Störungen mit einberechnen

Mit künstlicher Intelligenz zur pünktlichen Tram

06:27 Minuten
Oberleitungen der Straßenbahn vor dem Betriebshof der Halleschen Verkehrs AG
Straßenbahn-Oberleitungen vor dem Betriebshof der Halleschen Verkehrs AG: Wann und wie die Wagen fahren, könnte demnächst eine KI entscheiden. © picture alliance / dpa / Heiko Rebsch
Von Sven Kochale · 29.08.2022
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Lohnt es sich, dass der Anschlusszug auf die verspätete Tram wartet – oder führt das nur zu noch mehr Verkehrschaos? In solchen Fragen könnte eine KI schnell die optimale Entscheidung treffen. Im Netz der Halleschen Verkehrs-AG wird das ausprobiert.
Der Marktplatz in Halle: Hier kommen die Straßenbahnen im Minutentakt an oder fahren ab. Im Netz der Halleschen Verkehrs-AG (HAVAG) spielt die Haltestelle eine zentrale Rolle.
Der Leiter "Strategische Angebotsplanung" bei der HAVAG, Christian Rösel, spricht von einem Knoten. "Dort haben wir das höchste Umsteigevorkommen beziehungsweise die höchste Anzahl der Umsteiger und auch der Ziele“, sagt er. „Das kriegen wir aus unseren Verkehrsmodellen raus. Dort sehen wir das Fahrgastverhalten vom Fußgänger, vom Radfahrer, vom Nutzer des Autoverkehrs. Und wir versuchen dann natürlich auch, für uns den Fahrplan so darzustellen, dass möglichst auf diese Punkte dann unser Fahrplan beziehungsweise unser Liniennetz ausgerichtet ist."
Solche Knoten sollen sicherstellen, dass Fahrgäste immer Anschluss haben und ihr Ziel erreichen. Egal, von wo sie kommen und wohin sie wollen. "Hintergrund ist immer, dass wir eine durchgehende Reisekette für den Fahrgast abbilden wollen“, so Rösel. „Unabhängig, ob er mit der Straßenbahn fährt – oder mit der Straßenbahn und dem Bus als Anschlussverkehrsmittel verkehrt – oder, ob er nur mit dem Bus verkehrt." Deshalb werden die Fahrpläne immer wieder abgestimmt und können zum Beispiel langfristig geplante Großbaustellen oder Veranstaltungen berücksichtigen.

Störfälle bei Fahrplänen mit einberechnen

Doch vieles lässt sich schlicht nicht planen. Das können Rohrbrüche sein, klemmende Türen oder ein Straßenbahn-Unfall in der Nähe des Marktes, über den kürzlich in den Radionachrichten berichtet wurde.
"In Halle ist eine Straßenbahn entgleist und gegen eine Hauswand gefahren. Nach Angaben der Polizei wurden drei Menschen verletzt. Die Strecke über den Hallmarkt ist gesperrt. Mehrere Straßenbahnlinien werden über den Glauchaer Platz umgeleitet."
An dieser Stelle kommt der Wirtschaftsmathematiker Matthias Müller-Hannemann ins Spiel. Er nutzt regelmäßig die öffentlichen Verkehrsmittel und macht sich Gedanken über solche Störfälle. An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg beschäftigt er sich mit Künstlicher Intelligenz und Algorithmen.
Der Wissenschaftler sammelt und sortiert Verkehrsdaten und will erreichen, dass die Fahrpläne auch unter Stress funktionieren. "Wir bauen im Grunde genommen ein relativ komplexes Softwaresystem. Algorithmen können dann helfen, indem sie verschiedene Alternativen durchsimulieren, mehr als der Mensch in derselben Zeit per Hand oder per Kopf durchdenken kann“, erläutert er. KI könne an helfen, wenn man aufgrund von Vergangenheitsdaten beobachtet habe, was in den letzten Jahren typischerweise passiert ist. „Wie haben sich bestimmte Dinge entwickelt. Dass man auf diese Weise versucht, wesentliche Parameter zu lernen. Das nennen wir maschinelles Lernen. Dass man aufgrund dieser Beobachtungen Muster erkennt, die wir in unseren Algorithmen ausnutzen können, um sie in einer Simulation zu verwenden oder auch für die Optimierung."

Den Fahrplan „robust“ machen

Zuvor müssten Betriebsstörungen wie der Straßenbahnunfall allerdings erst im KI-System hinterlegt werden, mitsamt den Entscheidungsketten. Nur dann könne die Software Empfehlungen für künftige, ähnliche Situationen ableiten.
Der Informatiker spricht davon, die Fahrpläne "robuster" zu machen. Sie sollen weniger anfällig bei Störungen sein und im besten Fall den nächsten Anschluss sichern. "Bei der Anschluss-Disposition geht es um die Frage, ob ein Anschluss gehalten werden soll oder nicht. Wenn ich den Anschluss halte, freuen sich all diejenigen, die den Umstieg dann bekommen. Auf der anderen Seite erleiden all diejenigen, die im abfahrbereiten Zug sitzen, der jetzt warten muss und verspätet wird, eine Verzögerung, die sie sonst nicht hätten.“ Da gebe es also grundsätzlich einen Zielkonflikt. „Man kann es nicht jedem recht machen. Man kann nur versuchen, für die Allgemeinheit ein möglichst gutes Ergebnis zu machen."

Riesige Datenmengen schnell auswerten

Dafür müssten unzählige Simulationen durchgespielt werden, die schnell ein paar Minuten Rechendauer erfordern würden. Die Künstliche Intelligenz dagegen würde schon innerhalb von Millisekunden passgenaue Ergebnisse liefern und den Fahrplan optimieren. Bei der Halleschen Verkehrs-AG ist man für solche Methoden offen.
Bereits jetzt würden Busse und Bahnen ständig Daten über das Fahrgastaufkommen an die Leitstelle schicken, erklärt Verkehrsplaner Christian Rösel. "In unseren Fahrzeugen sind schon intelligente Systeme verbaut. Dort können wir andauernd die Fahrgäste messen, die in den Fahrzeugen sind. Wir haben aktuell einen Ausstattungsgrad von über 30 Prozent der Fahrzeuge mit solchen Einrichtungen. In der Leitstelle sieht man immer schon, wo jetzt eine volle Bahn ist – und wo kann es in nächster Zeit weiterhin zu vollen Bahnen führen. Da wir da aber eine Riesen-Datenmenge haben, braucht es dann die KI dazu, um das auszuwerten. Das kann dann ein Mitarbeiter nicht mehr. So etwas muss man dann über die Software handeln."
Und die KI könnte sogar noch mehr. Denkbar wäre zum Beispiel, dass sie die Reisenden zeitnah über den genauen Grund für die Verzögerungen informiert. Und sie könnte gleich noch die beste Alternative heraussuchen, als Push-Nachricht direkt auf das Smartphone. Denn viele Fahrgäste ärgern sich nicht über Verspätungen, sondern auch über die mangelnde Kommunikation.

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