Kritisches Kartieren

Wer Karten erstellt, hat Deutungsmacht

06:10 Minuten
Ein Mann ist über eine Weltkarte gebeugt.
Ein internationaler Zusammenschluss von Geografen und Geografinnen hat einen kritischen Blick auf Karten. © Unsplash/Lucas Sankey
Von Esther Schelander · 14.03.2019
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Karten sind nicht neutral. Auf unseren Stadtkarten sind Kirchen mit einem Symbol gekennzeichnet, eine Synagoge oder eine Moschee fehlen aber oft. Aktivisten wie das Kollektiv Orangotango fordern einen vielfältigeren Blick auf die Welt.
"Annawadi... hm... nichts gefunden, achte auf die korrekte Schreibweise…"
Ich habe Google Maps geöffnet. Ich suche ein Slum, von dem ich gelesen habe. Er heißt Annawadi und soll in der Nähe vom Flughafen in Mumbai in Indien liegen – in der Nähe des Flughafens.
"Dann gebe ich mal ein: Mumbai Airport. So, hier sehe ich die Terminals, auch die Landebahnen und direkt vor den Terminals ist das Hilton, das Marriott, Hotel Sunshine Airport. Viele Hotels. Ich zoome mal hier rein; in den Vorplatz von dem Flughafen. Ich sehe jetzt auch, dass es eine Moschee gibt. Einen Hindutempel. Auch ein Spielplatz ist eingezeichnet…"
Egal wie nahe ich reinzoome: die Umrisse von Hotels und Tempel bleiben, aber Häuser sehe ich nicht. So als wäre hier nichts. Ich ändere den Modus von der Kartenansicht in die Satellitenansicht:
"Ach... hier sehe ich ganz viele Häuser. Ich weiß nicht, ob dass das Slum Annawadi ist, es könnte aber sein. Auf jeden Fall wohnen hier richtig viele Leute. Sieht man aber nicht, findet man nicht. Sie sind nicht auf der Karte."

Karten und Stadtpläne gelten als neutral und objektiv

Geografische Karten – Weltkarten, Landkarten, Stadtpläne – gelten als neutral und objektiv.
"Ich habe 'ne Weltkarte. Da ist ein Maßstab drauf, da ist unten ein Siegel drauf von welcher Institution das gemacht ist. Das ist die Welt, so sieht es aus, da kann ich nicht viel dran rum machen."
Paul Schweizer gehört zum Kollektiv Orangotango. Ein internationaler Zusammenschluss von Geografen und Geografinnen, die einen kritischeren Blick auf Karten fordern.
"Eine Karte ist ein klassisches Beispiel, wie Wissenschaft in unserer Gesellschaft die Funktion inne hat, Wissen zu legitimieren, als objektiv, als universell gültig…"

Die Geschichte der Kartografie ist eng mit hegemonialer Gewalt verknüpft. Zu den wirkmächtigsten Beispielen gehört die Berliner Konferenz von 1884: Europa, die USA und das Osmanische Reich teilten den afrikanischen Kontinent unter sich auf – zogen Linien auf einer Afrika-Karte, schufen willkürliche Ländergrenzen, die zum Teil bis heute gelten. Nach wie vor bilden Karten Machtverhältnisse ab und werden meist von dominanten Akteuren gemacht. Etwa – wenn wie im Fall Annawadi – Wohngegenden auf Karten leere Flecken bleiben. Was oft daran liegt, dass die Gebiete nicht offiziell anerkannt sind.
Ein Globus, auf dem Afrika zu sehen ist.
1884 wurden auf der Berliner Konferenz willkürlich Ländergrenzen in Afrika gezogen, die bis heute gelten.© Unsplash/Maksim Shutov

Europa – kleiner Fleck rechts oben in der Ecke

Wer Karten erstellt, hat Deutungsmacht. Er bestimmt mit darüber, was in einer Umgebung als existent wahrgenommen wird und was nicht – was als Zentrum und was als Peripherie gilt. Weltkarten in China und Japan etwa zeigen jeweils diese beiden Länder im Zentrum, Europa ist ein kleiner Fleck rechts oben in der Ecke.
In der westlichen Welt dagegen ist die sogenannte "Mercator-Karte" verbreitet, die Europa ins Zentrum rückt und die Kontinente Afrika und Südamerika kleiner erscheinen lässt, als sie sind. Zwar bemühen sich Verlage kontinuierlich, ein objektives Bild der Welt zu zeichnen, sagt Reinhold Schlimm, Kartenredakteur beim Schulbuchverlag Westermann:
"Es soll eine faire Darstellung aller Landflächen und Meeresflächen auf der Welt geben. Das wird auch erwartet von den Lehrern, dass die Maßstabsreihen so gehalten sind, dass man wirklich durch Blättern im Atlas einen fairen Eindruck davon kriegt, wo sind die großen Landflächen, wo sind die kleinen."

Die Subjektivität von Karten offenlegen

Aber: Eine dreidimensionale Weltkugel lässt sich schwer zweidimensional darstellen. Jede Abbildung ist verzerrt. Und wenn die Welt nach einem einheitlichen Maßstab abgebildet wird, verschwindet das Bewusstsein darüber, dass jemand diesen Maßstab gewählt hat. Und die Welt nach seinem Maßstab misst. Kritische Geografen und Geografinnen plädieren daher dafür, diese Subjektivität von Karten offenzulegen. Den Blick der Vielen zu nutzen – und Karten gemeinschaftlich zu erstellen.
"Sagen wir: Wir sind 'ne Gruppe, die in einem Stadtteil lebt, wir kartieren diesen Stadtteil und zwar kartieren wir zunächst mal unsere Sinneswahrnehmung. Ich kleb überall ein Auge hin, wo ich den Stadtteil schön finde. Einfach visuell schön. Ich kleb 'ne Nase hin, wo es gut riecht. Ich kleb 'ne durchgestrichene Nase dahin, wo ich finde, dass es stinkt."

Einen eigenen Atlas herausgegeben

Aus der Menge persönlicher Erfahrungen entsteht anderes Wissen. Im November letzten Jahres hat Orangotango einen Atlas herausgegeben, der kollektiv erstellte Karten aus aller Welt versammelt.
In "This is not an Atlas" finden sich Projekte, in denen Menschen ihre Umgebung vermessen, um leere Flecken auf der Karte zu füllen. Von Kibera, einem Slum in Nairobi, über ein Flüchtlingscamp im Libanon bis hin zum Wohnort einer indigenen Gruppen im Amazonas Gebiet. Mieter*innen in San Francisco haben auf einer Karte der Internetplattform Airbnb eingetragen, aus welchen Stadtteilen sie verdrängt wurden. Menschen aus Rio de Janeiro vermerkten, wo sie in der Stadt Polizeigewalt erfahren haben. Karten verleihen Sichtbarkeit und was sichtbar ist, hat eine andere Wirklichkeit.


Paul: "Die Karte von ´Berlin besetzt`, die auch im Atlas ist, die bildet ja nur ab, wo in Berlin es besetzte Gebäude gibt und wo es welche gab. In dem Moment, als die Karte veröffentlicht wurde, ist aktuell gar nichts passiert, aber witzigerweise war ein paar Tage später in einer Berliner Zeitung ein Riesenartikel mit: Die Besetzungsbewegung ist zurück. Dabei war das nur die Karte, die zurück war."
Eine Landkarte mit Pins. 
Eigene Karten erstellen und die Macht der Karten für sich nutzen, ein Ansatz der Aktivisten. © Unsplash/delfi de la Rua
Marginalisierte Gruppen und ihre Unterstützer und Unterstützerinnen können die Macht der Karten für sich nutzen. Aber:
Paul: "Natürlich kann das auch sehr gefährlich sein. Das kann ja ein Instrument sein, wenn ich das Ding veröffentliche, um Leute zu verdrängen. Eine Stadtverwaltung weiß dann genau: hier, hier und hier wohnen sie. Dementsprechend müssen wir uns genau überlegen, was für Wissen wir zugänglich machen."
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