Poetische Visionen

13.04.2011
Friederike Mayröckers Prosatexte zeichnet eine besondere Statik aus. Da sie ohne die herkömmlichen Verankerungen in Zeit und Raum auskommen, könnte man sie fragil nennen. Doch zeigt sich bei genauer Lektüre, dass sie ihre Stabilität gerade aus jenen Lossagungen schöpfen, die gemeinhin als haltlos gelten. Man begibt sich in poetische Visionen.
Das signalisiert auch der Titel von Mayröckers neuem Buch. Die nur 30 Seiten umfassende Prosa wird "umhalst" von zwei lyrischen Texturen, die wie Prolog und Epilog fungieren und mit den Daten 10.1.2010 und 19.2.2010 versehen sind. Schon der Eingangssatz weist die Richtung: "Wenn 1 Person fehlt (ausgespart ist) auf einer Fotografie, dann sind nur die Umrisse dieser Person zu sehen, also ihre "Aussparung". Gerade diese "Umrisse" aber sind es, die beim Schreiben die Leerstellen markieren und die erzählend, als Bilder des Verlustes vergegenwärtigt werden sollten. Mit ihnen öffnet sich der reiche Fundus an Erinnerungen, durchsetzt von Träumen und durchzogen von Melodien des Begehrens und der Trauer.

Mayröcker beschwört zwei Paare herauf, die sich in ihrer künstlerischen Kreativität, in ihrem Glück und Schmerz komplementär verhalten: den Komponisten (Robert Schumann) und die Pianistin (Clara Schumann) sowie den als "ER" bezeichneten Geliebten und das schreibende Ich. Damit das Quartett nicht aus der Balance gerät, muss die Schreiberin als einzig noch Lebende alle poetische Kraft aufbringen, um für Augenblicke die begehrte Gegenwärtigkeit zu imaginieren.

Sie schaut in die "Faltentiefe der Gewänder" des Komponisten und sieht wie er "den 4.Finger der rechten Hand (Ringfinger) hochrisz und hochbäumte und hochband an der Decke des Arbeitszimmers dasz es ihn schmerzte". Während in der Stille der Betrachtung jene Musik erklingt, die Schumann schon fast im Wahn der verehrten Pianistin und Frau Clara gewidmet hat, sitzt das andere Paar im geliebten Wiener Kaffeehaus "Drechsler" und wird Teil der Szenerie. Mayröckers Text ist von einem "Frühlingserschrecken" durchzogen, das im Aufblühen der Veilchen und ihrem Binden zu Sträußen ein Symbol abgrundtiefen Schmerzes erfährt.

Sprechend schafft sie Visionen der Nähe, die von "groszer Innigkeit" sind – wobei immer unbedeutender wird, wer den Arm wem und wo um die Schulter legt. Es ist die Umarmung selbst, in der Text und Musik als noch mögliche "Umhalsungen" zelebriert werden. Dann tritt plötzlich ein Blick aus "graublauen Augenbällen, nämlich die Cigarillos, beedies, duftende Pfeife schmauchend" hervor und der Wunsch noch einmal mit "ihm" ("ER") ins Kaffeehaus "Drechsler" gehen zu können.

Mayröckers Prosatext kennzeichnet eine virtuose Tektonik, die von Verwerfungen, Brüchen und Leerstellen lebt. Blitzhaft, wie im Traum, steigen aus ihr tröstende Musik, schmerzhafte Erinnerungen, starker Veilchenduft und auch Grabeskälte auf.

Besprochen von Carola Wiemers

Friederike Mayröcker: Vom Umhalsen der Sperlingswand, oder 1 Schumannwahnsinn
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
41 Seiten, 14,90 Euro