Kraftquelle Lunge

Atem holen

27:36 Minuten
Illustration einer Lungeninfektion
Atmen wird seit Jahrhunderten und in vielen Kulturen der Welt erforscht. © imago / Science Photo Library
Von Bettina Haasen · 13.01.2022
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Ist man gesund, funktioniert sie ganz von allein: die Atmung. Doch geraten Körper und Geist aus dem Takt, ist richtig atmen gar nicht mehr so leicht. Nicht nur für Covid-19-Erkrankte.
Mein Gefühl der Atmung fühlt sich in diesem Moment an wie eine holprige Sackgasse ins Nirgendwo. Tage, Wochen, Monate. Corona. Seit einem Jahr werden Tage zu Wochen und Wochen zu Monaten. Aber keine Zeit für Selbstmitleid. Stattdessen tief Luftholen. Und mit jedem Atemzug eine Portion Zuversicht und Kraft für Homeschooling, Homeoffice, Home-Bespaßung.
Was würde ich geben für drei Tage Selbstbestimmtheit, mal wieder unterwegs sein… Wo war ich stehen geblieben? Mein Gefühl der Atmung… stimmt. Ich schließe wieder die Augen und atme…
Atem holen: die natürlichste Sache der Welt. Etwa 20.000 Mal am Tag atmet ein gesunder Mensch. Etwa zwölf Mal pro Minute. Bis zum Ende dieser Sendung werde ich also 336 Mal ein- und ausgeatmet haben. Dabei bewege ich rund zwölfeinhalb Kubikmeter Luft mit der Lunge. Ganz unbemerkt macht mein Körper das, nur um genug Sauerstoff bekommen.

"Die Atmung funktioniert wie eine Heizung"

"Die Atmung funktioniert wie eine Heizung. Sie haben irgendwo ein Steuerungsgerät und das Steuerungsgerät sagt dem Verbrenner, wie viel Energie er erzeugen soll, je nachdem, wenn es kalt ist, wird der Verbrenner hochgefahren und wenn es warm ist, wird er runtergefahren. So ähnlich funktioniert die Atmung. Wir haben ein Steuerzentrum, das ist das Atemzentrum und über das wird die Atmung gesteuert."
Bei Harald Müller-Pawlowski, einem erfahrenen Arzt für Lungen- und Bronchialheilkunde in Berlin Lichterfelde, möchte ich mehr über meine Atmung erfahren. Auf der Webseite der Arztpraxis lese ich, dass er und seine Kollegen ihre Patientinnen und Patienten auf Augenhöhe behandeln, "wenn Ihnen die Luft knapp wird". Ich bin neugierig.
"Das Schöne am Atem ist, dass es eigentlich funktioniert und funktionieren sollte, ohne dass man sich darüber Gedanken machen muss. Wir haben ein Atemzentrum, das sitzt im verlängerten Rückenmark hier hinten am Hinterkopf und da gibt es Steuermechanismen, die unsere Atmung regulieren. Diese Steuermechanismen sind auf der einen Seite der Sauerstoffdruck im Blut, auf der anderen Seite der CO2-Wert und der PH-Wert in erster Linie und wir haben Rezeptoren, die diese Signale an das Atemzentrum weitergeben."

Die Lunge ist das Einfallstor des Coronavirus. Hören Sie dazu auch das Interview in unserer Sendung "Studio 9" mit Herbert Schiller, stellvertretender Direktor des Instituts für Lungenbiologie am Helmholtz Zentrum München, über die Besonderheiten der Lunge, die Neuerungen bei der Erforschung und eventuelle Auswirkungen auf Diagnose und Therapien bei Erkrankungen.

Klingt nach einem ausgeklügelten Zusammenspiel. Dennoch: In Zeiten der Corona-Pandemie schwingt eine natürliche Grundverunsicherung bei allem mit und deswegen sage ich nicht nein, als Herr Harald Müller-Pawlowski mir anbietet, einen Lungenfunktionstest durchzuführen, um den Zustand der Lunge und der Bronchien zu testen.
"Ich gebe Ihnen eine Nasenklammer, Sie machen das Mundstück erst einmal ab, bekommen die Nasenklammer von mir, die kommt direkt auf die Nasenflügel rauf." Ich setze mich also bereitwillig in die sogenannte Bodykammer, einer kleinen Kabine mit Glaswänden, während mir eine medizinische Mitarbeiterin der Praxis außerhalb der Kabine Anweisungen gibt.
"Dann fangen wir mit der Lungenfunktionsmessung an. Ich will Ihnen das nochmal ganz kurz erklären, nicht, dass Sie sich wundern mit einem Mal, weil Sie kriegen nämlich keine Luft für zwei Sekunden. Da fällt ein Widerstand, da müssen Sie gegen den Widerstand die Atmung weiterhin simulieren, so tun als würden Sie Luft kriegen. Atmen einmal gegen und atmen wieder ein", sagt sie.

Dieses Feature wurde erstmals am 8. April 2021 gesendet.

Mit meiner Lunge ist alles in Ordnung. Ein Glück. Anders ist es bei Britta Rhiemeier. Vor vier Monaten erkrankte die 56-Jährige an Covid-19 und lag zehn Tage auf der Intensivstation. Ich besuche sie in ihrer Dachwohnung in Berlin Friedenau. Sie wirkt immer noch angeschlagen und streicht sich beim Sprechen immer wieder über die Lunge.
"Ich habe Asthma seit ich zwölf bin, hab aber auch immer viel Sport gemacht. Ich war diverse Male auf der Ersten Hilfe mit Asthma-Anfällen, die sowohl durch Tierhaar-Allergien, als auch Aufregungsasthma bekannt waren. Wenn es einem mal nicht gut geht, dann geht es auf die Lunge! Insofern habe ich viel Erfahrung mit dieser Kurzatmigkeit und hab auch eine sogenannte Blählunge, den medizinischen Begriff weiß ich gerade nicht, aber es bedingt, dass man mehr einatmet als man rausbekommt und das macht manchmal ziemlichen Druck."
Britta Rhiemeier und ihr Mann wurden im Oktober vergangenen Jahres beide positiv getestet. Ihr Mann war schnell wieder auf den Beinen, sie selbst bekam eine Lungenentzündung.
"Ich musste dann schon weinen, weil es genau in der Zeit lag, dass meine Tochter heiratete, und dadurch war ich dann während der Hochzeit im Krankenhaus und mein Mann hier zu Hause in Quarantäne, das war schon echt traurig. Und war auch gleichzeitig unheimlich dankbar für diesen Sauerstoff, den ich da bekommen habe, das war wirklich schon sehr hilfreich. Und ich weiß nicht, ob ich es ohne Krankenhaus geschafft hätte."
Ein Covid-19 Patient liegt in einem isoliertem Intensivbett-Zimmer in der Asklepios Klinik und wird beatmet.
Ein Covid-19 Patient auf der Intensivstation: Auch Britta Rhiemeier meint, sie hätte es ohne Krankenhaus nicht geschafft.© picture alliance/dpa | Sven Hoppe
Das Coronavirus SARS-CoV-2 und seine zahlreichen neuen Varianten sind eine große Bedrohung für die Atemwege und die Lunge. Ärzte wie Harald Müller Pawlowski wurden von der Wucht der Pandemie förmlich überrollt.
Rückblickend stellt er fest: "Es ist ja in der Corona-Erkrankung rasend schnell gegangen und trotzdem viel zu langsam, das heißt man hat am Anfang Dinge falsch gemacht, die haben sicherlich einigen Menschen das Leben gekostet, die würden heute wahrscheinlich nicht mehr sterben, wenn man das Wissen von heute hätte. Aber so ist das nun mal. Man lernt und man forscht und man kriegt neue Ergebnisse. Diese Ergebnisse müssen sich dann natürlich schnell verbreiten, damit alle, die mit solchen Krankheiten zu tun haben, auch umsetzen können."
Britta Rhiemeier gilt als genesen. Seit zwei Wochen kann sie wieder riechen. "In dem Moment, wo man zum Beispiel ausatmet, wenn der Atem zu Ende geht, dass man das Gefühl hat, man muss noch einen Rest rausdrücken, so mit Pressen. So sind auch diese Lungenschmerzen, also, wenn man sich vorstellt: Sie haben vielleicht schon mal 14 Tage eine Bronchitis gehabt und Sie mussten die ganze Zeit husten. Und Sie hatten so eine Art Muskelkater, es tut alles weh, und so ist dieser Lungenschmerz jetzt, nur, dass man keinen Husten hat", erzählt sie.
"Es fühlt sich an, als wäre der Körper oder die Lunge in so einem Muskelkatermodus, dass immer alles irgendwie raufpiekt, und man so etwas mit sich schleppt, wo man sagt: Ich muss wirklich mich konzentrieren auf die Lunge, damit ich merke, dass ist jetzt der normale Rhythmus."

Ob die Beschwerden dauerhaft sind?

Nach heutigem Kenntnisstand lässt sich nur schwer sagen, ob die Beschwerden dauerhaft sind oder nach einer bestimmten Zeit wieder verschwinden. Dafür gibt es mittlerweile mal wieder jede Menge neue Begriffe: Long-Covid oder das Post-Covid-Syndrom.
"Das ist ein langer Prozess. Ich bin oftmals sauer und traurig, warum ich das so lange haben muss, dass ich nicht normal wieder alles machen kann, und dass es sich körperlich ganz anders anfühlt als vorher".
Seit ihrer Erkrankung verbringt die 56-jährige Frührentnerin viel Zeit bei Ärzten und Krankengymnastik. "Ich bin tatsächlich zur Covid-Fatigue-Sprechstunde geschickt worden. Das ist für Ex-Covid-Patienten, die eben diese langen Nachwirkungen haben mit dieser extremen Müdigkeit und Kraftlosigkeit, und zum andern muss ich jetzt zum Kardiologen gehen wegen dieses hohen Pulses, wo die Herzklappen nachgeguckt werden müssen, ob da alles in Ordnung ist", sagt sie.
"Und ich merke, es ist noch nicht im Gleichgewicht und meine Ärztin heute hat gesagt, dass sie als Ärzte auch festgestellt haben, dass sie da an ihre Grenzen kommen, weil man einfach viel zu wenig darüber weiß, was es alles macht."
Britta Rhiemeier geht ins Bad und nimmt ihr Asthma- und Bronchien-Spray. "Hier sind meine Sprays griffbereit und hier dieses eine, Spiromaxgerät, also das heißt, das schiebt das Pulver in eine Öffnung und dann nehme ich den Deckel ab, atme aus", erklärt sie.
"Man atmet das ganz tief ein, drückt dann praktisch das Pulver in die Lunge, hält den Atem an und atmet still wieder aus. Und das andere, das ist so ein Dosieraerosol. Das funktioniert beim Ausatmen, aber da ist der Sprühstoß eben trockener und nicht mit dem Pulver. Da wird einem manchmal etwas schwindelig. Und wichtig: Der Mund muss ausgespült werden."

15 bis 20 Prozent der Bevölkerung leiden an Atemwegserkrankungen

Atmen wird seit Jahrhunderten und in vielen Kulturen der Welt erforscht. Wir reden auch jenseits von Corona vom Durchatmen, den Atem nicht verlieren, Atem holen. Atemnot. Kurzatmigkeit.
Dazu kommen neben Corona natürlich noch weitere gefährliche und chronische Lungen- und Atemwegserkrankungen: Allergien, Asthma bronchiale, Bronchitis, Pneumonie, Pseudokrupp, Schlafapnoe - und das "Undine Syndrom".
Das Buch "Undine geht" von Ingeborg Bachmann basiert auf der germanischen Legende des Wassergeistes Undine, von dem das Undine Syndrom seinen Namen hat. Ihren untreuen, irdischen Mann bestraft Undine damit, dass sie ihm die autonome Atmungskontrolle nimmt, so dass er im Schlaf stirbt.
Beim "Undine Syndrom" in der Medizin handelt sich um eine seltene, angeborene Erkrankung des zentralen Nervensystems, bei der die normale Atmungskontrolle fehlt. Eine Störung der zentralen CO2-Chemorezeptoren führt dazu, dass im Schlaf die Atmung häufig aussetzt und die Betroffenen daher im Schlaf mit Sauerstoff beatmet werden müssen.
"Akute Atemnotinfektionen haben ja mittlerweile eine gesellschaftliche Bedeutung. Das Amt für Statistik hat herausgefunden, dass alleine 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung an chronischen und akuten Atemwegserkrankungen leiden. Auch die Zahl der Schlafapnoe, neben Asthma und grippalen Infekten und chronischer Bronchitis ist natürlich auch Covid-19 im Fokus. Erkrankungen der Lunge sind die dritthäufigste Todesursache, nach Herzkreislauf und Krebserkrankungen, würden Sie sagen: Sind wir in unserer Gesellschaft nicht nur übermäßige Esser, sondern auch übermäßige Atmer?"
"Jetzt haben Sie ein umfangreiches, komplexes Gebiet angesprochen", sagt Harald Müller-Pawlowski. "Mit den Infekten ist es so, dass wir Dank Corona, muss man auch mal so sagen, praktisch keine mehr haben. Die Grippe hat nicht stattgefunden, grippale Infekte sind fast nicht vorhanden in diesem Winter, das liegt daran, dass alle Maske tragen. Das heißt dieser positive Effekt durch das Maskentragen, der ist evident."
Wenigstens etwas. Grund zum Aufatmen? Ich bin mir unsicher. Zum Abschied möchte ich den Lungenspezialisten doch noch etwas aus der Reserve locken.
"Letzte Frage, wenn Sie mir noch einen Ratschlag für ein besseres Leben geben könnten mit Bezug auf das Atmen, welchen Ratschlag geben Sie mir mit jetzt, wenn ich wieder nach Hause fahre und mich dem Thema widme?"
"Dann würde ich Ihnen den Ratschlag mitgeben, dass sie, wenn Sie sonst ein völlig gesunder Mensch sind, sich möglichst wenig Gedanken um Ihre Atmung machen sollten. Weil das ist, habe ich schon mehrfach gesagt, eine Sache, die funktioniert einfach und wenn man gesund ist, dann funktioniert es und es funktioniert immer, tags, nachts, Sommer und Winter. Und über die ganzen Rezeptoren kriegen Sie immer genauso viel Luft und so viel Sauerstoff und CO2, wie Sie brauchen."

Atem wirkt sich auf Körper und Geist aus

Atem – im Japanischen "KI", im Chinesischen "Qi" – ist die Lebenskraft, die uns am Leben hält. Ohne "Luft" kein "Leben". Schon die alten Hochkulturen kannten die Bedeutung des Atems. Seele oder Geist und Atem haben in vielen Sprachen denselben Wortstamm. Wie wir den Atem ausdehnen, beruhigen oder gar anhalten, hat unmittelbare Auswirkungen auf unseren Körper und Geist. Je bewusster wir atmen, desto aufmerksamer werden wir auf den Moment, der zwischen den Atemzügen liegt. Mit unserem Atem können wir uns die Kontrolle zurückholen und regulieren, was wir empfinden. Eine herausragende Fähigkeit, über die wir viel zu wenig wissen.
Ich besuche Roland Bauer, Yoga- und Meditationslehrer in Berlin. Seit fast 20 Jahren ist Roland Bauers "Raum für Yoga" ein wichtiger Bezugspunkt für mich geworden. Mitten in Berlin gelegen, dringen Straßenbahngeräusche und Automotoren nur gedämpft nach oben. Eine gute Sitzposition erleichtert es, schnell zur Ruhe zu kommen.
"Jetzt ist es aber so, dass es mir wirklich nicht leicht gelingt, meinen Geist zu beruhigen. Kannst du diese Natur des Geistes beschreiben?" – "Ein Affe", Roland Bauer lacht. "Die inkarnierte Unruhe selbst, das ist unser Geist. Das Problem ist uns seit Jahrtausenden bekannt und seit Jahrtausenden suchen die Leute Techniken, mit denen sie den Affen zähmen können. Aber es gibt Techniken, mit denen wir das bezähmen können. Der Atem spielt eine Schlüsselrolle. Auf jeden Fall. Beruhigt sich der Atem, wird automatisch der Geist ruhig."
Wie lässt sich erklären, dass der Atem mit dem mentalen Zustand mit den Gedanken so eng zusammenhängt? "Es ist so: Es kommen Informationen rein über die Sinnesorgane. Und dann müssen wir diese Informationen verarbeiten und müssen gucken, ist Gefahr, muss ich reagieren, ist es wichtig, unwichtig? Das muss ich ganz schnell entscheiden und dann muss ich auch ganz schnell überlegen, wenn ich reagiere, wie reagiere ich denn. Das braucht eine Zeit, um diese Prozesse durchzuführen, um dann angemessen zu reagieren. Und das geschieht genau in der Zeit zwischen Ein- und Ausatmen. Diese Atempausen sind die Zeit, in denen diese Prozesse stattfinden und die Entscheidungen gefällt werden."
Inderinnen praktizieren Pranayama in einem Yoga-Camp in Amritsar
Pranayama ist eine alte Atemtechnik aus Indien, die gesund machen und das Leben verlängern soll.© picture alliance / dpa | Raminder Pal Singh
Schon im 1. Jahrhundert vor Christus wurde in Indien das Pranayama beschrieben, eine Technik bewusster Apnoe, die gesund machen und das Leben verlängern sollte.
"Wir machen jetzt eine wunderschöne Übung. Wir atmen durch die Nase ein und dann machen wir den Mund ganz weit auf und atmen doppelt so lange wie wir eingeatmet haben, atmen wir durch den weitgeöffneten Mund aus", sagt Roland Bauer. Das Anhalten des Atems geschieht bewusst. Die Zeit zwischen Ein- und Ausatmen: ein Schlüssel?
"Das ist alles. Ich sage die Übung an: Also erst einmal aus-, dann einatmen. Und dann weit aus, durch die Nase ein, durch den weit geöffneten Mund aus." Die Straßenbahn nehme ich kaum noch wahr. Es ist, als verlasse ich kurz diesen Ort, dieses Gebäude, die Stadt. Alles fühlt sich ganz weit weg an.
"Und jetzt lass die Beeinflussung des Atems weg. Übergib die Atemkontrolle an den Körper, überlass es ganz den Körper, dass er so atmet, wie er es möchte, und du bist nur noch der Zuschauer, beobachtest es, wie der Körper das jetzt macht mit dem Atem. Wie langsam oder wie schnell, wie tief oder wie flach, und sei sehr achtsam, sei sehr genau, aber nur beobachten, nicht eingreifen."
Ein paar Sekunden lang kann ich den Atem loslassen. "Bleibe beim Atem. Konzentration auf den Atem." Eine robuste Ruhe-Hülle umgibt mich.
"Ich finde es unglaublich, du warst vollkommen ruhig zum Schluss gewesen. Nicht nur der Körper, der Atem. Wie geht es? Wie fühlst du dich?", fragt Roland Bauer. Nur langsam kehrt mein Bewusstsein zurück. Ich möchte noch mehr verstehen.
"Hab ich dich richtig verstanden, du sagst im Grunde, es ist das Ziel in der Praxis das Atmen zu entschleunigen, und – wie hast du es genannt – es fast aufzuheben, kannst du diesen Moment nochmals beschreiben?"
"Es ist ein Zustand, in dem wir nicht über muskuläre Spannungen den Atem blockieren. Sondern wir haben Atemtechniken, die dazu führen, dass der Atem einfach ganz von alleine weniger und weniger und weniger, und dann für eine gewisse Zeit gar kein Atem mehr strömt", sagt Roland Bauer.
"Das hört sich natürlich erst einmal gefährlich an, da werden Mediziner vielleicht auch widersprechen. Aber wer das erlebt hat, der weiß das einfach. Da gibt es andere Energiequellen, die den Körper versorgen mit Energien, und das Bewusstsein wird entkoppelt von den Sinneswahrnehmungen und taucht in seine eigene innere Welt ein."

Was muss man tun, um richtig Luft zu holen?

Aber das ist es nicht allein. Ich merke, wie ich immer mehr zum Kern meiner Frage gelange, was man tun muss, um richtig Luft zu holen. "In dem Maße, wie der Atem ruhig wird, beruhigt sich der Geist. Wir leiden alle darunter, dass wir viel zu schnell atmen und dass wir viel zu schnell denken. Und dieses Multitasking ist der vollkommene Wahnsinn. Die Vorstellung, noch mehr in Zeitscheiben zu denken, das macht uns völlig wahnsinnig, bis hin zu Kopfschmerzen und Migräneattacken. So werden wir in keinem Fall glücklich werden können!", meint Roland Bauer. Loslassen können erfordert also einen langen Atem. Die angeleitete Erfahrung ermöglicht eine tiefe Begegnung mit meinem eigenen Atem.
Teil der jahrhundertealten indischen Tradition ist das Singen von Mantren. Die Stimme hätte ohne den Atem keine Kraft. Das macht den Atem zu einem wichtigen Ausdrucksmittel. Wie ein Mensch klingt, hängt davon ab, wie er oder sie den Atem dosiert, ob die Stimmlippen schließen und in welchem Zustand die darüber liegenden Resonanzräume sind.
Wer auf den Klang von Stimmen achtet, weiß, wie es dem Sprecher geht. Glück hebt den Klang an. Aber nicht nur das. Mit dem Singen wird auch unser Immunsystem gestärkt. Singen schützt vor Erkältung und weiteren Erkrankungen.
Frankfurter Forschende des Instituts für Musikpädagogik der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität haben nachgewiesen, dass die Zahl der Antikörper nach nur 60-minütiger Gesangsübung steigt. Bereits nach circa 30 Minuten Singen werden von unserem Gehirn erhöhte Anteile von stimmungsaufhellenden Hormonen wie Beta-Endorphin und Serotonin produziert und Stresshormon Cortisol abgebaut.
Die Erfahrung, dass die eigene Stimme an stressigen Tagen wegbricht und ich mir regelrecht zuhören kann, wie ich immer leiser spreche, treibt mich um. Seit einem Jahr nehme ich Gesangsunterricht bei Julia Krispin, die auch als Atem- und Stimmtherapeutin arbeitet.
"Versuche, während du mir zuhörst, den Bauch loslassen beim Einatmen. Finde wieder die Verankerung in der Körpermitte und lass die Luft beim Einatmen in den Bauch strömen, sodass die Atmung wieder tief ist und wieder körperzentriert und du ein Gefühl bekommst für deine Körpermitte, aus der wir nachher die Kraft schöpfen für die Stimme."
Julia Krispin unterrichtet Kinder, Jugendliche, die an einer Casting-Show teilnehmen wollen, Lehrer, die nach langer Berufstätigkeit ihre Stimme verloren haben.
"Spüre, wie du in das Innere deines Körpers sinkst, das ist wichtig. Verbinde dich mit deinem Körper damit wir gleich unser Instrument, ganz bewusst nutzen können, unser Körper verbunden mit der Stimme."
Der Aspekt von Ganzheitlichkeit ist auch in ihrer Arbeit entscheidend. "Ich sehe den Menschen als Ganzes, nicht nur seine Stimme. Für mich ist es unwahrscheinlich wichtig, den Menschen da abzuholen, wo er steht, und zu spüren, was der Mensch braucht. Jeder Mensch ist anders und hat andere Voraussetzungen", sagt Julia Krispin.
"Der Eine hat viel zu viel Verspannung im Körper und braucht erst einmal Zeit, loszulassen. Der nächste ist unterspannt und braucht erst einmal ein gezieltes Training, Körperspannung aufzubauen. Am Ende ist es für mich abseits von jeder Technik das Wichtigste, dass sich jemand mit sich und mit seiner Stimmgebung wohlfühlt."
Anzeige für Gesangsunterricht an einem mit unzähligen Anzeigen überklebeten Laternenmast in Berlin-Prenzlauer Berg 
Anzeige für Gesangsunterricht: Mithilfe der Atmung lässt sich Kraft schöpfen für die Stimme.© imago/Seeliger
Der ausgebildeten Gesangslehrerin und Heilpraktikerin geht es in ihrem Gesangsunterricht immer darum, dass die Schüler*innen lernen, den eigenen Körper als Instrument und Resonanzraum zu nutzen.
"Was ich beobachte, ist, dass die Menschen durch zunehmende sitzende Tätigkeiten im Berufsleben, den Zugang zu ihrem Körper verlieren, auch durch vermehrte Inaktivität. Dadurch, dass das Arbeitsleben der Menschen sich zunehmend in den Kopf und in die geistige Tätigkeit und Anstrengung verlagert hat, verlieren die Menschen den Zugang zur Atmung und zum Körper", sagt sie.
"Und eigentlich ist es aber sehr simpel, mit dem Atem, den man körperlich zentrieren kann und zwar in den Bauch und in die Flanken, etwas mehr aus dem Kopf und wieder in den Körper zu kommen. Aber je mehr verkopft die Menschen sind, was in der Tendenz steigt, desto mehr geht das Gefühl aus dem Körper." Die Annahme vieler Menschen, sie könnten gar nicht singen, ist nach Ansicht von Fachleuten falsch.
"Der Atem ist sozusagen der Treibstoff für die Stimme. Heißt also, ohne Atem keine Stimmgebung, keine Phonation. Der Atem kommt von unten aus der Lunge durch die Luftröhre und passiert den Kehlkopf, unterhalb der Stimmlippen und die Stimmlippen werden in Schwingung versetzt und dadurch entsteht ein Ton. Und das geht nur, wenn Atem von unten kommt. Wenn Atem überhaupt vorhanden ist", sagt sie.
"Das heißt: Wer ausatmet, kann sprechen. Und wer sprechen kann, kann im Übrigen auch singen. Denn im Grunde ist das Singen gar nicht so weit entfernt von dem Sprechen im Kern, nur, dass wir beim Singen etwas mehr Melodie und Töne dazunehmen. Aber es ist ganz simpel!"

Wer singt, dem geht es besser

"Was würde sich verändern, wenn wir Menschen mehr singen würden und weniger sprechen?" – "Dann würde es den Menschen wahrscheinlich in erster Linie besser gehen, weil Singen gesund ist für Körper und Seele, und wenn wir singen, schütten wir Glückshormone aus – das ist nachweisbar –, und sie haben ein besseres Gefühl für den Körper. Jedem einzelnen würde es per se etwas besser gehen und wir würden uns mit viel mehr Melodie unterhalten."
Julia Krispin hat unter der Pandemie zu leiden. Nicht nur der Unterricht, sondern auch Konzerte und Bühnenauftritte sind ausgesetzt, werden doch beim Singen hundert Mal mehr Aerosole produziert als beim Atmen und Sprechen. Singen wird zum Superspreader-Event – und so geht es nur noch alleine.
"Nie war Singen so wichtig wie jetzt, und jeder kann singen. Natürlich ist es auch schwer, aber wir sollten mindestens für uns selbst in unserem Kämmerchen singen und summen und uns mit unserer Stimme beschäftigen!"
Und so atme, singe und summe ich weiter, bewusst in dem Wissen, mir, meinem Geist und meinem Körper Gutes zu tun und gesund durch mein Leben zu kommen. Egal, wie stressig es wird.
Immer dran denken: Atmen hilft. Am besten wenn man durch die Nase atmet, langsam und bewusst, in den Bauch. Am besten fünf Mal ein- und ausatmen in der Minute. Dann kann einen so schnell nichts aus der Ruhe bringen.

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