Krisenvergleich

Vom Eigensinn der Isländer lernen

Isländische Hauptstadt Reykjavík
Islands Hauptstadt Reykjavík © Deutschlandradio/Jessica Sturmberg
Von Kristof Magnusson · 22.07.2015
Island ließ seine Pleite-Banken wirklich pleite gehen. Island ging pragmatisch mit der Überschuldung um. Und Island war weder in der EU noch hatte es den Euro. So konnte das einstige Krisenland zügig wieder prosperieren, glaubt der Autor Kristof Magnusson.
Die ersten Jahre unseres Jahrtausends erscheinen den meisten Isländerinnen und Isländern in der Rückschau wie ein sonderbarer Traum. In dem Land, das zuvor vom Fischfang gelebt hatte, wuchsen Banken heran, die im großen Stil internationales Kapital einsammelten und investierten. Plötzlich besaßen sie britische Supermarktketten und dänische Hotels – es gab sogar isländische Milliardäre, von denen einer einen ganzen Fußballverein kaufte und ein anderer Elton John auf einer privaten Party singen ließ.
2008 kam der große Knall. Innerhalb weniger Tage brachen die drei größten Banken zusammen und mussten verstaatlicht werden, um das Finanzsystem zu retten. Island hatte plötzlich Schulden, die das Brutto-Inlandsprodukt um das Zehnfache überstiegen. Das Land war pleite.
Heute ist davon nur noch wenig zu merken: Arbeitslose gibt es kaum, die Wirtschaft wächst. Wie konnte Island diese Wende gelingen?
Der wichtigste Grund dafür ist, dass Island seine pleitegegangenen Banken auch wirklich pleitegehen ließ. Die Einlagen der Sparer wurden gesichert, viele institutionelle Anleger hingegen warten bis heute auf ihr Geld.
In Island ist weiterhin jeder Bürger krankenversichert
Natürlich musste auch der isländische Staat sparen. Doch die Isländer konnten eben selbst entscheiden, wo. Und beschlossen, das vorbildliche Bildungssystem und den Sozialstaat nicht kaputtzusparen: In Island ist weiterhin jeder Bürger krankenversichert – in Griechenland sind es Millionen nicht mehr.
Dieser Eigensinn ist durchaus typisch für die Isländer.
Sie stammen von Siedlern ab, die sich vor über 1000 Jahren auf den Weg machten, um fern der mittelalterlichen Feudalherren auf einer abgelegenen Insel ein Leben in Freiheit zu führen. Bis heute schätzen die Isländer Risiko höher als Vorsicht, Unabhängigkeit höher als Kontrolle: Wenn man sich von Obrigkeiten reinreden lassen wollte, hätte man ja gleich in Norwegen bleiben können.
Natürlich lässt sich diese Autarkie nur bedingt auf den Euroraum übertragen. Island hat eine eigene Währung, die in der Krise massiv abwerten konnte, was den Fisch-Export erleichterte und so viele Touristen anlockte, dass nun erstmals diskutiert wird, für Geysire und Wasserfälle Eintritt zu verlangen.
Und Island hat etwas getan, das auf den ersten Hinblick verrückt erscheint: Der Staat verpflichtete die Banken, den am höchsten verschuldeten Haushalten Teile ihrer Schulden aus Immobilenkäufen einfach zu erlassen! Ganz pragmatisch.
Die Isländer sind an eine hohe Inflation gewöhnt. In den Achtzigerjahren etwa wusste jedes Kind, dass Kinokarten und Eis von Monat zu Monat mehr kosteten. Mein isländischer Vater wurde von seinen Verwandten gefragt: "Warum nimmst du keinen Kredit auf und kaufst hier ein Haus? Die Inflation wird es schon bezahlen."
Das Schuldenmachen an sich war in Island niemals verpönt. Deshalb war Überschuldung ein Problem, für das eine Lösung gefunden musste, keine Sünde, für die die Schuldner bestraft werden sollten.
In der deutschen Debatte ist Griechenland ein "Schuldensünder"
In Deutschland hingegen ist Griechenland in der öffentlichen Debatte genau das: ein Schuldensünder, der so unmoralisch gehandelt hat, dass ihm eine Lektion erteilt werden muss. Auch wenn es offensichtlich ist, dass der erzwungene Sparkurs alles nur noch schlimmer macht. Es wird von "Pleitegriechen" gesprochen und so getan, als finanzierten die deutschen Steuerzahler den griechischen Staat, während Berlin einen ausgeglichenen Bundeshaushalt hat. Dass man diesen den historisch niedrigen Zinsen und damit auch der Eurokrise verdankt – davon wird ebenso selten gesprochen wie davon, dass Schulden eben zu unserer Form des Wirtschaftens gehören – einer Wirtschaftsform, von der Deutschland ausgezeichnet lebt.
Die Isländer fragen sich seit Jahren, ob sie Teil der EU werden sollen oder nicht. Lange Zeit war ungefähr die Hälfte der Bevölkerung dafür. Doch seit die Isländer am Beispiel Griechenlands mitverfolgen können, wie einem souveränen Staat Sparmaßnahmen und Privatisierungen aufgezwungen werden und die Disziplinierung eines Landes wichtiger ist als wirkliche Hilfe, sind die Europa-Befürworter sehr still geworden. Den Antrag auf Beitritt zur EU hat Island im März zurückgezogen.
Kristof Magnusson, 1976 in Hamburg geboren, bildete sich zunächst bei der evangelischen Landeskirche Nordelbien zum Kirchenmusiker aus. Dann studierte er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und der Universität Reykjavík, war im Sommer 2006 Stadtschreiber des Goethe-Instituts in Pune/Indien und im Herbst 2008 Writer in Residence an der University of Iowa, 2010 am Grinnell College, 2013 an der Queen Mary/University of London und 2014 am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Magnusson schreibt Reisebücher („Gebrauchsanweisung für Island“, Piper), Theaterstücke („Männerhort“, „Sushi für alle“, Verlag Antje Kunstmann) sowie Romane („Arztroman“, „Das war ich nicht“, „Zuhause“, Verlag Antje Kunstmann).
Kristof Magnusson
Kristof Magnusson© Deutschlandradio / Christian Rabhansl
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