DIS". Lauren Boyle und Marco Rosso erkundeten auch die neue "Mall of Berlin".
An diesem Morgen in einer neu eröffneten Einkaufspassage am Berliner Leipziger Platz wird Lauren Boyle von der realen Welt eingeholt:
"We just walked through the Mall of Berlin, and all I hear is Lauren, Lauren, Lauren! And I was thinking, is that for me?"
Als der Autor dieser Zeilen fünf Minuten zu spät zum Interview in die Mall stürmt und lauthals ihren Namen ruft:
"Normalerweise sind die Leute mit ihren Smartphones online und suchen im Netz nach einem Bild ihrer Verabredung."
Lauren Boyle gehört mit ihrem Mann Marco Rosso, Solomon Chase und David Toro zu den Herausgebern des Internet-Magazins "DIS" ... Dis wie "dissen" oder "dislike" (nicht mögen) oder "distaste" (Abneigung) oder "dystopia" (Anti-Utopie).
Alle vier haben Kunst studiert, Lauren Boyle am renommierten Pratt-Institute in New York, Marco Rosso in Barcelona und in Berlin unter Katharina Sieverding. Die Idee zum Online-Magazin hatten sie während der Finanzkrise vor fünf Jahren, um befreundeten Künstlern eine Plattform zu geben. Wie in jedem Print- oder Online-Modemagazin präsentieren sie vor allem Fotostrecken. Die vorgestellten Produkte, Styling-Ideen und Menschen allerdings würden es nie in eine etablierte Publikation schaffen.
Die Modestrecke "shenzai anxiety" zum Beispiel beschäftigt sich mit der Ästhetik gefälschter Markenprodukte. Unter dem Titel "motherhood incorporated" halten sich Models in avantgardistischen Abendkleidern von Margiela Abpumpmaschinen für Muttermilch vor die Brüste. Ein paar Klicks weiter gibt es Make-Up-Tipps zur Tarnung vor Überwachungskameras.
Lauren: "Trends werden so schnell vom Mainstream vereinnahmt, dass der Versuch, originell zu sein, sinnlos ist."
Marco: "Wir schätzen Underground-Gruppen oder -Positionen, aber uns muss bewusst sein, dass sie sofort vereinnahmt werden."
Kunterbunte Bilderwelten
So ähnlich hat das schon Theodor W. Adorno vor 50 Jahren formuliert. Und vor zehn Jahren Elena Esposito und der kanadische Philosoph Joseph Heath. "DIS" bebildern ihre Theorien fürs Internet, und ein bisschen erinnern die kunterbunten Bilderwelten an die Perückensammlung aufgekratzter Transvestiten, die Geschlechterrollen durch übertriebene Klischees in Frage stellen.
"Es geht nicht darum, den Dingen mit Analyse oder Kritik auf den Grund zu gehen, sondern sie in der größtmöglichen Übersteigerung wiederzugeben."
... haben die vier "Dis"-Herausgeber einmal im Interview gesagt. Das gilt für die Konsum-, die Modewelt und die Kunstwelt.
Video: "The world is waiting for something, the next artist, the next genius, the next legend, the world is waiting for something to fill their white cubes."
Unter der Rubrik "dystopia" findet sich auf der "DIS"-Plattform der Video-Clip "Emerging artists", Nachwuchskünstler. Die Kamera umkreist den Bauch einer Hochschwangeren. "Die Welt wartet auf den nächsten Künstler, das nächste Genie, auf etwas, um die Ausstellungssäle vollzustellen", erklärt eine einschmeichelnde Reklamestimme aus dem Off. Dann kommen Smartphones ins Bild.
In eineinhalb Jahren erwartet die Kunstwelt von den "DIS"-Herausgebern, die "white cubes" der Berlin Biennale vollzustellen. In den letzten Wochen haben sich Boyle und Rosso in der Stadt umgeschaut. Und warum ausgerechnet auch hier, in einer x-beliebigen Shopping Mall, wie sie überall stehen von New York bis Dubai?
Marco: "Schaufenster-Auslagen ziehen uns an. Die Bilder wirken manchmal stärker als Arbeiten im Museum."
Zum Beispiel die zwei überlebensgroßen Jungen im Kindergarten-Alter im Schaufenster einer Kette für Billigmode. Mit leuchtenden Augen blicken sie ... ja, wohin ?
Marco: "Sie schauen in die Zukunft."
Lauren: "In der Regel steht dann auf der anderen Seite der Kamera so eine Art Kinder-Bespaßer."
Marco: "Schon interessant: Es soll so aussehen, als schauten sie in die Zukunft, aber in Wirklichkeit sehen sie einem Clown zu."
Ob die vier von "DIS" ein ähnliches Leuchten in die Augen der nächsten Biennale-Besucher zaubern werden? Kunst, sagt Lauren Boyle, muss lästig sein:
"... wie ein Kieselstein im Schuh, wie ein Peeling mit Chemie oder ein Einlauf."
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