Krisenberichterstattung

Die lange Nacht der Nachrichten nimmt kein Ende

Die ARD-Nachrichtensendung "Tagesschau" im Januar 2014 mit Susanne Holst
Er sei weder Serien-Fan noch Nachrichten-Freak, betont Hans Christoph Buch. © dpa / picture alliance / Marcus Brandt
Von Hans Christoph Buch · 03.08.2015
Die Abendnachrichten als Fernsehkrimi: Der Schriftsteller Hans Christoph Buch fiebert täglich den allabendlichen Meldungen entgegen - als seien sie die nächste Folge seiner Lieblingsserie. Wird die Wirklichkeit damit zur TV-Unterhaltung?
Geht es Ihnen auch so wie mir? Den ganzen Tag über fiebere ich den Abendnachrichten entgegen, als handle es sich um eine neue Episode von "House of Cards", um die schon wieder verzögerte dritte Staffel von "Twin Peaks" oder auch nur um die zehnte Wiederholung von "Dallas". Dabei bin ich weder ein Serien-Fan noch ein Nachrichten-Freak. Doch die politische Aktualität, die sonst nur Gähnen hervorrief, ist zum Serienkrimi geworden, und es ist schwer zu sagen, wieso und warum?
Seit den Dauerverhandlungen von Minsk, wo François Hollande auf dem Sofa schlief und Angela Merkel frühmorgens vor die Kameras trat, um dem Fernsehvolk zu verkünden, dass und wie man sich in letzter Minute geeinigt habe – seitdem ist die Krise zur Dauerkrise und die lange Nacht der Nachrichten zur Dauereinrichtung geworden: Nicht die lange Nacht der Museen, sondern die lange Nacht von Brüssel, Wien oder Genf, an deren Ende schlaflose Politiker übernächtigten Journalisten mitteilen, die nächsten 24 Stunden seien entscheidend für den Fortbestand Europas und die für Zukunft der Welt.
"Es steht Spitz auf Knopf": Diese Formulierung, deren Sinn mir unklar und deren Ursprung rätselhaft ist, wird heute so inflationär gebraucht wie einst die Vorsilbe Ex, die nach dem Fall der Mauer in aller Munde war – von der Ex-DDR bis zur Ex-UdSSR. "Ich bin der ehemalige Berater des ehemaligen Präsidenten der ehemaligen Sowjetunion", mit diesem Satz stellte sich ein russischer Delegierte auf einem Pariser Kongress zum Krieg in Ex-Jugoslawien vor.
Irritiert von atmosphärischen Veränderungen
Um Missverständnissen vorzubeugen: In dieser Betrachtung geht es mir nicht um das Für und Wider der Atom-Gespräche mit dem Iran oder des Waffenstillstandsabkommens von Minsk, das fast täglich gebrochen wird. Interessanter und irritierender zugleich scheinen mir atmosphärische Veränderungen, die Europa und den Rest der Welt in nur sechs Monaten stärker aufgemischt haben als in langen Jahren zuvor.

ISIS im Irak, Boko Haram in Nigeria und im Jemen jene Huthi-Rebellen, die an die Stelle der ruandischen Hutu und Tutsi getreten sind, in Deutschland Pegida und Legida, Freital in Sachsen und Tröglitz in Sachsen-Anhalt, sowie, last but not least, der so genannte Grexit, das kommende Unwort des Jahres 2015. Die Liste lässt sich beliebig fortschreiben. Ohne diese Phänomene des Zeitgeists untereinander gleichzusetzen, haben sie doch eins gemein: Es handelt sich um Fehlentwicklungen, die nicht mit Geld und guten Worten zu korrigieren oder zu kontrollieren sind, um Bedrohungsszenarien, denen durch Appelle an die Vernunft und selbst mit Gewalt nur schwer beizukommen ist.
"Hamlet oder die lange Nacht nimmt kein Ende" – der Titel von Alfred Döblins letztem Roman ist, anders als "Berlin Alexanderplatz", heute nur noch Literaturkennern ein Begriff. Was Döblin nicht voraussah, war das bei den Genfer Atom-Gesprächen mit Iran erprobte Verfahren, die Uhren zurückzustellen, als bereits der Morgen dämmerte. Über dem Alpenpanorama ging die Sonne auf, doch am Genfer See tickten die Uhren anders – und das in der für exakte Zeitmessung berühmten Schweiz. Während es draußen schon tagte, war es im "Palais des Nations" offiziell noch Nacht – eine passende Metapher für die schöne neue Welt, auf die wir zusteuern.
Ich lege mir für die nächste Staffel schon einmal Popcorn bereit.
Hans Christoph Buch, 1944 in Wetzlar geboren, wuchs in Wiesbaden und Marseille auf und las im Jahr seines Abiturs (1963) bereits vor der "Gruppe 47". Mit 22 Jahren veröffentlichte er seine Geschichtensammlung "Unerhörte Begebenheiten". Ende der 60er-Jahre gab er theoretische Schriften, Dokumentationen und Anthologien heraus. Mit seinen Essays versöhnte er Politisches und Ästhetisches miteinander.


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