Krisen und Kriege

Warum Nachbarn aufeinander schießen

Vermummte prorussische Separatisten
Vermummte prorussische Separatisten im Grenzgebiet der Ukraine. © Maksim Blinov, dpa
Von Astrid von Friesen · 24.09.2014
Warum flammen bei politischen und wirtschaftlichen Krisen immer wieder längst überwunden geglaubte Konflikte auf? Psychoanalytiker haben eine Antwort darauf - und Politiker täten gut daran, ihnen zuzuhören, meint die Therapeutin Astrid von Friesen. Denn nur so kann politisches Handeln weiser werden.
"Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, aber bei Gruppen, Parteien, Völkern die Regel", schrieb der Philosoph Friedrich Nietzsche.
Wir schauen mit Entsetzen auf das Geschehen in der Ukraine und fragen uns verstört, warum Nachbarn, Mitglieder eines Staates und einer Religion sich plötzlich bekriegen, erschlagen und morden. Und warum die Nato und die EU, als sie ihre Fühler Richtung Osteuropa ausstreckten, nicht auf die Expertise von Historikern und Analytikern zurückgriffen, die ihnen die Muster eines sich anbahnenden Konfliktes hätten vorhersagen können.
Denn es geht, wie immer, um die Identität von Großgruppen, die in normalen Zeiten wenig wahrgenommen, in Krisenzeiten jedoch vehement verteidigt werden muss.
Ich- und Wir-Identität sind untrennbar verwoben
Gerade ist Vamik Volkan, ein amerikanischer Psychoanalytiker aus einer türkisch-zyprischen Familie, für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen worden. Er hatte einst die Verhandlungen von Jimmy Carter mit dem israelischen Premierminister Begin und dem ägyptischen Staatspräsidenten Sadat moderiert, die zu einem guten Ende führten.
Und er beschreibt nun folgende Mechanismen: Das Ich-Gefühl jedes Menschen setzt sich aus einer individuellen Kernidentität und einer Gruppenidentität zusammen, die sich bereits in früher Kindheit bildet. Ob sich jemand als Schotte fühlt, hängt mit Sprache, Orten, Nahrungsmitteln, aber auch Heldenerzählungen und Nationalstaatsgeschichten zusammen.
Beide Identitäten sind untrennbar verwoben, was Immigranten manchmal über Jahrzehnte und Jahrhunderte in ihren Aussagen deutlich machen. Mal ist stärker die Ethnizität betont "Ich bin ein Araber", mal die Religion "Ich bin Katholik" oder die Nationalität "Ich bin Schotte".
Hinzu kommen Abgrenzungen mit mehr oder weniger primitiven Zuschreibungen: "Ihr seid anders, deswegen sind wir besser", um die Angst zu bannen. Charismatische Führer nutzen diese, indem sie "gewählte Ruhmestaten oder Traumata" aktivieren.
So installierte der irakische Diktator Saddam Hussein den Sieg über die Kreuzritter durch Sultan Saladin aus dem 12. Jahrhundert als Symbol im Kampf gegen die US-Amerikaner. Und Präsident Wladimir Putin erinnert heute daran, dass die West-Ukrainer die Hitler-Truppen mit Blumen begrüßten, während die Ost-Ukrainer sich - wie die Russen - zur Wehr setzten.
Die Feinde werden entmenschlicht
Bei wirtschaftlichen oder politischen Krisen tritt das "Ich" zurück, um sich unter dem "Zeltdach" des "Wir"-Gefühls zu versammeln. Das Individuum unterwirft sich, aus Angst alleine nicht zu überleben, und verändert sich ebenso wie die Gruppe, die immer stärker der Realitätsverzerrung anheimfällt.
Opfer und Aggressoren empfinden sich gleichermaßen als ausgeliefert, gedemütigt und hilflos. Sie greifen an, weil sie sich angegriffen fühlen. Eine neue Moral etabliert sich, wobei die Feinde zunehmend paranoid entmenschlicht, zu Tieren und zu Freiwild erklärt werden. Was Menschen als Einzelne nie getan hätten, tun sie nun als Mitglieder einer Gruppe: sie differenzieren nicht mehr, ihre Nächstenliebe nimmt rapide ab.
Warum also nutzen Politiker nicht die Expertise eines Analytikers wie Vamik Volkan? Er könnte ihnen historisch entstandene Mythen, Selbstbilder, Minderwertigkeitsgefühle und Traumata erklären. Auf dass politisches Handeln weiser und Friedrich Nietzsches Verdikt über den Irrsinn der Völker weniger zynisch wirken würde!
Astrid von Friesen, Jahrgang 1953, ist Journalistin, Erziehungswissenschaftlerin, sowie Gestalt- und Trauma-Therapeutin in Dresden. Sie unterrichtet an der Universität in Freiberg, macht Lehrerfortbildung und Supervision. Außerdem schreibt sie Bücher, zuletzt: „Ein Erziehungsalphabet: Von A bis Z – 80 pädagogische Begriffe" (2013).
Astrid von Friesen
Astrid von Friesen© privat
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