"Kultur als öffentliches Gut anerkennen"

Moderation: Frank Meyer |
In der Diskussion über die Aufnahme eines Staatsziels Kultur ins Grundgesetz hat Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) die ablehnende Haltung in den Reihen der CDU/CSU-Fraktion kritisiert. Die überparteiliche Enquete-Kommission habe sich bereits dafür ausgesprochen.
Frank Meyer: Für Deutschlandradio Kultur ist jetzt Wolfgang Thierse am Telefon, der stellvertretende Präsident des Bundestages und unter anderem Vorsitzender des Kulturforums der Sozialdemokratie. Wolfgang Thierse, wie sehen Sie diese Bedenken? Kann eine als Staatsziel festgeschriebene Kultur die Freiheit der Kunst gefährden?

Wolfgang Thierse: Was für eine eigentümliche Sorge. Wir haben in unserer Verfassung gewissermaßen als Staatsziel verankert das Sozialstaatsprinzip. Wir haben den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in unserer Verfassung als Staatsziel verankert. Es führt beides dazu, dass durch Fürsorge, durch staatliche Lenkung da Schaden produziert wird? Ich kann das nicht sehen, im Gegenteil. Staatszielbestimmungen formulieren ja keine einklagbaren Rechte gegen den Staat, aber sie verpflichten doch Politik auf diese Staatsziele. Und für die Kultur als – wie soll ich das nennen – geistig-ideelle Dimension unserer Lebensgrundlagen sollte doch dasselbe gelten wie für die natürlich-materiellen Grundlagen unseres Lebens.

Meyer: Thomas Steinfeld habe ich erwähnt, einer der beiden Feuilletonchefs der "Süddeutschen Zeitung", der hat seine Sorgen vorgeführt am Beispiel von Literaturwettbewerben, Beispiel Klagenfurter Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis. Er meint, da würde passgenau Wettbewerbsliteratur produziert für diesen Wettbewerb. Und er meint, wenn staatliche Förderung um sich greift, könnte das immer öfter passieren, dass passgenau sozusagen sich Kunst staatlichen Erwartungen oder Erwartungen von Förderung anschmiegt. Die Gefahr sehen Sie nicht?

Thierse: Die sehe ich nicht. Ich denke ganz anders. Wir müssen doch sehen, dass natürliche Ressourcen, Lebensressourcen, dass Bildung, dass innere und äußere Sicherheit, dass Kultur öffentliche Güter sind, deren Zugänglichkeit auch darüber entscheidet, welches Ausmaß an individueller Freiheit der Einzelne leben kann. Und indem wir Bildung, innere und äußere Sicherheit, auch Kultur als öffentliches Gut anerkennen, sagen wir zugleich, sie dürfen nicht gänzlich zur Ware werden, deren Erwerb alleine und vor allem vom Geldbeutel abhängt. Politik muss verantwortlich sein für die Zugänglichkeit dieser öffentlichen Güter. Und das gilt auch für Kultur, weil der Zugang zur Kultur eine wesentliche Grundlage freien, selbst verantworteten, aber auch gerechten menschlichen Lebens ist.

Meyer: Was nun diesen Zugang angeht bei den praktischen Fragen: Ihr Kollege, der Bundestagspräsident Norbert Lammert, der ist ja auch für ein Staatsziel Kultur, er ist aber auch skeptisch, das haben wir eben gehört, was die praktischen Auswirkungen angeht. Er meint, um die Haushaltsmittel für die Kultur muss dann genauso weitergestritten werden. Was denken Sie denn, welche praktischen Folgen hätte ein Staatsziel Kultur?

Thierse: Natürlich muss dann immer noch um die Haushaltsmittel gestritten werden, weil sie ja immer zu knapp sind. Aber in diesem Verteilungskonflikt ums zu knappe Geld, dieser Verteilungskonflikt ist ja ein wesentlicher Inhalt aktueller Tagespolitik jeweils. In diesem Verteilungskonflikt erscheint ja Kultur nicht als eine Pflichtaufgabe, sondern eben als eine Kür, etwa als das fünfte Rad am Wagen. Darauf kann man am Schluss, wenn das Geld nicht reicht, verzichten. Und eine Staatszielbestimmung Kultur würde Bund, Länder und Gemeinden, und die da Agierenden, in einem viel stärkeren Ausmaß dazu verpflichten, Kultur nicht immer hinten herunterfallen zu lassen, etwa zugunsten der sozialen Ausgaben, der Verkehrsausgaben, der Verteidigungsausgaben, was auch immer eine Rolle spielt auf welcher Ebene. Das ist der eigentliche politische Sinn einer solchen Staatszielbestimmung: eine höhere Verpflichtung, für Kultur Verantwortung zu haben, für sie zu sorgen, sie nicht zu kommandieren. Die Freiheit der Kunst wird gewährleistet, das ist ja ein Artikel in unserem Grundgesetz, der gar nicht angetastet werden soll, aber die materiellen Grundlagen der Freiheit, um die haben wir uns doch zu kümmern.

Meyer: Bei der Debatte jetzt, Wolfgang Thierse, ist auch der Vorsitzende des Bundestags-Sportausschusses Peter Danckert beigesprungen, auch aus der SPD. Er möchte nun gleichzeitig mit der Kultur auch den Sport als Staatsziel in das Grundgesetz aufgenommen sehen. Dafür gibt es prominente Unterstützer aus dem Sport, zum Beispiel Franz Beckenbauer, Lothar Matthäus, Matthias Sammer. Wie stehen Sie zu Kultur und Sport als Staatsziel?

Thierse: Wir sind ja in einer eigentümlichen Situation. Die Enquete-Kommission Kultur und überparteiliche Einrichtung, jedenfalls, wo alle Parteien versammelt sind und Fachleute, hat sich für eine solche Staatszielbestimmung Kultur ausgesprochen. Aus dem Bereich des Sports ist dieser Vorschlag gekommen. Es gibt des Weiteren noch auch den Vorschlag, die Kinder, die Kinderrechte in besonderer Weise auch im Grundgesetz zu verankern. Wir waren da schon im Parlament in einer sehr großen Übereinstimmung. Jetzt sehe ich mit einer großen Trauer, dass die CDU plötzlich alles ablehnt, selbst die Verankerung der besonderen Verantwortung für die Rechte und das Aufwachsen der Kinder will sie nicht mehr ins Grundgesetz haben. Das ist schon erschreckend, dass so etwas passiert. Weil es ja in all diesen drei Fällen, so unterschiedlich sie sind, immer darum geht, Kinder, Sport, Kultur, das ist immer jeweils etwas, was besondere Verantwortung, besondere Aufmerksamkeit verlangt, wo wir dafür sorgen müssen, dass das nicht vernachlässigt wird, wo wir dafür sorgen müssen, dass sie nicht das fünfte Rad am Wagen sind, wo die Ausgaben nicht immer für Drängenderes anders verwandt werden, sondern dass man einen besonderen Sinn, eine besondere Sensibilität für diese Bereiche politischer Aktivität entwickeln muss. Ich gestehe persönlich, dass ich das für Kultur und für die Kinderrechte in besonderer Weise sehe. Beim Sport denke ich immer, der ist so stark und so massenwirksam, dass unsere Sorge nicht ganz so groß sein muss wie bei den Kinderrechten und wie bei der Förderung von Kultur.

Meyer: Wie schätzen Sie denn die Lage im Parlament jetzt ein? Die SPD ist für ein Staatsziel Kultur, die FDP auch, die Union ist noch unentschlossen, obwohl ja die wichtigsten kulturpolitischen Köpfe der Union dafür sind – Kulturstaatsminister Bernd Neumann und eben Bundestagspräsident Norbert Lammert. Was denken Sie, wann wird sich die CDU/CSU-Fraktion durchringen zur Unterstützung eines Staatsziels Kultur?

Thierse: Ich kann das nicht sehen. Ich bin ja erstaunt und befremdet, dass nach so vielen Monaten, ja man muss sagen Jahren Diskussion darüber und dem Eindruck, dass wir uns verständigt hatten, dass es Einverständnis gibt, dass es plötzlich ein Nein aus der CDU/CSU-Fraktion gibt, alle drei Themen betreffend. Ich kann nur hoffen, dass der öffentliche Druck auf die CDU/CSU bei all diesen drei Themen so groß wird, dass sie endlich begreift, dass es politisch sinnvoll ist, in diesem Sinne Verfassungsänderungen vorzunehmen.

Meyer: Viele Beobachter meinen, es könnte in diesem Jahr, nach fast 25 Jahren Debatte um dieses Thema, es könnte in diesem Jahr die Kultur als Staatsziel ins Grundgesetz aufgenommen werden. Haben Sie die Hoffnung auch?

Thierse: Ich wünsche es mir sehr, ich bin gespannt, was sich in der CDU tut. Ich habe nicht vorhersehen können, dass am Schluss diejenigen, die da, wie soll ich sagen, fast betonköpfig ablehnen, so stark sind. Ich hoffe, dass da die Meinung sich noch ändert.

Meyer: Die Kultur muss als Staatsziel ins Grundgesetz, sagt der SPD-Politiker Wolfgang Thierse, der stellvertretende Präsident des Deutschen Bundestages. Ich danke Ihnen für das Gespräch.
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