Der Streit um das bosnische Camp Lipa

Symbol des Versagens

24:14 Minuten
Geflüchteter nur in Schlappen im Schnee im Flüchtlingscamp Lipa in Bosnien.
Opfer einer unmenschlichen Flüchtlingspolitik: Geflüchte müssen bei eisigen Temperaturen in provisorischen Flüchtlingsunterkünften in Bosnien ausharren. © picture alliance / PIXSELL / Armin Durgut
Von Srdjan Govedarica und Andrea Beer. Mitarbeit: Eldina Jašarević |
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Nach dem Brand im Flüchtlingscamp Lipa und einer verfehlten Evakuierung harren die Flüchtlinge im eiskalten bosnischen Winter aus. Verantwortlich dafür ist nicht nur die bosnische Regierung, sondern auch die Flüchtlingspolitik der EU.
Große weiße Zelte mit Hunderten Stockbetten, Waschcontainern und Toilettenhäuschen, das Ganze umgeben von einem langen Maschendrahtzaun. So sieht die Flüchtlingsunterkunft Lipa aus, als sie im April 2020 hochgezogen wird. Auf einer Wiese in der absoluten Einöde an einem Waldrand mit Minenwarnschildern rund 25 Kilometer entfernt von der Stadt Bihać im Nordwesten von Bosnien und Herzegowina.
Dass Lipa so im Abseits liegt, ist kein Zufall. Denn hier im Una-Sana-Kanton sind Menschen auf der Flucht und Migranten nicht willkommen. Diese Frau begründet ihre Ablehnung so: "Wir möchten sie hier nicht. Wir haben sie auch nicht gerufen. Sie wollen auch hier nicht bleiben. Sie wollen nach Italien, nach Deutschland, Frankreich."

Flüchtlinge wollen nach Kroatien

Zehntausende sind seit 2017 durch das Land gekommen, und Ende 2020 halten sich schätzungsweise rund 9000 Flüchtlinge und Migranten in Bosnien und Herzegowina auf. Von hier aus versuchen sie, ohne dafür gültige Papiere über die Grenze nach Kroatien zu gelangen – und damit in die EU. Von kroatischen Polizisten werden sie nach Bosnien zurückgeschoben, unter Missachtung der Gesetze und unter Anwendung von Gewalt. Tausende sind also in Bosnien und Herzegowina gestrandet. Zwei-, vielleicht auch Dreitausend obdachlos in Wäldern und alten Gebäuden.
"Viele Menschen gehen durch Bosnien, durch den Dschungel, durch den Wald, durch den Schnee barfuss und haben noch immer keine Antwort, ob sie in Europa Asyl bekommen, sondern werden von der kroatischen Polizei geschlagen."

Ein Versagen mit Ansage

Petar Rosandić engagiert sich bei SOS Balkanroute, einer regierungsunabhängigen Organisation aus Wien. Am 23. Dezember erlebt er hautnah mit, wie die Internationale Organisation für Migration das Camp Lipa aufgibt. Das Versagen mit Ansage beginnt.

Was denken die Menschen in Bosnien-Herzegowina über die Flüchtlinge? Das hängt auch davon ab, ob sie Bosniaken, Kroaten oder Serben sind, sagt der Journalist Erich Rathfelder, der seit den 90er-Jahren in Sarajevo und in der Nähe von Split lebt und von dort für die "taz" berichtet. Das ganze Interview hören Sie am Ende dieser Weltzeit.


Eine bedrohlich wirkende schwarze Rauchsäule steigt empor und setzt sich kontrastreich ab vom blauen Himmel des kalten Wintertages. Ein Feuer ist ausgebrochen und es frisst sich durch die riesigen weißen 500-Mann-Zelte des Camps.
Die Campbewohner fliehen in Panik vor dem Feuer, bepackt mit Taschen, Rucksäcken und Plastiktüten – den Resten ihrer Habseligkeiten. Dieser Mann aus Pakistan war nicht schnell genug, erzählt er: "Ich bin zu meinem Platz zurückgegangen und habe das Feuer gesehen. Meine große Tasche, meine Kleidung – alles verbrannt. Ich habe nur noch die kleine Tasche."

Flüchtlinge sind "fertig, müde, elendig"

Petar Rosandić ist mittendrin – und während die Brandruinen des Camps noch rauchen, schildert er uns per Whatsapp seine Eindrücke:
"Das Camp ist abgebrannt. Die Flammen sind noch zu sehen. Wir haben hier mit den Menschen geredet. Sie sind fertig, müde, elendig. Anders kann man das nicht beschreiben. Dass so etwas in Europa möglich ist, ist überhaupt ein Wahnsinn."
Ausgebranntes Flüchtlingslager Lipa in Bosnien.
Blick auf das ausgebrannte Zeltlager Lipa in Bosnien im Dezember. Es ist unklar, wer das Feuer gelegt hat. © Andrea Beer
Zunächst sei alles friedlich und nach Plan verlaufen, berichtet Peter Van der Auweraert am Brandtag. Der Belgier war bis Anfang 2021 Missionschef von IOM in Bosnien und Herzegowina. Die Internationale Organisation für Migration, die Camp Lipa bis zum 23. Dezember betrieben hat und dann räumen ließ.
"Doch plötzlich bemerkten unsere Mitarbeiter, wie einige wenige Migranten ein Zelt angezündet haben. Das Ergebnis: Der Großteil der Infrastruktur ist entweder zerstört oder beschädigt. Wir warten auf die polizeilichen Ermittlungen, wer genau für den Ausbruch des Feuers verantwortlich ist."

Ermittler gehen von Brandstiftung aus

Die Menschen in Lipa bestreiten das vehement. Keiner von ihnen habe Feuer gelegt. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft des Una-Sana-Kantons gehen die Ermittler von Brandstiftung aus. Wer dafür verantwortlich ist, wisse man noch nicht. Am Tag des Brandes stehen aber andere Fragen im Vordergrund. Denn niemand hat einen Plan, was mit den Menschen passieren soll, die nach der Räumung des Camps obdachlos geworden sind.
Für die Folgetage sind Temperaturen weit unter null Grad angesagt, dazu Schnee und ein eisiger Wind. Kurz vor dem Jahreswechsel wird die Verzweiflung der Gestrandeten immer größer: "Kein Camp, keine Kleidung, kein Essen. Europa, bitte hilf uns. Denn wir alle sind arm."
Es folgt ein tagelanges Hin und Her und der Versuch, die Männer und Jugendlichen woanders hinzubringen, scheitert kläglich. Die rund 900 Männer sitzen schon in Bussen, doch diese fahren keinen Meter weit. Nach einer zermürbenden Nacht heißt es: Steigt aus und geht nach Lipa zurück.
Geflüchtete stehen in Lipa an, um in Busse zu kommen.
Aufbruchsstimmung: Im Dezember 2020 sollen die Menschen aus Lipa nach Bradina bei Sarajevo gebracht werden. Doch die Busse fahren nicht ab.© Eldina Jašarević
Frust und Verzweiflung sind groß, der Redebedarf ebenfalls. Ziaulla Zahir aus Kunar in Afghanistan: "Ich möchte ein paar Worte sagen über unsere Probleme. Sie entschuldigen sich jeden Tag. Dann kamen sie und sagten, geht zu den Bussen, wir bringen euch an einen besseren Ort. Doch dann saßen wir 30 Stunden in den Bussen und steckten dort fest wie in einem Gefängnis. Es gibt keinen Platz zum Schlafen. Wir schlafen in Toiletten. Wir schlafen in Waschräumen. Es gibt für uns keinen Platz."

Lokale Behörden wollen keine Flüchtlinge

Zur gleichen Zeit in Bihać, rund 25 Kilometer von Lipa entfernt: Etwa 80 Menschen protestieren vor der ehemaligen Kühlschrankfabrik Bira. Hier waren bis September 2020 rund 2000 Flüchtlinge und Migranten untergebracht. Doch dann ließen die lokalen Behörden Bira räumen und verboten Migranten und Flüchtlingen sogar, sich in der Stadt aufzuhalten.
Ausgerechnet hier sollen die Menschen aus Lipa unterkommen. Das hat die Zentralregierung in Sarajevo so entschieden – mit Unterstützung der EU. Doch auch hier stößt das auf strikte Ablehnung. Ein älterer Herr sagt, was viele denken: "Drei Jahre lang haben wir das erlebt. Alles hier war okkupiert. Wir konnten unsere Kinder nicht zur Schule schicken. Wir hatten unsere Freiheit verloren. Wozu das alles?"
Auch Bihaćs Bürgermeister Šuhret Fazlić ist an diesem Abend beim Bürgerprotest dabei. Wir haben viel und gerne geholfen, sagt er, aber genug ist genug. "Wir müssen leider erleben, dass die Regierung in Sarajevo und das Sicherheitsministerium die Menschen mit aller Gewalt hierherbringen will. Das würde aber bedeuten, dass die Gegend hier überrannt wird, so wie in den vergangenen zwei Jahren."

"Zynismus seitens der internationalen Gemeinschaft"

Einige der Protestierenden sind offen fremdenfeindlich, andere um die eigene Sicherheit besorgt, wiederum andere vom Gefühl getrieben, im landesweiten Vergleich ungerecht behandelt zu werden. Bürgermeister Fazlić will auch die Vorwürfe nicht gelten lassen, seine Stadt sei für die Misere in Lipa verantwortlich. Rund 250.000 Euro habe die Stadt aus dem eigenen Budget für Lipa bereitgestellt und seit März 2020 appelliert, dass Camp Lipa winterfest gemacht werden müsse. Doch das sei nicht geschehen.
"Das ist Zynismus und Heuchelei seitens der internationalen Gemeinschaft und internationaler Organisationen, wenn es um Menschlichkeit geht. Diejenigen, die jetzt Pressemitteilungen veröffentlichen, dass Migranten Schutz benötigen, verbringen die Weihnachtsfeiertage im Warmen. Und wir sind diejenigen, die den Migranten helfen, ihnen Essen organisieren, Unterkünfte, Wasser und alles andere."
Am Morgen nach den Bürgerprotesten haben die Männer in Lipa eine weitere eiskalte Nacht draußen verbracht. Es ist der Morgen, an dem es Iman Amini reicht.
Ich heiße Iman, sagt der dunkelhaarige Iraner zunächst ganz ruhig. Mit 36 ist Iman Amini aus Esfahan älter als die meisten hier. Sein bärtiges Gesicht ist eingefallen, er hat Ringe unter den Augen und macht einen zerstörten Eindruck. Woher kommst du? "Tut mir leid, mein Englisch ist nicht gut."
Iman Amini stellt sich aufrecht hin und öffnet langsam den Reißverschluss seiner Jacke, zieht sie dann aus und wirft sie auf den nassen Boden. Er nimmt den schmalen gestreiften Schal vom Hals, setzt die schwarze Mütze ab und zieht sich dann seine beiden dünnen Pullover über den Kopf. Auch das wirft er auf den Boden und steht dann da, mit nacktem tätowierten Oberkörper mitten im eisigen bosnischen Winter.

"Ihr seid Merkel, ihr seid Europäer"

"Wir haben kein Essen, wir haben kein Zuhause, wir haben kein gutes Leben, wir haben nichts. Was ist das hier?! Ihr seid Merkel, ihr seid Europäer. Fuck you. Fuck you."
Iman Amini hält inne und sein Blick wandert zu den anderen Flüchtlingen und Migranten hinüber. Einige stehen um ein offenes Feuer herum, das in einem rostigen Mülleimer brennt. Nicht alle haben feste Schuhe an, ein paar nicht einmal Strümpfe. Eine Gruppe versammelt sich um Iman Amini, der Ziaullah Zaheer kurzerhand zum Dolmetscher bestimmt.
Was der 26-jährige Afghane aus Kunar direkt ins Englische übersetzt und was er von sich hinzufügt, ist nicht klar, doch die Botschaft ist deutlich.
"Ihr sollt uns nicht wie Tiere behandeln. Wir sind keine Tiere, wir sind Menschen." Plötzlich reden alle aufgeregt und Iman Amini brüllt seine Verzweifung in die Welt hinaus. "My name is Iman from Iran."
Dann beruhigen sich alle und möchten noch etwas loswerden. "Das war jetzt wie ein Streik, was wir gemacht haben, aber das heißt nicht, dass wir dich nicht respektieren", drückt Ziaullah Zaheer die Gedanken der Gruppe aus. Tut mir leid, sagt auch Iman Amini, und streckt seine Hand aus.

IOM-Missionschef verteidigt Räumung des Camps

Rund 300 Kilometer südlich sitzt Peter Van der Auweraert in Sarajevo in seinem warmen Büro. Bis vor Kurzem war der Belgier IOM-Missionschef in Bosnien. Er wehrt sich gegen den Vorwurf, die Menschen in Lipa im Stich gelassen zu haben. Aus seiner Sicht führte an der Räumung des Camps am Tag vor Weihnachten kein Weg vorbei. Beim ersten Schnee Ende November sei im Camp eines der Sommerzelte eingestürzt, erinnert sich Peter Van der Auveraert.
"Zum Glück war das nur ein Gebetszelt und niemand wurde verletzt. Aber das hat klar aufgezeigt, wie gefährlich es ist, Menschen dort wohnen zu lassen."
Flüchtlingscamp Lipa in Bosnien: Mann vor Zelten.
Trotz der Militärzelte ist die Situation der Flüchtenden und Migranten auf dem Gelände von Lipa schwierig. Eine Aufnahme von Dezember 2020.© Eldina Jašarević
Nidžara Ahmetašević widerspricht. Die Journalistin aus Sarajevo beschäftigt sich seit Jahren mit der Situation von Flüchtlingen und Migranten in Bosnien und Herzegowina. "Warum sollten Menschen überhaupt in Zelten leben? Zelte, in denen 100 und mehr Menschen leben, sind an sich keine menschenwürdige Unterbringung."
Den Umgang mit Geld kritisiert sie als intransparent. Seit Juni 2018 seien alle Hilfen an internationale Organisationen gegangen, allen voran die Internationale Organisation für Migration, sagt Nidžara Ahmetašević. Tatsächlich hat die Europäische Union seit Juni 2018 rund 76 Millionen Euro an IOM geschickt, so die Angaben der Organisation mit Sitz in der Schweiz. Etwas mehr als 50 Millionen wurden laut IOM ausgegeben. Das meiste für Nahrung, Arzneimittel, Hygieneartikel, Zelte und Personalkosten. Der Rest floss in den Bau von Flüchtlingscamps. Insgesamt habe IOM damit rund 60.000 Menschen versorgt. Rund 3,4 Millionen Euro der EU gingen laut IOM direkt an die bosnischen Behörden, etwa an die Grenzpolizei und die Ausländerbehörde.

Viele politische Akteure wollen mitentscheiden

Die humanitäre Notlage in Lipa hält Peter Van der Auweraert für ein politisches Problem. Der äußerst kompliziert aufgebaute Staat Bosnien und Herzegowina mit seinen vielen Verwaltungsebenen mache es schwer bis unmöglich, Lösungen für die Flüchtlinge und Migranten zu finden – etwa bei der Frage, wo genau die Menschen untergebracht werden sollen: "Es ging hier nie um Geld. Geld ist da und auch Unterstützung. Es geht immer um den politischen Prozess. Sie müssen den Ministerrat, dann die Ebene der Landesteile, dann die Ebene der Kantone und dann die Bürgermeister überzeugen. Es sind so viele politische Akteure, die mitziehen müssen."
Und das ist in der Vergangenheit immer wieder krachend gescheitert. Landesweit weigern sich Gemeinden, Migranten und Flüchtlinge aufzunehmen, und die "Republika Srpska" lehnt das sogar kategorisch ab, der überwiegend serbische Landesteil von Bosnien und Herzegowina. Formal ist das Sicherheitsministerium in Sarajevo für Migration zuständig, doch die Entscheidungen haben meist nur appellativen Charakter.

"Geiseln der Politik der geschlossenen Grenzen"

Frieren die Männer in Lipa also, weil die bosnische Seite versagt? Journalistin Nidžara Ahmetašević widerspricht energisch. "Der Staat Bosnien und Herzegowina genauso wie die Menschen, die sich gerade hier befinden, sind Geiseln der Politik der geschlossenen Grenzen geworden. Ich persönlich glaube, dass die bosnischen Behörden für vieles verantwortlich sind. Wir sind einer der korruptesten Staaten weltweit und unsere Politiker sind nicht kompetent, wenn es darum geht, den Staat zu führen. Aber selbst, wenn wir die kompetentesten Politiker der Welt hätten – wir sind ein Halbprotektorat auf dem Balkan, eingeklemmt zwischen geschlossenen EU-Grenzen. Und das ist das Problem – nichts anderes."
Die Menschen in Lipa haben inzwischen 20 grüne Militärzelte bezogen. Neben dem abgebrannten Camp, das wiederaufgebaut werden soll. Der Streit um Lipa ist nicht beigelegt und zum Symbol des Versagens der europäischen Politik geworden.
"Langfristig als Flüchtlingshelfer wissen wir, Camps sind keine Lösung. In Camps entwickeln sich keine guten Dynamiken langfristig. Deswegen: Asylzentren in Bosnien und Herzegowina einrichten lassen von Europa, wo die Menschen Antworten bekommen, ob sie einen Asylantrag genehmigt bekommen oder nicht. Aber sie brauchen endlich Antworten."
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