Kraftvolle Gedankenblitze

12.03.2012
Die 1924 geborene Schriftstellerin Friederike Mayröcker schreibt seit ihren Kindertagen. 1954 lernte sie Ernst Jandl kennen, mit dem sie zunächst eine enge Freundschaft verbindet, später wird sie zu seiner Lebensgefährtin. Im Suhrkamp Verlag ist nun ein neues Buch von ihr erschienen.
Seit Jahren schreibt Friederike Mayröcker, die Grande Dame der deutschsprachigen Literatur, an einem rastlosen Endlos-Text. An einer entfesselten Poetologie, deren Bewegungen ein Möbiusband in Erinnerung rufen: scheinbar orientierungslos, ohne räumliche und zeitliche Koordinaten, doch in jedem Augenblick die größtmögliche Vielfalt assoziierend. Vielleicht erscheinen deshalb die ohnehin kurzen Zeitintervalle zwischen ihren Publikationen wie gewaltvolle Pausen, widernatürlich und irgendwie unangemessen. Nun aber liegt ein neues Buch vor.

Man müsste Friederike Mayröckers Text aus den Buchdeckeln heraustrennen und von den Seitenzahlen befreien. Dadurch würde seine Unbedingtheit, seine Radikalität deutlicher hervortreten. Und es würde die bedingungslose poetische Strenge sichtbar machen, die jede Zeile beherrscht.

In Bewegung versetzt wurde das Möbiusband von der Dichterin diesmal in einer Julinacht. Das Ich befindet sich, "betäubt von dem Duft der Narzissen", in "einer (meiner) Besinnungslosigkeit". In den schwachen Händen hält es den "gebüschelten Geist, die Wundmale der Hingabe". Denn das Schreiben eines Buches, so in einem fiktiven Dialogfragment mit Ely (Ernst Jandl & seine künstlerische Referenz), ist und bleibt "1 waghalsiges Unternehmen".

Friederike Mayröcker macht den Sommer und das Außersichsein in diesem Buch zum poetischen Prinzip. Das Ich ist eine in Zeitfalten gelegte Fiktion, eine "überflutete Figur" - maßlos und unberechenbar. Es wildert umher, beschwört Bilder von Mimmo Paladino, Gerhard Richter und William Turner herauf. Im Hintergrund erklingt dazu Musik von Keith Jarrett und Robert Schumann. Bilder der Kindheit zeichnen sich ab.

Dann wieder ruft die Collage einer Komposition von Arnulf Rainer - "nach einer Fotografie meines Gesichts gefertigt" -, beklemmende Gefühle ob des eigenen Narzissmus hervor. Worauf eine jener mayröckerschen Emphasen folgt: "Überhaupt ist mir fast NICHTS durchschaubar weil diverse bodenlose verschleierte Zusammenhänge wer bin ich denn eigentlich".

Von der ersten Seite an ist das Ich mit der Lektüre von Jacques Derridas Buch "Glas" und der Frage beschäftigt, was danach noch zu lesen sei. Schließlich legt sie das quadratische Werk des französischen Philosophen aus der Hand und greift zu Peter Waterhouse und Roland Barthes. Dann läutet das Telefon und die Dichterfreundin Elke Erb verwickelt sie in einen Dialog. Winzige Fetzen dieser Zwiesprache bleiben als Kostbarkeiten zurück: "wer wisse schon, so Elke Erb, wie sich die Vögelchen fühlen wenn sie in die Sphären in Dantes paradiso sich entzwitscherten".

Friederike Mayröckers Text übt einen starken Sog aus. Wobei sich dieser Sog als höchste Kunstform und Mäßigung erweist. Jede Sequenz in diesem Universum ist von gleicher Wertigkeit. Während erbarmungslos offen vom Hocken, Ducken, Schleichen, kurzum vom physischen Altern die Rede ist, blitzen die Gedanken über Jean Genets Poetik und Hegels Dialektik kraftvoll auf.

Besprochen von Carola Wiemers

Friederike Mayröcke: Ich sitze nur GRAUSAM da
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
142 Seiten, 17,95 Euro
Mehr zum Thema