Gute Stimmung in Island

Von Constanze Bayer · 09.07.2013
Die Isländer haben die Krise auch ohne Europäische Union und Euro gut überwunden. Die Wirtschaft wächst und die Arbeitslosenzahlen sinken. Unter diesen Vorzeichen in die EU einzutreten, scheint den Isländern jetzt wieder wenig attraktiv.
"Brüder befehden sich und fällen einander,
Geschwister sieht man die Sippe brechen."


Diese Zeilen stammen aus der berühmten nordischen Sagensammlung Edda. Eine Seherin flüstert sie dem Besucher des isländischen Parlaments ins Ohr, wenn er nahe genug an die runde Steinskulptur herangeht und an dem kleinen Loch in der Mitte lauscht. Die Seherin beschreibt die Entstehung und den Untergang der Welt.

Wenige Wochen nach der Wahl im April ist im isländischen Parlament von Weltuntergang nichts zu spüren. Tatsächlich sind die Aussichten eher sonnig: Die Wirtschaft wächst das zweite Jahr in Folge und die Preise steigen nicht mehr so stark wie noch zu Beginn der Krise. Es geht Island besser. Trotzdem bleibt die Belebung der Wirtschaft das bestimmende Thema für die Einwohner. Während des Wahlkampfs ging es vor allem um überschuldete Haushalte, den schwachen Kurs der Krone und Arbeitslosigkeit. Für die laufenden Verhandlungen Islands um einen Beitritt zur Europäischen Union hat sich kaum einer interessiert.

Auch für Frosti Sigurjonsson gibt es derzeit drängendere Fragen, als das leidige Thema EU. Der Unternehmer ist neu ins Parlament eingezogen. Ein eigenes Büro hat er noch nicht, deshalb trifft er sich gerne in einem beliebten Café.

"Es gibt andere Probleme, die wir viel dringender lösen müssen, die haben Priorität. Darin stimmen uns die Wähler zu. Wir müssen die Schulden in den Griff kriegen, die Wirtschaft zum Laufen bringen und das ist, was wir machen werden. Wir müssen die Haushalte wieder auf Vordermann bringen. Wir können nicht alles zur gleichen Zeit machen."

Der Unternehmer ist Mitglied der Fortschrittspartei, die sich als liberal versteht und vor allem für die Interessen von Bauern und Fischern eintritt. Sie stellt jetzt den Regierungschef, Sigmundur David Gunnlaugsson. Die konservative Unabhängigkeitspartei ist mit ebenfalls 19 Sitzen im Parlament der Partner. Beide Parteien sind gegen einen EU-Beitritt.

Die Zentrale der Sozialdemokraten ist wie beinahe alles in Reykjavik nur ein paar Straßen vom Parlament entfernt. Die Allianz, wie die sozialdemokratische Partei offiziell heißt, ist für einen Beitritt Islands zur EU. Als eine der wenigen Parteien ist sie mit dem Thema in den Wahlkampf gegangen – und hat verloren. Arni Pall Arnason ist seit Februar der neue Vorsitzende der Partei:

"Die Leute haben uns oft gefragt: Warum sollten wir Schutz suchen in einem brennenden Haus? Das war nicht leicht zu beantworten."

Über Nacht pleite
Fünf Jahre ist es her, dass die isländischen Banken kollabierten. Im Herbst 2008 war das Land über Nacht de facto pleite. Die drei größten Banken des Landes hatten Vermögenswerte in ihren Büchern stehen, die zehn Mal höher waren, als die Wirtschaftsleistung der Insel. Die Krone verlor schnell an Wert. Kredite, die viele Hauseigentümer in Dollar oder Euro aufgenommen hatten, stiegen mit der Inflation rasant an. Das gesamte Land rutschte in eine Rezession. Allein, so schien es, würde der Inselstaat mit der Kleinstwährung da nie heraus kommen.

Fünf Jahre später ist davon auf dem Laugavegur, der Haupteinkaufsmeile in Reykjavik, kaum noch etwas zu spüren. Touristen drängeln sich in den Geschäften. Für Besucher aus Großbritannien, Nordamerika, nicht zuletzt auch aus Deutschland ist die Insel erschwinglich geworden. Durch den Wertverlust der Krone ist Einkaufen hier nicht viel teurer als in London. Vor allem Boombranchen wie der Tourismus oder die Produktion von Aluminium haben dafür gesorgt, dass die Wirtschaft wieder anzieht, im vergangenen Jahr ist das Bruttoinlandsprodukt um 1,6 Prozent gewachsen. Das sieht man auch an der Silhouette der Stadt: Die Baukräne ragen wieder an der Uferpromenade empor. Sie sind zurück, nachdem sie 2008 hektisch ins Ausland verkauft wurden.

Diesen Wechsel konnte Thrainn Hallgrimsson von seinem Büro aus gut verfolgen. Direkt am Meer gelegen, hat er aus seinem Fenster sowohl die umliegenden Bürogebäude als auch das bei Touristen beliebte stilisierte Wikingerschiff Solfar im Blick. Der Geschäftsstellenleiter der Arbeiter-Gewerkschaft Efling will trotz der guten Zahlen nicht von einem Wunder sprechen, das einige Politiker und Wissenschaftler in der wirtschaftlichen Genesung Islands sehen – weil längst nicht alle daran teilhaben.

"Diese Flexibilität müssen vor allem die Arbeiter ausbaden. Es ist nicht gut für ein Land, wenn man eines Morgens aufwacht und die Währung 20 Prozent an Wert verloren hat. Die Preise in den Läden sind nach oben gegangen, aber du verdienst weniger als vorher."

Island leistet sich einen teuren Luxus mit einer eigenen Währung, für eine Volkswirtschaft von gerade mal 320.000 Menschen. Vor der Krise war sie stark im Kurs, die Isländer bekamen schon für gut 80 Kronen einen Euro. Viele hat das dazu verführt, Kredite in Euro aufzunehmen. Nach dem Bankencrash vom Oktober 2008 lag der Kurs bei 170 Kronen für einen Euro. Die Kredite für Häuser und Grundstücke stiegen in den Himmel, genau wie die Lebensmittelpreise. Denn Kredite in Island sind indexiert: Steigt die Inflation, steigen auch sie. Nur der Lohn, der blieb gleich. Vielen wurde er sogar gekürzt. Damals erschien es wie die Rettung, Mitglied der EU zu werden, vor allem: den Euro zu bekommen.

"Ich weiß nicht, ob sich ein normaler Europäer vorstellen kann, 30 Prozent seiner Kaufkraft zu verlieren. Das war eine Zeit, in der es viele Proteste gab, sogar Eigentum zerstört wurde. Gegen die Regierung. Gegen die Isländische Bank. Gegen diejenigen, von denen man glaubte, dass sie Schuld an der Krise haben."

Vor allem junge Menschen fühlten sich betrogen. Nur tröpfchenweise erfuhren die Isländer, wie schlecht es um ihre Wirtschaft bestellt war. Firmen gingen pleite, Menschen wurden arbeitslos und blieben es für isländische Verhältnisse sehr lang, manche haben noch heute keinen neuen Job gefunden. Viele gingen ins Ausland, vor allem nach Norwegen, Schweden oder Dänemark. Die Staatsverschuldung wuchs auf von 28 auf über 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Strenge Regeln für den Kapitalmarkt wurden eingeführt, um zu verhindern, dass Investoren unbegrenzt Geld aus der kleinen Volkswirtschaft abziehen. Sie gelten bis heute.

In dieser Zeit hat sich die Einstellung zur EU und dem Euro in Island verändert. Erstmals gab es eine wenn auch knappe Mehrheit für einen EU-Beitritt.

Fjord Hvalfjörður noerdlich von Reykjavik
Fjord Hvalfjörður noerdlich von Reykjavik© picture alliance / dpa / Christine König
Keine Lust mehr auf die EU
"Ich bin für die EU, aber mit den jetzigen Umständen wäre ein Beitritt für Island nicht vernünftig. Schon gar nicht mit dieser Regierung."

"Ich denke, wir kommen ganz gut alleine klar, ohne die EU. Es hat sich für die Euroländer ja nicht gerade gelohnt, den Euro zu haben. Uns geht es ganz gut nach dem Bankenkollaps."

"Ich weiß es noch nicht, aber ich würde gerne darüber abstimmen. Wir sollten die Verhandlungen zu Ende bringen und dann sollten die Leute entscheiden. Ich bin noch unentschlossen."

Das Thema EU wurde im Wahlkampf ausgeklammert, es herrschte zu wenig Interesse auf Seiten der Wähler. Wie gering es ist, lässt sich gut gegenüber der Zentrale der Linksgrünen in nüchternen Büroräumen besichtigen.

Hier ist unauffällig neben einem Friedhof das Europabüro untergebracht. Mit Broschüren und Kugelschreibern sollen die Mitarbeiter Informationen über die EU unters Volk bringen. Das Büro wirkt ausgestorben - nicht ungewöhnlich, meint ein Mitarbeiter. An guten Tagen kämen allenfalls zwei Besucher.

Im hinteren Teil kann man einen Kaffee trinken und dabei auf den Seiten der Kommission surfen. Seit Januar 2012 werden die zwei Räume von der EU bezahlt. Es wirkt wie ein verzweifelter Versuch der EU, die EU freundliche Stimmung im Herbst 2008 und Frühling 2009 wieder aufleben zu lassen.

Damals sollte alles ganz schnell gehen. Immerhin ist Island seit 1994 Mitglied im Europäischen Wirtschaftsraum, dem EWR. Viele Gesetze, die in Reykjavik beschlossen werden, kommen eigentlich aus Brüssel, manche sagen 50 Prozent, andere sogar bis zu 75 Prozent.

Doch von einer knappen Mehrheit ist die Stimmung schnell wieder in eine Minderheit für den Beitritt umgeschlagen, meint Christian Rebhan von der Berliner Humboldt Universität. Der Drang, politische Unabhängigkeit zu behalten, spiele bei der Europaskepsis eine große Rolle, das Gefühl, in der Runde der 27 nicht ausreichend gehört zu werden.

"Wenn die Krise eine isländische geblieben wäre, hätten die Isländer vielleicht ein anderes Bild von der EU. Wenn die EU nicht selbst in die Krise gekommen wäre, hätten sie vielleicht ihren eigenen Weg, ihren eigenen Unabhängigkeitskurs in Frage gestellt. Nein, da müssen wir durch, da machen wir jetzt mit, so ist es aber nicht gekommen."

Mittlerweile kommen aus den EU-Staaten immer neue Horrorzahlen über Rezession, steigende Arbeitslosenzahlen und sinkende Kaufkraft. Island dagegen wächst, wenn auch bescheiden. Die Arbeitslosenquote ist nach ihrem Höhenflug wieder gesunken, das reale Wirtschaftswachstum betrug im letzten Jahr immerhin 1,6 Prozent. Nach Ansicht vieler Isländer, liegt die EU in Scherben und Island ist wieder auf dem Weg nach oben.

Angesichts dessen kommen auch den Euro-Befürwortern in der sozialdemokratischen Partei Zweifel an ihrem proeuropäischen Kurs. Niemand könne ernsthaft sagen, dass das System EU ohne Fehler sei, sagt der Vorsitzende Arni Pall Arnason.

"Can you honestly say that this system, this whole system is it faultfree? That is difficult. Our argument was to continue with the membership application and have an agreement."

Dennoch müsse man weiterverhandeln. Schon um der vielen Zeit und Arbeit willen, die bisher von beiden Seiten investiert wurden. So sieht es auch Gudmundur Steingrimsson. Der 40-Jährige war Mitglied der Fortschrittspartei, hat im Parlament für die Verhandlungen gestimmt und wird auch im neuen Parlament wieder Platz nehmen. Allerdings für die Partei Strahlende Zukunft. Die sozialliberale Partei gibt es erst seit einem Jahr, dennoch stellt sie jetzt immerhin sechs Abgeordnete.

"Von einem wirtschaftlichen Standpunkt aus glauben wir, dass wir den Euro brauchen. Wir brauchen eine stabilere Währung. Es ist kein Allheilmittel. Aber es wäre eine bessere wirtschaftliche Umgebung für uns. Wir kämpfen permanent gegen die Inflation, weil die Krone so eine kleine Währung ist. Das können wir kaum kontrollieren."

Strahlende Zukunft gehört zu den raren EU-Befürwortern. Auch weil die EU von dem Mitglied Island profitieren könnte.

"Wir gehen die Dinge anders, wir sind von unseren Ressourcen abhängig. Wir haben Erfahrungen beim Heizen mit geothermaler Energie, diese Techniken beherrschen wir sehr gut. Wir haben eine lange Geschichte in der Gleichstellung der Geschlechter, davon könnte Europa profitieren. Wir haben keine Armee, wir sind ein friedliebendes Land. Dann sind da die Themen rund um die Arktis. Ich denke, wir hätten eine Menge beizutragen."

Fischereination Island
Auch beim größten Hindernis für Island, könnte die EU von der nordatlantischen Insel lernen. Die Fischereipolitik auf Island sei die effizienteste der Welt, behaupten die Isländer. Die Fischerei ist es auch, die Island für die EU erst richtig attraktiv macht. Der Inselstaat wäre mit einem Mal die größte Fischereination der EU. In den reichen Fischgründen dürften dann auch europäische Fischer ihre Netze auswerfen.

Dass isländische Fischer jeden Tag auf kleinen Booten auf dem Meer unterwegs waren, ist lange her. Auf den kleinen Kuttern werden heute nur noch Touristen transportiert, die einmal selbst einen Fisch aus den Gewässern vor Reykjavik ziehen wollen.

Stattdessen sind heute große Fischtrawler auf dem Atlantik unterwegs. Sie sind hoch technologisiert, deswegen werden an Bord nur wenige Menschen gebraucht. Insgesamt arbeiten in der Fischereination Island nur vier Prozent der Menschen im Fischfang oder der Verarbeitung. Die Männer an Bord sind meist mehrere Wochen unterwegs, der Fang wird im Bauch des Schiffes gekühlt und dann am Reykjaviker Hafen in quadratischen gelben Kisten von einem Meter Durchmesser ausgeladen: Kabeljau, Schellfisch und Flundern. Rund eine Million Tonnen Fisch werden innerhalb der 200-Meilen- Zone rund um Island jährlich gefangen. Das meiste davon geht ins Ausland, rund 80 Prozent an Länder der Europäischen Union.

Die guten Handelsbeziehungen sind den Fischern durch den gemeinsamen Wirtschaftsraum mit der EU schon jetzt sicher. An der gemeinsamen Fischereipolitik der Gemeinschaft wollen sie sich dagegen auf keinen Fall anpassen. Die Ziele seien zu unterschiedlich, wie Hlynur Sigurdsson erklärt. Als Sprecher vertritt er den Verband der isländischen Besitzer von Fischereifahrzeugen.

"Jedes Land muss erst mal entscheiden, was es mit seiner Fischereipolitik erreichen will. Geht es um Gewinne oder geht es zum Beispiel darum, Anreize zu schaffen in bestimmten Gegenden zu leben? Die Fischerei in Island ist sehr anpassungsfähig. Sie ist flexibel. Das macht es für alle profitabler."

Für die EU geht damit vorerst ein Beitrittskandidat verloren, der das angeschlagene Image der Staatengemeinschaft verbessert hätte – eine stabile Demokratie, ein krisengeschütteltes, aber kein armes Land, zur Abwechslung an der nordwestlichen und nicht an der südöstlichen Peripherie. Allerdings glaubt kaum jemand, dass eingefrorene Verhandlungen auch generell zu abgekühlten Beziehungen führen könnten.

"Island muss seine Beziehungen zur Europäischen Union neu definieren. Durch einen Beitritt? Durch einen Sonderstatus? Oder andere Vereinbarungen? Wird es ein Europa der konzentrischen Kreise geben mit verschiedenen Bestimmungen? Am Ende des Tages müssen wir neue Beziehungen aufbauen. Die jetzigen werden nicht funktionieren."
Borgarnes nördlich von Reykjavik
Borgarnes nördlich von Reykjavik© picture alliance / dpa Foto: Uwe Gerig