Künstler zwischen Wort und Bild

"Es gibt viele Stufen der Lesbarkeit"

Auf dem Weg vom Buch zum eBook stecken kreative Möglichkeiten.
Auf dem Weg vom Buch zum eBook stecken kreative Möglichkeiten. © picture alliance / dpa / Axel Heimken
Von Astrid Nettling |
Das Buch sei im Zeitalter des E-Books im Niedergang begriffen, heißt es. Das klassische Medium Buch drohe zu verschwinden. Die Sendung begleitet Schriftsteller und Künstler, die sich auf ungewöhnliche Weise mit dem Buch beschäftigen.
Oliver Bendel: "Die meisten hatten in den letzten 50, 60 Jahren sehr billige Taschenbücher zu Hause, und ich finde, den Niedergang dieses Buchs müssen wir nicht beweinen. Trotzdem würde ich dem gedruckten Buch nachtrauern."
Oliver Bendel lebt als freier Schriftsteller in Zürich. Er ist einer der ersten deutschsprachigen Autoren, die speziell für das elektronische Medium geschrieben haben. Von ihm stammen eine Reihe von Handyromanen – "Lucy Luder", die dreiteilige Serie "Handygirl" – sowie einhundert Handyhaikus.
Bendel: "Ich hab' von Handyromanen um das Jahr 2007 gehört, also, relativ spät, denn in Japan hatte die Entwicklung schon einige Jahre vorher angefangen. Mir ging's um das Ausprobieren, um das Experiment, und dass es plötzlich Literatur fürs Handy gab, das hat mich gereizt."
Sprecher (Zitat Oliver Bendel):
"handyromane
sind fast so cool wie meine
– handyhaikus"
Rolf Steiner: "Ich kann jetzt nicht sagen, dass ich grundsätzlich gegen das eBook bin, aber ich brauche diese Haptik, ich erfreue mich daran, dass das Buch ein Gegenstand ist, dass es Seiten hat, die man aufblättern kann, dass es zwei Deckel hat, zwischen denen die Seiten verschwinden."
Rolf Steiner ist Schriftsteller und bildender Künstler. Seine Wohnung in Köln ist ihm Schreibstätte und Atelier zugleich. Dort setzt er seit Mitte der 90er-Jahre seine Texte auch ins Bild – sei es auf Papier, sei es auf Holz und erinnert daran...
Sprecher (Zitat Rolf Steiner): "... dass das Buch letztendlich ein Stück Buche, ein Stück aufblätterbares Holz ist."
Steiner: "Ich hab 'ne Serie von Bildern gemacht, wo ich mit Ölfarbe auf Holz gemalt habe und in diese frische Ölfarbe mit Buchstabenstempeln 'nen Text gedruckt habe, so dass dann auch ein Textbild entstand, was sehr haptisch war je nachdem, wie viel Farbe man genommen hat."
Hiroko Nakajima: "Zunächst habe ich ein Schriftzeichen vor mir, oder ich wähle ein Schriftzeichen aus, aber mit den Eindrücken, die ich aus der Natur habe, verbinde ich das, so wird aus dem Schriftzeichen ein Bild."
Sprecher (Zitat Paul Klee): "Schrift und Bild, Schreiben und Bilden sind wurzelhaft eins. Das bildnerische Werk entstand aus der Bewegung, ist selber festgelegte Bewegung und wird aufgenommen in der Bewegung."
Japanische Schriftzeichen mit fließender Bewegung
Diese Einsicht stammt von dem Maler Paul Klee. In ihrem Atelier in Köln mit Blick auf den Rhein macht die Sho-Künstlerin Hiroko Nakajima jeden Tag diese Erfahrung, wenn sie japanische Schriftzeichen mit Tusche und großem Pinsel in fließender Bewegung auf das Papier aufträgt.
Nakajima: "Sho-do, Sho-Malerei, unterscheidet sich von Kalligraphie, es ist nicht nur eine formale Disziplin wie die Kalligraphie, sondern man lernt seine Expression noch hineinzubringen, also, die eigene Ausdrucksweise. Es ist also ein kreatives Schreiben, wenn man so will."
Peter Wüthrich: "Ich schreibe ja nicht Bücher, ich nehme die Bücher als Material. Sei's jetzt von der Farbigkeit, sag' ich mal, Leineneinband, wie es bei uns so üblich ist, das sind ja wunderschöne Farben. Also, diese Leineneinbände, das sagt ja schon das Wort, sind eigentlich Leinwände. Wenn man sie an die Wand hält, wird es ein Bild."
"Literarisches Aquarell": Insgesamt 80 Bücher sind zu einem rechteckigen Mosaik auf der Wand angeordnet. Jeweils acht Bücher in zehn Reihen untereinander. Die Buchdeckel sind geschlossen, die Schutzumschläge entfernt, lediglich die Leineneinbände der Bücher sind zu sehen. Sie sind rot, in allen Schattierungen.
Wüthrich: "Das Buch hat dann noch 'nen weiteren tollen Effekt, dass es auch einen Körper hat, also, wie ein Baustein. Mit dem Baustein werde ich jetzt eigentlich zum Bildhauer. Ich hab' dann Material zur Hand, tonnenweise eigentlich, wie auch bei der Farbigkeit, da hab' ich 'ne Riesenpalette."
Seit mehr als zwanzig Jahren arbeitet der Künstler Peter Wüthrich ausschließlich mit Büchern. In den Regalen seines Berner Ateliers stapeln sie sich in rauen Mengen. Er holt sie sich aus Sammelstellen, wo sie zumeist nach Wohnungsauflösungen landen. Alle Bücher sind ihm recht, egal, was drinsteht.
Wüthrich: "EBook ist für mich eine komplett andere Dimension. Ich meine, anstelle ins Restaurant zu gehen und da gut zu dinieren, nehme ich dann vielleicht ein Fastfood oder so etwas, obschon ich natürlich weiß, dass im eBook der Stoff genau derselbe ist. Für mich geht etwas ganz Fundamentales verloren dabei, das Blättern, und ich weiß nicht, was alles, es ist einfach was ganz Sinnliches."
Bücher – lange gehörten sie wie selbstverständlich zu unserem Leben. Bücher in allen Formen und Farben, dicke Bücher, dünne Bücher, schwere und leichte, Bücher mit Deckeln aus Pappe oder mit Leinen überzogen.
Rolf Steiner: "Ein Buch ist einfach für mich ein Schatz, der eine fremde Gedankenwelt beinhaltet, insofern ist ein Buch auch ein Behältnis von fremden Gedanken, unzähligen vielen Gedanken, und als Behältnis muss es ein Volumen haben, wo sinnfällig diese ganzen fremden Gedanken drin aufgehoben sind. Aber das spielt alles 'ne Rolle, weswegen ich mir nie ein eBook kaufen würde."
Das physische Buch ist in die digitale Welt gezogen
Längst ist das physische Buch aus unseren Wohnungen und Bibliotheken auch in die digitale Welt der elektronischen Medien gezogen. Dort ist es als eBook auf Handys, Smartphones, Tablets gespeichert – den selbstverständlichen Begleitern unseres heutigen mobilen Lebens.
Oliver Bendel: "Ich selber gehöre noch 'ner Generation an, die selber Bücher massenhaft gesammelt hat. Die Zeiten sind vorbei, wenn wir Besuch haben zu Hause, ist niemand wegen der Bücher beeindruckt, sie fragen dann höchstens, wo ist das Tablet, aber mit den Büchern lässt sich kein Eindruck mehr schinden."
Die Geräte sind zumeist schwarz, wiegen so gut wie nichts und sind flacher als ein Handteller. Ein leichter Fingerdruck und die "flat world" des riesigen Cyberspace leuchtet auf ihren kleinen Bildschirmen auf. Dort lebt auch "Handygirl", die Protagonistin aus Oliver Bendels gleichnamigem Handyroman. Ein hübscher schwarzhaariger Avatar, der im Handy von Liza, seiner vierzehnjährigen Besitzerin, zu Hause ist.
Sprecher (Zitat Oliver Bendel): "Wenn das Handy aus ist, trottet sie durch das Gehäuse der Nacht. Sie legt sich auf den Boden und versucht in den Schlaf zu sinken. Aber durch den Boden fließt der Strom, und von der Decke tropfen schleimige Pixel. Manchmal schreckt sie hoch, springt auf mit ihren dünnen Beinen und starrt gegen die schwarze Wand. Da ist normalerweise das Fenster zur Welt."
2008 ist "Handygirl" erschienen. Vertrieben wurde der Handyroman über Premium-SMS-Dienste, über die man auch Klingeltöne, Logos und Videos herunterladen kann.
Bendel: "Das Ganze funktionierte so: Man hat einen bestimmten Code geschickt an eine bestimmte Telefonnummer, und dann bekam man innerhalb von ein, zwei Sekunden dieses Buch aufs Handy geschickt. Trotzdem war mir wichtig, das Buch an sich nicht zu sehr zu verletzen. Ich würde auch wirklich von Buch sprechen nach wie vor. Was ich eingebaut hab' in meine Serie 'Handygirl' waren Emoticons, Smileys beispielsweise aller Art. Das hing aber auch zusammen mit der Geschichte, die ich zu erzählen hatte. Es ging um ein Mädchen, das sehr viel, sehr gerne über SMS kommuniziert hat."
Sprecher (Zitat Oliver Bendel): "Wenn eine SMS eintrifft, sagt Handygirl zu Liza: Du hast eine Nachricht bekommen! Wenn Liza will, liest sie die Nachricht vor. Bei jedem Smiley verzieht sie das Gesicht. Sie zwinkert, lacht, staunt, weint. Egal wie ihr zumute ist. Das ist einer der härtesten Teile des Jobs."
Bendel: "Das Medium war damals noch recht beschränkt, man musste für ein sehr kleines Display schreiben, man musste deshalb kurze Sätze verwenden, sehr prägnant schreiben. Es waren eben trotzdem lange Texte, es waren lineare Texte, und in diesen linearen Texten musste man sich aber wahnsinnig schnell vorwärts bewegen. Mit dem Handy saß man im Bus, in der Tram oder im Zug und hat gelesen."
Hiroko Nakajima liebt die Nähe zum Wasser
Von den drei großen Atelierfenstern am Kölner Rheinauhafen hat man einen wunderbaren Blick auf das alte Hafenbecken und den dahinterliegenden Fluss. Hiroko Nakajima liebt diese Nähe zum Wasser, liebt überhaupt die Natur.
Nakajima: "Ich gehe in die Natur und lasse mich von der Natur inspirieren und bestimmten Bildern, die mich sehr beeindrucken. Wie auch ein alter Baum, der mir sehr, sehr gut gefiel, ein Baum, der bestimmt 500 Jahre alt war. Die Gestalt und die Form des Baumes, die haben mich so angesprochen, dass ich den Baum umfasst habe, und hab' dadurch gespürt, welche Kraft dahinter steckt und wieviel Energie, wieviel Leben dieser Baum in sich hatte."
Aus dieser Begegnung im letzten Sommer in Südfrankreich ist ein drei Meter hohes und 2,5 Meter breites Tuschebild entstanden.
Nakajima: "Das Schriftzeichen für Baum ist eigentlich ein sehr einfaches Schriftzeichen, ein Querstrich, ein vertikaler Strich und dann zwei diagonale Striche nach links und rechts."
"Baum" – mit kräftigem Schwung hat sich ein Strom tiefschwarzer Tusche dreiarmig über die weiße Fläche des Papiers ergossen. Deutliche Tropfspuren an den Enden der etwa 30 cm breiten Tuschebahnen und verstreute Spritzer hier und da auf dem Papier zeugen von der raschen Bewegung ihres Pinsels.
Nakajima: "Ich finde sowieso einfache Schriftzeichen sehr, sehr schön, weil man noch mehr damit sich ausdrücken kann und nicht sich in der komplizierten Konstruktion des Schriftzeichens verliert."
Ein großes, weißes Blatt liegt vor ihr auf dem Boden. An den vier Ecken ist es mit kleinen Sandsäcken beschwert, damit es sich nicht aufrollt. Ein Eimer mit vorbereiteter Tusche steht daneben. Barfuß und mit tänzerischen Schritten bewegt sich die Künstlerin beim Malen über das Blatt.
Nakajima: "Ich benutze einen sehr großen Pinsel, die Haare sind aus Pferdehaar und etwa dreißig Zentimeter lang. Wenn dieser Pinsel in Tusche eingetaucht ist, das wiegt natürlich einiges, etwa fünf Kilo, und damit muss ich arbeiten, mich konzentrieren, über das Papier mich bewegen. Es gibt auch keine Korrektur, ich male in einem Fluss, ohne den Pinsel abzusetzen. Der körperliche Einsatz ist dabei sehr, sehr wichtig, weil in diesem Moment Geist und Körper zusammen funktionieren müssen, nur in diesem einen spontanen, kurzen Moment."
Zitat Paul Klee: "Schrift und Bild, Schreiben und Bilden sind wurzelhaft eins."
Daran hatte Paul Klee erinnert. In Hiroko Nakajimas Kunst wird dies sinnfällig, wenn sie die Schriftzeichen so stark verändert, dass sie ihre Lesbarkeit verlieren und wieder zu einem unmittelbar bildnerischen, sinnlich erfahrbaren Ausdruck ihres Erlebens werden.
Nakajima: "Für die Japaner ist die Lesbarkeit des Zeichens sehr wichtig, sie wollen immer hören, was ist das für ein Zeichen, um dieses Zeichen dann wiederzuerkennen. Aber das ist nicht der Sinn meiner Arbeit. Das Zeichen ist sowieso so stark aufgelöst, dass man das gar nicht mehr lesen kann. Wenn man die Bilder betrachtet, dann soll es eine direkte Konfrontation zwischen Betrachter und dem Bild sein und nicht durch eine vorweggenommene Erklärung irgendein Bild hervorrufen, was der Betrachter darin zu sehen hat."
Auf dem Rückweg am Rheinufer entlang, der längst gewohnte Anblick von Menschen, die gebannt auf die Bildschirme ihrer Handys und Smartphones starren – blicklos für ihre Umgebung, blicklos für den Fluss, für die baumbestandenen Wiesen am Ufer gegenüber. Wie einverleibt von der ding- und körperlosen Welt auf ihren digitalen Geräten.
Mit Stechbeil und Hammer bearbeitet er die Holzplatte
Schon im Treppenhaus ist es zu hören. Das Schlagen von Stechbeitel und Hammer. Damit bearbeitet Rolf Steiner die Oberfläche einer großen Holzplatte. Auf das Holz und auf die reliefartigen Erhebungen, die er stehenlässt, setzt er seine Texte. Entweder mit Buchstabenstempeln in die später aufgetragene Ölfarbe oder mit Schlagbuchstaben aus Metall, deren Formen er in das Holz treibt. Untätig bleibt an diesem Tag die alte mechanische Schreibmaschine mit extra breitem Schlitten für große Blattformate. Darauf tippt er zumeist kurze Texte ohne Zeilen- und Buchstabenabstände. Lediglich die unterschiedliche Anschlagstärke bringt feine Schattierungen in die schwarzen Textblöcke.
Steiner: "Den Impuls, warum ich sozusagen beidgleisig fahre, den kann ich eigentlich gar nicht sagen, es kam einfach im Laufe des Schreibens. Jedenfalls war der Impuls da, mit den Texten, die ich geschrieben habe, damit bildnerisch was anzufangen, also, die ins Bild zu setzen oder die bildnerisch zu bearbeiten."
Sprecher (Zitat Rolf Steiner): "Seit Tagen landen immer wieder Vögel auf meiner Schulter. Heute morgen sagte die Eule: Damit sich der Text mit dem Bild verbindet, muss er die Form deiner Unformen annehmen. Morgen wird ein Specht an meine Schläfe hämmern: Ratatatata, so muss der Text ins Holz! Übermorgen wird ein Sperling raten: Streue die Buchstaben aufs Relief wie Samenkörner auf den Acker. Wenn Schlagen und Schreiben ein Ende haben, werden die Krähen kommen: Blau eingefärbt sollen die Buchstaben sein, tiefer eingeschlagen, nein, nicht so tief, nur ganz flach, einem Flüstern gleich. "
Steiner: "Allen diesen Verfahren ist gemeinsam, dass es mir darum geht, dass der Text zum Material wird. Er muss partiell seine Bedeutung und seine Lesbarkeit verlieren, damit er sich mit dem Bild verbindet und kein Fremdkörper bleibt. Wenn der Text vollkommen lesbar ist, dann passiert es sofort, dass der Betrachter den Text zu lesen beginnt, und im gleichen Moment ist er aus dem Bildnerischen schon wieder raus. Das versuch' ich halt dadurch zu verhindern. Und da gibt es natürlich viele verschiedene Stufen der Lesbarkeit oder Nicht-Lesbarkeit."
"Pertolzhofen" – ein Holzrelief, 114 x114 cm. Auf der mit dem Stechbeitel grob bearbeiteten Holzfläche treiben längliche Formen durch das Bild. In die Holzfläche hinein wurden teils einzelne Schlagbuchstaben, teils schwer lesbare Textcluster getrieben, die sich stellenweise über die reliefartigen Formen hinziehen. Hier und da liegt helles Blau wie ein zarter Schleier über den Buchstaben.
Steiner: "Für mich ist es so, wenn der Text als Bild im Bild existiert, hat er für mich ein Geheimnis. Das Geheimnis, das gerade dadurch entsteht, dass man ihn nicht lesen kann, dass er nicht entzifferbar ist, nur unter großen Mühen. Über diesem Textbild liegt dann seine Bedeutung wie Dunst. Man kann sie erahnen, und das ist für mich gerade das Spannende daran.
Ein Schwarm schwarzer Bücher hat sich niedergelassen
Eigentlich handelt es sich um die Quadratur des Kreises, das Ideal wäre eigentlich, dass Text und Bild sich völlig durchdringen und keines zugunsten des anderen Abstriche machen muss. Aber das hab' ich bis jetzt noch nicht geschafft."
Ein Geheimnis wahren auch die Bücher von Peter Wüthrich. In seinen Arbeiten und Installationen sind sie zumeist geschlossen. Man sieht die Farben der Einbände und ihre Gestalt. Doch man erfährt nicht, welche Literatur in ihnen steckt.
Wüthrich: "Diese Nichteinsehbarkeit von den Büchern kommt davon, dass ich halt sage, na gut, das sind meine Schauspieler, da guckt man jetzt mal nicht rein. Die machen vielleicht Pantomime oder so, aber die sind geschlossen. Diese Geschlossenheit hat dann wirklich so eine Funktion, wo man sich halt was vorstellen soll. Ich finde, ja, mein Gott, heute ist alles erklärt, ist doch schön, wenn man sich mal vorstellt, was könnte da drin sein."
Was könnte drin sein in den Büchern, die sich in Museums- und Ausstellungsräumen als leuchtend farbige Wand- und Bodenmosaike ausbreiten? Was könnte drin sein in den wie massive Bauwerke aufeinandergeschichteten Buchkörpern, die dem Betrachter lediglich ihre blassen Schnittkanten zeigen? Doch neben Farben und Formen kennt der Künstler noch eine andere Weise, mit Büchern umzugehen.
Wüthrich: "Jetzt, wenn ich das Buch öffne, komme ich zur Hauptsache dieses Gegenstandes, des Inhaltes, und der ist ja sowieso grenzenlos, dass ich mir z.B. gesagt habe, was ist denn eigentlich das Wort in dem Zusammenhang. Fast gleichzeitig als ich eine Fotoserie begonnen habe, nämlich die Bücher in die Luft zu werfen, wenn sie dann fliegen, und ich ein Photo mache von denen, ganz schnell natürlich, sehen die aus wie ein fliegender Vogel, und dann hab' ich per Zufall gesehen, dass die Ägypter z.B. sagen: 'Das Wort kommt als geflügeltes Wesen zu den Menschen.'"
Aus dieser Fotoserie entstand 2004 für eine Ausstellung in Straßburg die Installation "Mes amis".
Hoch unter der Decke hat sich auf den zahlreichen weißen Trägerbalken ein Schwarm Bücher niedergelassen. Sie sind schwarz. Ihre Buchdeckelflügel sind leicht gespreizt und lassen ihr weißes Blattgefieder hervorblitzen.
Wüthrich: "'Mes amis' das ist klar, wie das Wort schon sagt, das sind ja meine Freunde. Es gibt ganz verschiedene Konnotationen an Viktor Hugos 'Notre Dame de Paris', wo er z.B. sagt, wo die Buchdruckerei erfunden wurde: 'Jetzt schwärmen die Bücher aus in alle Himmelsrichtungen und werden sich niederlassen wie Schwärme von Vögeln.' Komischerweise, das hab' ich alles nicht zuerst gefunden, sondern wirklich erst im Verlauf meiner Arbeit finde ich eigentlich diese Sentenzen. Es ist traumhaft die Literatur, dort drin findet sich eigentlich meine ganze Arbeit wieder, man muss es nur finden."
Schwarz und weiß sind auch die kleinen Pixelquadrate, die sich seit einiger Zeit auf Automaten, Anzeigentafeln oder Plakatwänden niederlassen. Geht man durch die Stadt, entdeckt man sie überall. Sogenannte QR-Codes, deren geheimnisvolle Muster man mit Handy oder Smartphone einscannen und mit einem geeigneten Reader in eine lesbare Botschaft verwandeln kann. Oliver Bendel hat sich von ihnen inspirieren lassen.
Bendel: "Ich hab' 2010 einen gedruckten Handyhaikuband herausgegeben. Ich habe die Haikus abgedruckt auf jeder Seite eines, und über diesem Haiku stand jeweils ein QR-Code. In diesem QR-Code war nichts anderes enthalten als das Haiku selbst. Mir ging es darum, von diesem physischen Objekt, von diesem Buch aus, eine Verbindung zu schaffen zum Handy. Man konnte also mit einem Scan dieses Haiku aus dem QR-Code heraus befreien förmlich, auf das Handy holen und dann auch vom Handy aus weiterschicken auf ein weiteres Handy.
Überhaupt faszinieren mich QR-Codes. Man muss vorher also wissen, wie dieser QR-Code, diese quadratische Struktur, aussieht, wenn man das aber weiß, kann man mit beliebigen Substanzen und Trägern arbeiten. Ich habe QR-Codes gezeichnet, ich habe QR-Codes mit Klebefilm gelegt, oder z.B. im Sommer am Strand kann man mit Hilfe von nassem Sand QR-Codes bauen, die dann am Ende wirklich funktionieren, die maschinenlesbar sind."
Sprecher (Zitat Oliver Bendel):
"pixeliger sand
schwarze vergaenglichkeit die
durch die finger rinnt"
Während einer Dichterlesung, in der Oliver Bendel seine Haikus vortrug, sprühte ein Künstler mit Hilfe von Schablonen einen von ihm vorher aus dem Handyhaikubuch ausgewählten QR-Code auf eine Leinwand. Nach einer Stunde war die Lesung beendet und auch das schwarz-weiße Pixelquadrat fertig.
Bendel: "Es hat fürchterlich gestunken, wir waren halb vergiftet am Ende, aber das Tolle war, es hat funktioniert. Die Leute konnten diesen QR-Code einscannen und konnten sich ihr Gedicht mit nach Hause nehmen. Man kann mit QR-Codes überhaupt wundervolle Kunstexperimente machen."
Sprecher (Zitat Oliver Bendel):
"ich setze eine
tradition fort die ich nicht
kenne oh freiheit"
Vielleicht eine Chance, kostbare Bücher zu drucken
Die Freiheit eröffnet also viele Wege – des Buchs, der Wörter und der Zeichen. Wege von der Lesbarkeit in den bildnerischen Raum der Kunst mit ihrer bedeutungsoffenen und stofflichen Wirklichkeit. Wege, die mit Druck- und Schlagbuchstaben, mit Klebefilm und Farbe, mit dem Buch selbst als "ready made", auf Fußböden und Wand, auf Leinwänden, in Holz oder Sand beschritten werden. Oder wie in der Kunst von Hiroko Nakajima mit Pinsel und Tusche auf Papier.
Nakajima: "Mit Tusche kann man sehr viel machen, man kann malen, man kann sehr feine Linien machen, sehr breite Linien machen, und das Wichtigste ist der Pinsel, die feinen Haare, die Größe des Pinsels, die Länge der Haare, sie ermöglicht einfach, sehr viele Arten der Striche oder Bilder darzustellen. Es ist bei diesen Schriftzeichen einfacher, sie in Bilder umzuwandeln, weil die Materialien dazu die Voraussetzungen geben."
Aber ebenso weisen die bildnerischen Wege der Kunst in den imaginären Raum der Literatur mit ihren sinnstiftenden Zeichen und Wörtern. Weisen in einen Raum, dessen reiche Gedankenwelten jahrhundertelang das klassische Medium Buch zwischen seinen beiden Deckeln geborgen hat.
Sprecher (Zitat Rolf Steiner): "Da liegt es nun, das Buch, Endpunkt einer langen Entwicklung und, wie das Rad, handwerklich vollkommen ausgereift. Man sollte es in Gießharz gießen und den durchsichtigen Block an die Wand hängen."
Steiner: "Es ist wahrscheinlich so, dass es einfach auch Gewohnheit ist und die Menschen, die jetzt nicht mehr mit Büchern aufwachsen werden, sondern nur noch mit dem eBook, die werden das Buch als solches als Objekt auch gar nicht vermissen."
Wüthrich: "Ich seh' eigentlich da gar keinen Niedergang, die Generation jetzt, die liest halt anders, das ist einfach ein anderes Medium geworden. Dass ich da ein bisschen romantisch natürlich diesen alten Formen von Büchern nachhänge, das empfinde ich selbst gar nicht so richtig, weil ich das nicht so von außen sehe. Ich sehe einfach diese Welt der Bücher, die für mich nach wie vor ein irrsinniger Ozean ist, der sich da um mich tummelt, und ich glaub', solang ich das noch machen mag, gibt's die da noch."
Bendel: "Ich glaube, das gedruckte Buch wird als Nische bestehen bleiben, und vielleicht haben wir sogar die Chance wieder, besonders kostbare Bücher zu drucken. Ich könnte mir vorstellen, dass in Buchhandlungen Druckmaschinen wären, wo wir unsere Bücher nach unserem Geschmack ausdrucken könnten mit der Schrift, die wir haben wollen, mit den Farben, die wir haben wollen, mit dem Einband, den wir haben wollen. Und wir könnten, so wie Gutenberg das früher gemacht hat, dann auch im Buch bestimmte Stellen aussparen und unsere Freunde, Freundinnen einspannen, dort kleine Kunstwerke zu hinterlassen."
Es bleibt also noch Spielraum genug für das Buch – sogar oder gerade in Zeiten des eBooks. Man muss ihn nur entdecken und zu entfalten wissen. Ungewöhnlichen Spielraum hat das Buch auch bei Rolf Steiner gefunden. In einem Objekt, das er für ein Kunstprojekt im nächsten Jahr entworfen hat.
Steiner: "Ein einfacher wie von Kinderhand geschneiderter himmelblauer Anzug mit weißen, wolkenähnlichen Flecken. Überall – auf der Brust, auf den Oberschenkeln, auf den Ärmeln – sind Taschen aufgenäht. Insgesamt hat er 34 Taschen. Jede Tasche kann zwei bis drei Bücher aufnehmen. Die Tasche am rechten Unterarm ist dem Register vorbehalten.
Der Anzug ist Teil eines Projektes, nämlich 'Der schwarze Turm' – 'Der schwarze Turm' ist der Titel eines Essays über das Lesen und das Buch, und zu diesem Essay werde ich eine Ausstellung machen mit verschiedenen Objekten, die in dem Essay vorkommen, und darunter ist dann auch dieser Anzug. Was mir bei dem Anzug wichtig ist, dass er auch so eine Art Aura schafft, mit der ich mich umgebe. All die Bücher, die in diesem Anzug stecken, sind letztendlich geistige Weggefährten oder geistige Blutsbrüder und schwestern, und mit denen umgebe ich mich gerne, und dafür ist der Anzug ein Sinnbild."
Sprecher (Zitat Rolf Steiner):
"Dasjenige, das ich im Moment lese, ist mir stets das Liebste. Und das steckt dann in der Herztasche. Nachdem ich es zu Ende gelesen habe, wandert es in die nächste Tasche, und ein anderes nimmt seinen Platz in der Herztasche ein. So zirkulieren die Bücher über die Jahre durch den Anzug."
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