Gewerbegebiet von Tigéry, eine Kleinstadt 30 Kilometer südlich von Paris. In einer riesigen modernen Lagerhalle arbeitet im vorderen Bereich ein knappes Dutzend Frauen und Männer in gelben Sicherheitswesten, vom Student bis zur Rentnerin, alle
vom Verein Dons Solidaires. Sie sortieren den Wareneinlauf – sogenannte „solidarische Spenden“.
Quentin Jouve, Ende 30, mittelgroß, ein Rotschopf, beugt sich über einen hohen Karton, randvoll mit Turnschuhen eines weltberühmten Konzerns, dessen Name nicht genannt werden soll und der dem Verein regelmäßig unverkaufte Ware überlässt. Bei jeder Schachtel, die Jouve öffnet, ruft er der zierlich gebauten Frau neben ihm Schuhgröße und Farbe zu.
Ranua Segura tippt die Angaben in den Laptop vor ihr. „Ich bin seit acht Jahren beim Verein und helfe ehrenamtlich beim Umpacken der Ware. Am liebsten ist mir, wenn eine Lieferung Spielzeug reinkommt, da fühle ich mich wie die rechte Hand vom Weihnachtsmann“, erzählt sie.
Bei der heute umzupackenden Ware handelt es sich um Textilien, vor allem Sportkleidung. Neuware, ungetragen, erklärt Quentin Jouve, zuständig für die Verwaltung der Spenden.
Schicke, neue Kleidung für Bedürftige
Das reicht von Damen- und Herrenbekleidung bis hin zu Kindersachen. Wir geben alles an Sozialvereine weiter und achten darauf, dass sie jedes Mal eine Palette bunt gemischter Waren erhalten, für unterschiedliche Geschmäcker und alle Altersgruppen. Das trägt bei zum Kampf gegen Verschwendung und so sorgen wir dafür, Kinder aus bedürftigen Familien mit schicken Schuhen und T-Shirts für den Schuljahrsstart auszustatten. Das ist doch wirklich eine lobenswerte Sache.
Quentin Jouve
Mit der rechen Hand weist Jouve auf fünf haushohe und ellenlange Regalreihen gegenüber. Dort stapeln sich palettenweise verschiedenste Produkte: Hygienebedarf, Schreibwaren, Spiele, Kosmetika, Haushaltsreiniger, Schulhefte, kleine Elektrogeräte.
Markenartikel, Neuware, die liegenblieb: Seien es Restposten bei einer Sortimentsumstellung, sei es, dass ihr Haltbarkeitsdatum bald abläuft. Kurzum: Unverkaufte Ware – die in Frankreich seit Jahresbeginn nicht mehr zerstört werden darf. Eine Weltpremiere.
Ein Verbot, das es in sich hat
Das Verbot ist in der Loi Agec festgeschrieben. „Agec“ steht für „anti-gaspillage et économie circulaire“ – gegen Vergeudung und für die Kreislaufwirtschaft hin zu einem nachhaltigen Wirtschaftssystem. Das im Februar 2020 erlassene Gesetz enthält zahlreiche Maßnahmen.
Darunter das stufenweise Verbot von Einwegplastikverpackungen, von Einweggeschirr, der Aufbau spezifischer Recyclingsysteme, Aufklärungskampagnen für nachhaltigeren Konsum und das Verbot, unverkaufte Artikel zu zerstören.
Eine Freiwillige von Dons Solidaires bei der Arbeit in einem Lagerhaus in der Nähe von Paris: Der Verein profitiert von der neuen Loi Agec.
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Dies betrifft bislang Hygiene- und Pflegeprodukte, Schreibwaren und Druckerpatronen, Möbel, Textilien, Spiele und Spielzeug, Schulbedarf, gewisse Elektro- und elektronische Geräte, Bücher sowie Batterien. Nach und nach soll das Verbot auf weitere Produkte ausgedehnt werden.
Unverkaufte Lebensmittel wegzuwerfen, ist in Frankreich per Gesetz schon seit 2016 untersagt. Auch das war damals weltweit ein Pionierakt.
Für den Umgang mit liegengebliebenen Waren setzt die Loi Agec auf drei Begriffe: „Réemploi, réutilisation, recyclage“, also Wiederverwendung, Weiterverwendung, Recycling, erklärt Pierre Galio von der Umweltbehörde Ademe. Er leitete die Ademe-Studie, die im vergangenen November erschien. Die beziffert erstmals, wie viel Neuware in den von der Loi Agec aktuell definierten Produktgruppen liegen bleibt, sagt Pierre Galio.
Unverkaufte Ware im Wert von 4,3 Milliarden Euro
„Dank unserer Studie wissen wir, dass sich der Handelswert von unverkaufter Neuware in Frankreich heutzutage auf 4,3 Milliarden Euro beläuft. Noch schockierender ist eine andere Zahl“, sagt er. „Bevor das Verbot in Kraft trat, wurde ein Drittel dieser Neuware direkt im Müllcontainer entsorgt, entweder zerstört oder aber recycelt. Unser Ziel ist es natürlich, dass diese ungebrauchten Waren wirklich zum Einsatz kommen und nicht einfach vergeudet werden.“
Denn: Die Umweltbelastung von Konsumgütern entspringt zu 80 Prozent dem Herstellungsprozess. Am meisten werde in der Modebranche vergeudet, so Experte Galio.
Der Handelswert unverkaufter Kleidung und Schuhe betrug 2019 hierzulande knapp 1,7 Milliarden Euro – das entspricht vier Prozent des Jahresumsatzes der Branche. Klar, die Lebenszeit einer Mode wird immer kürzer. Ähnlich ist es bei Büchern und CDs. Auch Spiele und Spielzeug sind Moden unterworfen, auch da wurde bis vor Kurzem viel Unverkauftes zerstört.
Pierre Galio
Hifsvereine profitieren vom Vernichtungsverbot
Dass dies nun verboten wurde, ist nicht zuletzt einer Reportage zu verdanken, die im Frühjahr 2019 im französischen Fernsehen lief. Sie zeigte, wie in einer Lagerhalle von Amazon neue Windeln, Bücher, Fernseher vernichtet wurden.
Einige Monate später versprach die Regierung, im geplanten Gesetz zur Kreislaufwirtschaft das Verbot, unverkaufte Waren zu zerstören, einzuschreiben. Kein Wunder, sagt Laura Chatel von der Nichtregierungsorganisation Zero Waste France.
Als die Fernsehreportage zu den Amazonpraktiken lief, steckte unser Land mitten in der ‚Gilets-Jaunes-Krise‘, der Protestbewegung gegen den Kaufkraftverfall. Da hat die Reportage den Blick darauf gelenkt, dass mancher Franzose zu arm ist, um sich gewisse Gebrauchsgüter leisten zu können, während gleichzeitig umfangreich Neuware zerstört wird. Das war sehr schockierend.
Laura Chatel
Der herkömmliche Absatzmarkt für ursprünglich unverkaufte Ware ist der Ramschladen. Doch bis zum Inkrafttreten des Vernichtungsverbots wurde ein Drittel der aussortierten Konsumgüter einfach zerstört. Zwar setzt der Verein Dons Solidaires seit seiner Gründung 2004 auf Warenspenden von Herstellern oder der Vertriebskette.
Doch seit Januar kämen sichtlich mehr Lieferungen, sagt Annabel Lavigne, im Verein verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit. „Ich habe keine Ahnung, wie viele Tonnen das ausmacht. Aber für das gesamte Jahr erwarten wir 12.000 Paletten Spendengut, im Schnitt 1000 pro Monat.“
Großkonzerne als Sozialpartner
160 Unternehmen hat der Verein als Partner gewinnen können, darunter Großkonzerne wie Procter & Gamble, Johnson & Johnson, genau wie die Kosmetikfirma Yves Rocher, die Ladenkette Galeries Lafayettes oder Abena Frantex, die französische Filiale eines dänischen Unternehmens, das eine breite Produktpalette für Personen mit Inkontinenzproblemen vertreibt: Windeln, spezielle Unterhosen und Ähnliches.
Abnehmer sind Pflegeeinrichtungen und Fachläden, sagt Marketingchefin Anne Pilatte.
„Dass wir vor Monaten eine Partnerschaft mit dem Verein eingegangen sind, hat einen guten Grund“, erklärt sie. „Wir haben immer wieder Ware, die unverkäuflich wird, weil das Nutzungsdatum abläuft oder weil das Sortiment umgestellt wird und die wir nicht mehr zerstören dürfen. Wir sind überzeugt, dass unsere Produkte weiter gut funktionieren und mittellosen Personen überaus nützlich sind.“
Handelswert der Spenden zu zwei Dritteln absetzbar
In den letzten eineinhalb Jahren hat das Unternehmen so 240 Paletten Restware gespendet. Es sei gar nicht einfach gewesen, einen Verein mit entsprechender Lagerkapazität zu finden. Außerdem: Die Loi Agec verspricht Steuervorteile für Warenspenden.
Stimmt, das ist für uns interessant. Zwei Drittel des Handelswerts der Spenden sind steuerlich absetzbar. Das ermuntert uns, auf diesem Weg zu bleiben. Aber letztlich sehen wir das nur sozusagen als Kirsche auf dem Kuchen. Wir haben ja schon vorher gespendet. Auf diese Aktionen sind wir sehr stolz und da dient das Kreislaufwirtschaftsgesetz als Vorwand, unsere Mitarbeiter über unser soziales Engagement aufzuklären und in dieser Richtung weiterzumachen.
Anne Pilatte
Denn in Frankreich ist es vor allem jungen Angestellten immer wichtiger, dass ihr Betrieb für das Wohl der Gesellschaft aktiv wird. Unternehmen sollen mehr gesellschaftliche Verantwortung übernehmen, proklamiert auch die Europäische Kommission, während in Frankreich ein Gesetz seit Mai 2019 regelt, wie die Wirtschaft ihren Teil zur nachhaltigen Entwicklung beisteuern soll.
Eigens dafür eingeführt wurde der Status eines „Unternehmens mit Mission“. Das bedeutet, dass sich das Unternehmen über die Wertschöpfung hinaus weitere Ziele setzen muss, sei es im Bereich Umweltschutz oder bei der Armutsbekämpfung.
Hilfsvereine und Start-ups konkurrieren um die Ware
Annabell Lavigne, beim Verein Dons Solidaires für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig, sitzt vor dem Laptop im Büro hinten in der Lagerhalle. Sie klickt den Onlinekatalog an – dort können Hilfsvereine Waren bestellen, die sie dann an Bedürftige verteilen.
„Gerade läuft wieder, wie jeden Sommer, unsere Aktion zum Schuljahresbeginn. Da bieten wir Schulhefte, Stifte und Ähnliches an. Spenden, die wir das ganze Jahr über zurückgelegt haben.“, erklärt sie. „Sehen Sie, bei jedem Produkt listen wir den herkömmlichen Ladenpreis auf und daneben steht der Bestellpreis für die Vereine, denn damit finanzieren sie einen Teil unserer Betriebskosten. Eines unserer Angebote: 20 Schachteln mit je 50 Kulis für 38 Euro – im Supermarkt würden sie 640 Euro kosten.“
Dons Solidaires ist die älteste und größte Organisation in Frankreich, die unverkaufte Konsumgüter einsammelt. Von ihrem Lager profitieren landesweit über 1000 Hilfsvereine für Bedürftige. Doch da Paris zunehmend auf Kreislaufwirtschaft setzt, kommt mittlerweile Konkurrenz auf, resümiert Annabell Lavigne.
Der Handel mit unverkaufter Ware wird lukrativer
Als 2016 per Gesetz verboten wurde, unverkaufte Lebensmittel zu zerstören, sind neue Akteure beim Kampf gegen die Vergeudung eingestiegen. Ein Gutteil verfolgt lukrative Ziele – Start-ups, die mit unverkauften Esswaren handeln. Dasselbe Phänomen ist seit Inkrafttreten der Loi Agec zu beobachten. Da ist das Wirtschaftssystem rund um unverkaufte Konsumgüter mächtig in Bewegung gekommen.
Wir als Mittler zwischen Unternehmen, die Neuware spenden, und den Hilfsvereinen stehen nun in Konkurrenz zu lukrativ ausgerichteten Start-ups. Die bieten Unternehmen eine ganze Palette an Lösungen zur Verwaltung unverkaufter Ware – bis hin zu Spenden an Vereine.
Annabell Lavigne
Per Videoclip weist die Regierung auf das Verbot der Zerstörung unverkaufter Konsumgüter hin. Vor allem bei kleinen und mittleren Unternehmen ist die Botschaft noch nicht unbedingt angekommen. Kontrolliert wird die korrekte Umsetzung des Gesetzes derzeit noch nicht, so die Umweltbehörde Ademe.
Bei der Nichtregierungsorganisation Zero Waste France, die für eine Zukunft mit möglichst wenig Müll kämpft, werde die französische Kreislaufwirtschafts-Politik sehr aufmerksam verfolgt, versichert Präsidentin Juliette Franquet.
„Wir bekommen mit, dass die Loi Agec im Ausland als ziemlich symbolträchtig angesehen wird. Zu Recht: Einiges im Gesetz ist weltweit sehr innovativ. Dennoch ist der Text teilweise noch zu begrenzt und hat gewisse unerwünschte Auswirkungen“, sagt sie.
Wir als Lobbygruppe müssen am Ball bleiben, dafür sorgen, dass jedes Dekret so präzise, anspruchsvoll und verpflichtend wie irgend möglich formuliert wird. Es geht ja letztendlich darum, einen wirklichen strukturellen Wandel der Gesellschaft zu ermöglichen.
Juliette Franquet
Hoffen auf ein generelles Umdenken
Auch Pierre Galois von der Umweltbehörde Ademe hofft, das Verbot der Zerstörung von Neuware werde peu à peu ein generelles Umdenken einläuten.
„Es geht auch darum, wirklich zu erfassen, was mit unverkaufter Ware passiert, welche Verluste damit verbunden sind. Ist das klarer, werden die Hersteller wohl ihr Produktionssystem entsprechend korrigieren, um Verluste zu vermeiden und auch um ihr Image nicht zu gefährden. Denn bei hiesigen Verbraucherinnen und Verbrauchern kommt Vergeudung nicht mehr gut an“, sagt er.
Dank des Kreislaufwirtschaftsgesetzes blüht unverkauften Konsumgütern in Frankreich ein zweites Leben. Das aber löse nicht das wahre Grundproblem. Das sei die Überproduktion, stellt Experte Galio klar.
Zumindest kommt in Frankreich aktuell ein Teil der Überproduktion mittellosen Personen zugute. Auch dank der Aktivität des Vereins Dons Solidaires, erklärt Marketing-Chefin Annabell Lavigne.
„In Frankreich gibt es drei Millionen Personen, die sich Hygieneprodukte nicht in ausreichender Menge leisten können. Deshalb sind sie darauf angewiesen, sich bei Hilfsvereinen zu versorgen, und die zu beliefern, ist unsere Rolle.