Was Kiew auszeichnet, ist, dass es eine starke Form von Bürgerschaft gibt in diesem Moment, so eine Art selbstorganisierter Erhalt der Stadt.
Lyriker Sebastian Unger
Seine Freundin und ihre Eltern wollen die Ukraine nicht verlassen, erzählt Sebastian Unger. © imago / Rolf Zöllner
“Der Krieg ist ein mehrstufiges Monster”
34:43 Minuten
Die vergangenen zwei Jahre lebte der Lyriker Sebastian Unger in Berlin und in Kiew. Nach der russischen Invasion musste er Freundin und deren Familie im Kriegsgebiet zurücklassen. Nun engagiert er sich von Berlin aus für die Menschen in der Ukraine.
Kurz nach dem Kriegsbeginn ist Sebastian Unger aus Kiew zurück nach Deutschland gekommen. Doch so ganz angekommen fühlt er sich immer noch nicht: “Der Krieg ist ein mehrstufiges Ungeheuer, aus dem man nicht rauskommt, nur weil man physisch das Land verlässt.” Die ersten fünf Kriegstage erlebte er noch in der Ukraine. Der Schreck stecke ihm noch in den Knochen, vor allem aber die Sorge um die Menschen, die noch dort sind. Seine Freundin und ihre Eltern wollen das Land nicht verlassen - das müsse er lernen zu akzeptieren.
Zivilgesellschaft im Notstand
Die Stadt Kiew erlebte der Berliner Lyriker zuvor als vielseitigen Ort in Aufbruchsstimmung mit einem friedlichen Zusammenhalt, auch der russisch- und ukrainischsprachigen Bevölkerungsgruppen untereinander. Auch jetzt beobachte man eine große Solidarität der Menschen: "Was Kiew auszeichnet, ist, dass es eine starke Form von Bürgerschaft gibt in diesem Moment, so eine Art selbstorganisierter Erhalt der Stadt. Das ist, glaube ich, eine ganz große Kraftquelle für viele Menschen in der Ukraine, dass sie so etwas wie eine Zivilgesellschaft im Notstand aufrechterhalten können und sich gegenseitig helfen.”
Eigene Möglichkeiten zu helfen sieht Unger eher von Deutschland aus. "Ich organisiere gerade ganz konkret eine Art Benefiz-Kulturveranstaltung", an der auch ukrainische Künstler teilnehmen werden. Das Spektrum soll von Live-Auftritten über Zuschaltungen bis zu eingeschickten Videos von Texten, Kunst und Musik reichen.
Gedichte aus dem Steinbruch
Angefangen zu schreiben hat Sebastian Unger mit 14 Jahren. Für sein erstes Buch, den Gedichtband “Die Tiere wissen noch nicht Bescheid”, wurde er gleich mehrfach ausgezeichnet. "Ich tue mich sehr schwer mit weißem Papier. Ich arbeite ganz stark aus Materialien heraus, auch aus Briefen oder Emails, die ich geschrieben habe, und sondere quasi Materialien daraus ab und hab so eine Art Archiv, aus dem heraus ich schreibe, so eine Art Steinbruch." Da aus diesem Steinbruch nun schon so viel Lyrik herausgearbeitet worden ist, wird es für den nächsten Gedichtband noch etwas dauern. Deshalb steht nun erstmal etwas anderes an: Im Oktober wird ein Essay-Band von Unger erscheinen.
Seinen Lebensunterhalt hat Unger bisher aber vor allem als Dozent für Deutsch als Fremdsprache verdient. Darum hat er auch vor seiner Zeit in der Ukraine schon viel im Ausland gelebt: Unterrichtet hat er unter anderem in China, Indien und Vietnam. Seine Devise lautet: Unterrichten, um sich so seine Leidenschaft des Schreibens zu finanzieren. “Ich dachte, Deutsch als Fremdsprache ist ideal dafür. Das hat sich dann immer professioneller entwickelt, so dass ich dann DAAD-Lektor geworden bin. Das ist auch die schönste Form des Reisens - zu arbeiten.”
(mah)