Schengenland Kroatien

Sind Pushbacks jetzt Geschichte?

21:38 Minuten
Ein Grenzübergang, an dem ein 30-km-Tempo-Schild neben einem weiteren Schild steht, auf dem in vier Sprachen - auch der kroatischen - Freie Durchfahrt steht.
Freie Fahrt für Kroatien : Am 1. Januar 2023 wurde am kroatischen Grenzübergang Bregana an der Grenze zu Slowenien gefeiert. © Imago / Pixsell / Luka Stanzl
Von Silke Hahne · 01.02.2023
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Kroatien ist seit Beginn des Jahres Mitglied der Schengenzone. Lange stand das EU-Land unter Verdacht, an der Grenze zu Bosnien und Herzegowina Pushbacks durchzuführen. Die ist jetzt neue Schengen-Außengrenze. Was bedeutet das für Schutzsuchende?
Auf einer Anhöhe an der neuen Schengen-Außengrenze in Kroatien steigt eine Drohne in die Luft. Um das Grenzgebiet zu überwachen, hat die kroatische Polizei über die letzten Jahre technisch aufgerüstet. Sogar mit Nachtsichtkamera ist die Drohne ausgestattet. Die kroatische Grenzpolizei zeigt das moderne Equipment gerne her.
Damir Butina von der Einheit in Cetingrad zeigt ins Tal: „Der kleine Bach da unten hinter der Straße: Das ist der natürliche Grenzverlauf zwischen Bosnien und Herzegowina und Kroatien.“
Unten im Tal reihen sich ein paar Bäume um den Bach, dahinter steigt ein Hügel an, auf dem ein paar verstreute Häuser stehen. Der Hügel gehört zu Bosnien und Herzegowina.
„Wenn wir Migranten sehen oder verdächtige Personen, die auf die Grenze zugehen, dann gehen wir auch Richtung Grenze. Und in 99 Prozent der Fälle kehren die illegalen Migranten dann um und verlassen den Bereich“, erzählt er. „Aber natürlich können wir die Grenze nicht zu 100 Prozent schützen. Manchmal betreten sie Kroatien und dann bringen wir sie zur Wache und sind natürlich verpflichtet, die üblichen Verfahren einzuleiten.“
So wie Butina seine Arbeit und die seiner Kollegen schildert, klingt sie wenig aufsehenerregend. Ihm zufolge geht hier alles ganz geordnet zu.

Kroatische Polizei bestreitet Pushbacks

Dabei stand Kroatien noch vor nicht allzu langer Zeit massiv in der Kritik.
Pushbacks, völkerrechtswidrige Abschiebungen wurden dokumentiert. Von Medien, aber auch vom Anti-Folter-Komitee des Europarats. In einem knapp 40-seitigen Bericht hielten die Mitglieder die systematischen Menschenrechtsverstöße an der kroatischen Grenze fest.
Zwischendurch sah es so aus, als könnte das Dokument den Schengen-Beitritt Kroatiens torpedieren. Doch es kam anders. Heute tut die Polizei die Gewalt als Einzelfälle ab. Pushbacks gebe es nicht.
Wer aber ein paar Tage in der Grenzregion unterwegs ist, bekommt einen anderen Eindruck.

Ein ausgebrannter Bus als Schlafplatz

Hinter dem Busbahnhof in der bosnischen Stadt Bihać verteilt Assim Karabegović von der Hilfsorganisation SOS Balkanroute Kleidung an ein halbes Dutzend junger Männer. Überall liegt Müll. Ein ausgebrannter Bus dient den Geflüchteten in der folgenden Nacht als Schlafstätte.
Ein ausgebrannter Bus in der Grenzregion zu Kroatien
Grenzgebiet zu Kroatien: Wie ein Ort zum Schlafen sieht der ausgebrannte Bus nicht aus. © Silke Hahne / ARD-Studio Wien
„Nach einem Pushback brauchen sie ein paar Tage, um sich zu erholen“, erzählt er. Baba Assim wird der 62-Jährige genannt, wegen seiner väterlichen Fürsorge für die Migranten. Wie ein Ort zum Erholen sieht der ausgebrannte Bus aber nicht aus.
„Nachdem die Kroaten pushbacken, kommen sie hierher und warten wahrscheinlich darauf, vom Ausländeramt abgeholt und ins Camp Lipa gebracht zu werden. Denn das ist 25 Kilometer entfernt und sie wollen nicht zu Fuß zu gehen“, erklärt Assim Karabegović.
Das Camp Lipa – einst bekannt für schreckliche Lebensbedingungen – wurde nach einem Brand mit Geld aus Europa wiederaufgebaut. Es liegt mitten im Nirgendwo, in der bergigen Einöde hinter Bihać, neben einem Waldstück, das noch aus dem Bosnienkrieg vermint ist.

Das Hin und Her der Geflüchteten

Vor den Toren des Flüchtlingscamps steht ein kleiner improvisierter Zelt-Supermarkt, daneben eine verbarrikadierte Wellblechhütte, der „Game Shop“.
„The Game“, das Spiel – so nennen die Migranten und Geflüchteten das Hin und Her ihrer Flucht durch Europa: Grenzübertritt, Pushback, Grenzübertritt, Pushback. Aus dem Wort spricht Bitterkeit. Der Versuch, sich durch Ironie davon zu distanzieren, was ihnen widerfährt. Im Game-Shop und im Supermarkt kaufen die Lager-Bewohner ihren „Spielebedarf“, wenn man so will: Alles, was sie für ihren nächsten Fluchtversuch brauchen. Essen und Schlafsäcke zum Beispiel.
Mohammed aus Tunesien ist seit drei Monaten in Bosnien und Herzegowina und war seitdem vier Mal in Kroatien, sagt er. Jedes Mal habe ihn die Polizei aufgegriffen und zurück zur bosnischen Grenze gebracht.

Zwei Mal haben sie mir Handy und Geld abgenommen, zwei Mal nicht. Gewalt habe ich nicht erfahren, aber mein Bruder. Sie haben ihn mit Stöcken geschlagen. Zu uns haben sie gesagt: Nehmt den Weg hier und kommt nicht wieder.

Mohammed, Informatiker aus Tunesien

Der studierte Informatiker will nicht aufgeben. Sein Ziel: Frankreich. Bis er den nächsten Grenzübertritt wagt, will er aber noch warten. „Wir warten auf Neuigkeiten. Ein paar Leute haben gesagt, wenn Kroatien im Schengenraum ist, wird es einfacher über die Grenze zu kommen“, sagt er.
Informatiker Mohammed aus Tunesien bei einem Interview
Er will nach Frankreich: Der Informatiker Mohammed aus Tunesien hat schon vier Mal versucht, durch Kroatien zu kommen.© Silke Hahne / ARD-Studio Wien
Jetzt, kurz nach dem Beitritt, ist die Informationslage noch dünn und so wartet Mohammed noch. Bis sich andere über die Grenze trauen und er abschätzen kann, wie viele es schaffen und wie viele zurückkommen. Kurz vor Kroatiens Schengenbeitritt seien relativ wenige zurückgekommen, sagt Mohammed. Wenige Pushbacks also.

Weniger Menschen vor Beitritt aufgehalten?

Das würde erklären, warum Camp Lipa momentan eher leer ist. Rund 130 Betten sind belegt. Ausgelegt ist das Camp auf 1500 Menschen. Insgesamt halten sich in den provisorischen Aufnahmezentren in ganz Bosnien und Herzegowina gegenwärtig nur rund 1200 Menschen auf. Ein massiver Rückgang im Vergleich zum Herbst: Da waren es drei bis vier Mal so viele.
Nachdem Flucht und Migration während der Corona-Pandemie schwer möglich waren, setzten sich 2022 wieder mehr Menschen in Bewegung. Und die Wiener Migrationsforscherin Judith Kohlenberger glaubt, dass Kroatien die Geflüchteten und Migranten vor seinem Schengenbeitritt ganz bewusst auf dem Weg nach Norden nicht aufgehalten hat, um ein negatives Bild nach dem 1. Januar zu vermeiden.
„Weil, wenn dann nämlich die Übertrittszahlen und somit auch die Ankunftszahlen höchstwahrscheinlich in anderen westeuropäischen Ländern gestiegen wären, dann hätte man sehr schnell den Schuldigen ausgemacht und das wäre Kroatien gewesen“, sagt sie.
Somit habe sich der Schengenbeitritt Kroatiens auf der sogenannten Balkanroute vor allem vor dem 1. Januar ausgewirkt. Weitere Folgen erwartet Kohlenberger vorerst nicht. „Aber, dass die Balkanroute gar nicht mehr relevant ist für Migrationsbewegungen in die EU, das sehe ich auf absehbare Zeit nicht“, erklärt sie.
Und damit wird auch das menschliche Elend nicht enden, das im Grenzgebiet an der Tagesordnung ist.

„Man muss sie anflehen zurückzugehen“

Eine Ahnung davon bekommt man in Bosnien und Herzegowina, wenn man Camp Lipa verlässt. Ein VW-Bulli rumpelt durchs Grenzgebiet. Am Steuer: der bosnische Grenzpolizist Hassan Bašanović. Er fährt hier regelmäßig die Feldwege ab oder durchstreift mit Kollegen die Wälder.
Blick auf Camp Lipa im bosnischen Hinterland
Camp Lipa im bosnischen Hinterland ist momentan eher leer. Ausgelegt ist das provisorische Aufnahmezentrum auf 1500 Menschen.© Silke Hahne / ARD-Studio Wien
„Das größte Problem sind die Frauen und Kinder, wenn wir sie hier im Gebüsch finden. Sie geben sich widerwillig. Es lohnt sich kaum, ihnen zu erklären, dass der Fluss, das Wasser auf sie warten. Dass sie die Grenze nicht so leicht passieren können mit den kleinen Kindern: acht oder neun Monate, ein, zwei, drei Jahre alt. Man muss sie bitten, anflehen zurückzugehen.“, sagt er.
Über Pushbacks möchte Bašanović nicht explizit sprechen. Er sagt nur so viel: Es kämen Migranten aus Richtung kroatischer Grenze zu Fuß. Als Beitrittskandidat zur EU ist Bosnien und Herzegowina dazu angehalten, die europäische Linie mitzutragen und die bringt Länder in ganz Südosteuropa in ein Dilemma, sagt die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger aus Wien: „Weil sie vonseiten der EU eigentlich zwei widersprüchliche Erwartungshaltungen kommuniziert bekommen."

Das eine ist: Bitte haltet die Grund- und Freiheitsrechte ein, weil das ist ein wichtiges Kriterium, damit du der EU beziehungsweise dem Schengenraum beitreten kannst. Die andere Erwartungshaltung ist aber: Außengrenzschutz.

Judith Kohlenberger, Migrationsforscherin

In der Praxis komme es aber an den Grenzen zu Situationen, in denen die beiden Anforderungen kollidieren. Ein Dilemma, in dem sich neben Bosnien derzeit auch die EU-Länder Bulgarien und Rumänien befinden, die nicht im Schengenraum sind. Österreich blockiert ihren Beitritt, weil angeblich zu viele Migranten durch die beiden Länder einreisen. Andererseits ist bekannt, dass auch an der türkisch-bulgarischen Grenze Menschenrechtsverstöße an der Tagesordnung sind.

Abschottung spielt Schleppern in die Hände

In Bosnien, beobachtet der Grenzpolizist Hassan Bašanović, hat die Abschreckungstaktik der EU vor allem dazu geführt, dass die Menschen auf der Flucht sich in die Hände von Schleppern begeben.
„Jetzt ist es anders als früher, es gibt andere Methoden. Sie organisieren sich untereinander beim Überqueren der Grenze. Unter ihnen gibt es Gruppenführer, die Gruppen nach Kroatien bringen und alleine zurückkommen. Dann versammeln sie eine neue Gruppe und bringen sie rüber – und kommen wieder zurück“, sagt er.
Die Frage, ob das gegen Geld geschieht, bejaht Bašanović. Ihm zufolge führen die Schlepper die Flüchtlinge oft nachts Richtung Grenze, und durchqueren dabei auch Terrain, das noch aus dem Bosnienkrieg vermint ist. Bisher sei zum Glück noch niemand dabei verletzt worden.
Er hofft, dass das auch so bleibt. Denn er sieht in den Geflüchteten kein Problem. Sie tun ihm nur leid.
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