Kulturhauptstadt Europas 2015

Die Kultur soll Pilsen aus dem Dornröschenschlaf erwecken

St. Bartholomäus-Kathedrale auf dem Hauptmarkt in Pilsen.
Das französische Karussell "Le Manège Carré Senart", das in Pilsen steht, ist Teil der Attraktionen zum Kulturhauptstadtjahr. © picture alliance / dpa / Daniel Kalker
Von Stefan Heinlein · 05.01.2015
Skoda und Bier, das ist, wofür das tschechische Städtchen Pilsen bekannt ist. Jetzt im Jahr 2015 soll sich das ändern: Die Stadt will sich öffnen und als Kulturhauptstadt punkten. Doch dieser Kurs birgt auch Risiken.
"Der Pilsener Turm überragt die Hügel" – heißt es im Volkslied. Wie ein Zeiger im Kompass weist die St. Bartholomäus-Kathedrale Besuchern den Weg ins Stadtzentrum. Vom höchsten Kirchturm Tschechiens geht der Blick nach unten auf einen der größten Marktplätze Europas. Dort steht der barocke Bischofspalast neben gotischen Bürgerhäusern und frisch renovierten Perlen des Jugendstils. Das Rathaus von Bürgermeister Martin Zrzavecky ist ein Schmückstück der Renaissance:
"Die Stadt Pilsen hat seit der demokratischen Wende in den 90er Jahren gewaltige Fortschritte gemacht. Früher war Pilsen eine graue Industriestadt. Heute sind wir eine moderne Stadt, die sich jeden Tag weiterentwickelt."
Von der Autobahnabfahrt führt eine vierspurige Schnellstraße vorbei an modernen Einkaufszentren und sozialistischen Plattenbauten in das historische Zentrum. Im 19. Jahrhundert ist Pilsen die Heimat des größten Maschinenbaubetriebs der KuK-Monarchie. Die Skoda-Werke sind die Waffenschmiede des Kaiserreiches. Während der kommunistischen Jahrzehnte verwahrlost aber die viertgrößte Stadt des Landes, erinnert sich der Theatermacher Petr Forman:
"Auch die Umgebung der Stadt war unglaublich trist. Alles war grau und öde. Auf dem Marktplatz gab es nur zwei Läden, die selten geöffnet waren. Kein Cafe - nur speckige Bierkneipen. Es war ein Gefühl der Beklemmung."
Doch weit länger als Skoda und die Schwerindustrie trägt das Bier den Namen der Stadt weit über die Landesgrenzen hinaus. Bereits Ende des 12. Jahrhunderts wird Pilsen von König Wenzel II das Braurecht verliehen. Doch lange ist die Qualität des Gerstensaftes äußerst bescheiden. Erst 1842 wird Braumeister Josef Groll aus dem bayerischen Vilshofen von den durstigen Ratsherren verpflichtet. Er wird zum Vater des untergärigen Pilsener Bieres:
"Wir verwenden bis heute nur die dieselben drei Zutaten. Das Pilsener Malz, unser weiches Wasser und den richtigen Hopfen. Das macht unser goldenes Bier so mild und angenehm bitter. Diese Philosophie von Josef Groll ist bis heute lebendig. Das macht unsere Brauerei so faszinierend."
"Pilsener Urquell" ist eines der bekanntesten Biere der Welt
Viele Jahre hat Vaclav Berka als Braumeister das Erbe von Josef Groll gepflegt. Die Marke "Pilsener Urquell" gehört zu den bekanntesten Bieren weltweit. Sieben Tage die Woche rund um die Uhr sprudeln jährlich mehr als vier Millionen Hektoliter Bier in Fässer und Flaschen.
"Die Keller wurden allmählich erweitert und sie bekamen ihren Namen je nach dem wie weit sie von dem Eingang entfernt waren."
Im Viertelstundentakt führen Eva und ihre Kollegen jedes Jahr über eine halbe Millionen Besucher aus aller Welt über das weitläufige Brauereigelände und in die historischen Kellergewölbe. Das fast 14 Kilometer lange Labyrinth erstreckt sich unter das gesamte historische Stadtzentrum. Tief unter der Erde erfahren die Touristen mehr von Braumeister Berka.
"Bier verbindet Völker, völlig unabhängig von den Grenzen. Es ist für uns Tschechen ein wichtiger Teil unserer Kultur – genauso wie für die Bayern. Das ist doch wunderbar. Die Liebe zum Bier ist auf beiden Seiten zu spüren."
Auf dem Marktplatz dreht sich "Le Manège Carré Senart". Das Kunstkarussell aus Frankreich soll die Bürger und Besucher auf das Kulturhauptstadtjahr einstimmen. Eine Phantasiewelt als Symbol für die Verwandlung der Stadt im kommenden Jahr, erklärt Direktor Jiri Suchanek:
"Wir wollen, dass Pilsen nicht nur als Industrie- und Bierstadt wahrgenommen wird, sondern auch als eine Kulturmetropole. Das ist ein langwieriger Prozess. Es geht um Bildung, grenzüberschreitende Kooperation und junge kreative Kunst."
Ein bunter Reigen an Ausstellungen, Theater und Konzerten
Das Drehbuch für die neue Rolle von Pilsen schreibt Petr Forman, einer der vier Söhne von Hollywood-Regisseur Milos Forman. Mehr als 600 Aktionen und Aufführungen plant er als künstlerischer Leiter für das Kulturhauptstadtjahr 2015. Ein bunter Zirkus an Ausstellungen, Tanz, Theater, Festivals und Konzerten:
"Meine große Sehnsucht ist den Menschen die ganze kulturelle Bandbreite zu zeigen. Viele Menschen wissen gar wie viele schöne künstlerische Dinge es gibt. 2015 ist deshalb eine Riesenchance hier etwas nachhaltig zu verändern. Es geht um einen Mentalitätswandel. Viele Bürger bei uns sind sehr konservativ. Ihnen fehlt die Erfahrung aus anderen Ländern und Kulturen. Diese Verschlossenheit ist sehr schade."
"Open up" ist deshalb das offizielle Motto des Kulturhauptstadtjahres. Pilsen soll aufwachen aus dem Dornröschenschlaf und sich öffnen für neue kulturelle Einflüsse und Erfahrungen. Viel zu lange – so Direktor Jiri Suchanek - hätten die Tschechen sich mit sich selbst begnügt und jeglichen Kontakt mit dem Ausland vermieden:
"Die Zeit des Kommunismus hat auch bei den Pilsener Bürgern tiefe Spuren hinterlassen. Man hat brav gearbeitet, aber ansonsten das Leben im öffentlichen Raum gescheut. Die individuelle Freiheit wurde unterdrückt. Das ist leider immer noch zu spüren und zwar nicht nur in der Generation die diese Zeit erlebt hat."
Die Rekordzahl von 26 Premieren steht im kommenden Jahr auf dem Spielplan. Neben dem Neuen Theater hat die 170.000 Einwohner-Stadt mit dem historischen Großen Theater bereits eine weitere Bühne. Die Ratsherren hätten sich deshalb mit dem Mega-Projekt verkalkuliert, meint nicht nur die Journalisten Dana Vesela:
"Das Theater ist wunderschön, eine tolle Architektur, aber es viel zu groß. Schon jetzt gibt es Pläne die Preise für die Einstrittskarten zu erhöhen. Woher sollen dann die Zuschauer kommen? Die Stadt muss das riesige Theater also auf Dauer subventionieren. Das ist ein gewaltiges Risiko."
Droht ein finanzielles Desaster?
Tatsächlich warnen viele Beobachter vor einem finanziellen Desaster für die Stadt. Der Streit über die finanziellen Rahmenbedingungen trübt vielerorts die Vorfreude auf das Kulturhauptstadtjahr. In schneller Folge wechselten deshalb in den vergangenen Jahren die Direktoren an der Spitze des Projektes. Ende 2012 nahm Tomas Froyda frustriert seinen Hut:
"Hier – sagen wir – weil das Projekt überhaupt keine Bekanntheit hat unter der Bevölkerung und unter den Politikern haben alle davon die Hände gelassen. Diese Kultur interessiert uns nicht. Es war deshalb sehr schwierig die Regierung davon zu überzeugen, daß dies eigentlich nicht nur ein Projekt der Stadt ist."
Eine Tatsache, die auch Bürgermeister Martin Zrzavecky offen anspricht. Die Regierung in Prag habe das Kulturhauptstadtjahr nicht als ein nationales Projekt wahrgenommen. Die Hauptverantwortung für 2015 laste deshalb auf den Schultern seiner Stadt. Das Desinteresse der nationalen Politik habe auch die zeitgerechte Beantragung von EU-Fördergeldern in Brüssel verhindert:
"Die Unterstützung aus Europa und aus Prag ist nicht so, wie sie sein sollte. In anderen Ländern waren die öffentlichen und europäischen Zuschüsse viel viel höher. Die Stadt Pilsen trägt deshalb jetzt den Löwenanteil der Kosten. Wir sind sozusagen allein."
Im Streit um die Finanzen wurde deshalb in letzter Minute ein geplantes Schlüsselprojekt des Kulturhauptstadtjahres gestrichen. Die leerstehende Brauerei Svetovar sollte zu einer alternativen Kulturfabrik umgewandelt werden. Doch ohne die Gelder aus Prag und Brüssel ist die Renovierung nicht möglich, so die einfache Rechnung von Direktor Jiri Suchanek:
"Unser Gesamtbudget beträgt etwa 20 Millionen Euro. Die Hälfte dieser Summer kommt von der Stadt, 20 Prozent vom Kulturministerium und jeweils rund 5 Prozent stammen aus der Region und aus Brüssel. Der Rest von verschiedenen Sponsoren. Dieser Etat und die Zuschüsse sind also sehr viel kleiner als in anderen europäischen Kulturhauptstädten. Ich hoffe das Geld wird für unsere Pläne reichen."
Ein Extra-Programm soll auch Kinder und Jugendliche nach Pilsen locken
Hänsel und Gretel streiten mit der Hexe im Lebkuchenhaus. Der abgespeckte Etat für das Kulturhauptstadtjahr zwingt die Macher an vielen Stellen zum Rückzug auf das Bewährte. Das renommierte Puppentheater "Alfa" gehört zum Inventar der Stadt. Mit einem Extra-Programm soll es im kommenden Jahr viele junge Besucher nach Pilsen locken. Das interaktive Marionettenmuseum am Marktplatz ist eine zusätzliche Familienattraktion, weiß Museumsführerin Jaroslava Froydova:
"Das Puppentheater in Pilsen hat eine lange Tradition. Sie beginnt schon im 18. Jahrhundert. Die großen Persönlichkeiten dieser Kunstform sind hier zu Hause. Auch die legendären Puppen 'Spejbl und Hurvinek' wurden bei uns geboren. Wir Pilsener lieben und leben das Puppentheater bis heute."
Zur Geschichte der Stadt gehört auch eine lange jüdische Tradition. Nach Budapest ist die prächtig renovierte Synagoge in Pilsen die zweitgrößte in Europa. Sie überdauerte die Jahre der Besetzung, weil die Wehrmacht sie zur Lagerung von Kriegsmaterial missbrauchte. Heute ist die große Synagoge mit ihrer brillanten Akustik regelmäßig Schauplatz abwechslungsreicher Konzerte. Auch im Kulturhauptstadtjahr stehen alle Türen offen, so die Gemeindevorsitzende Eva Stixova:
"Wir werden die Besucher gerne über die lange jüdische Geschichte in Pilsen informieren. Es ist für unsere kleine Gemeinde mit nur noch 116 Mitgliedern ein großes Ereignis. Alle Menschen aus den Nachbarländern sind dazu eingeladen."
"Unser Kulturhauptstadtjahr ist ein solider Skoda"
Zwei Straßenbahnstationen von der großen Synagoge entfernt liegt das für die meisten Besucher bislang unbekannte Pilsen. In einem unbeheizten Nebengebäude des Südbahnhofs hat Roman Cernik mit vielen jungen Künstlern, Schauspielern und Musikern schon vor Jahren ein alternatives Kulturzentrum gegründet. In allen Räumen proben Bands, Theatergruppen und Tanzensemble.
"Die Kultur in Pilsen war immer ein Aschenbrödel. Wir waren eine Industriestadt und die Menschen sind am Freitag lieber in ihre Datscha aufs Land gefahren anstatt ins Theater. Aber so langsam ändert sich etwas. Es ist wichtig, dass neben der offiziellen Kultur es auch genügend Raum für alternative Kultur gibt. Wir arbeiten daran, das dies auch nach dem Kulturhauptstadtjahr erhalten bleibt."
Tatsächlich gibt es nicht nur den Südbahnhof als Zentrum alternativer Kultur in Pilsen. Ein Konzert der angesagten Rockband "Electric Lady" wird im kommenden Jahr ein Höhepunkt in der Papierfabrik. Mit Zuschüssen der Stadt wird die Industriebrache Stück für Stück renoviert. 2015 wird es dort eine Musikbar geben und im ersten Stock ein Loft für Ausstellungen und Konzerte. Bürgermeister Zrzavecky ist sich deshalb sicher: Trotz aller kulturpolitischer Querelen und der chronischen Unterfinanzierung wird sich seine Stadt im europäischen Kulturhauptstadtjahr gut präsentieren.
"Die Situation ist kompliziert für uns. Aber ich vergleiche es mit einer Autofahrt. Wir Tschechen fahren Skoda und nicht Mercedes wie in Deutschland. Unser Kulturhauptstadtjahr ist deshalb ein solider Skoda, der zu einem guten Preis gute Qualität bietet."
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