"Kränkende und entwertende Erfahrungen mit der Wiedervereinigung"

Jochen-Friedrich Buhrmann im Gespräch mit Dieter Kassel · 15.08.2011
Die ehemaligen Bürger der DDR hätten eine enorme Anpassungsleistung erbracht, doch die Anerkennung bleibe ihnen oft versagt, sagt der Therapeut Jochen-Friedrich Buhrmann. Das führe häufig zu depressiven Zuständen und psychosomatischen Erkrankungen.
Dieter Kassel: Es war vor allem eine großartige Leistung der Menschen in Ostdeutschland, die zunächst die Berliner Mauer zum Einstürzen und dann die ganze deutsche, innerdeutsche Grenze zum Verschwinden gebracht hat. So oder so ähnlich hat man das auch vorgestern wieder an der einen oder anderen Stelle gehört bei den Gedenkveranstaltungen zum 50. Jahrestag des Baus der Berliner Mauer.

Tatsache aber ist: Als vor rund 20 Jahren der Vereinigungsrausch vorbei war, da ging es für die meisten Menschen im Westen eigentlich genau so weiter wie vorher, für die meisten Menschen im Osten aber nicht, die mussten 20 Jahre lang größte Veränderungen über sich ergehen lassen. Was vielen erstaunlich gut gelungen ist, was bei einigen aber auch schwere Spuren hinterlassen hat.

Und mit diesen Spuren beschäftigt sich, zumindest wenn die Menschen in der Nähe von Schwerin wohnen, Dr. Jochen-Friedrich Buhrmann, er ist der Chefarzt der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Schwerin und sitzt jetzt bei den Kollegen vom NDR in Schwerin für uns im Studio. Schönen guten Tag, Herr Buhrmann!

Jochen-Friedrich Buhrmann: Guten Tag, Herr Kassel!

Kassel: Was für Symptome zeigen denn Menschen, die zu Ihnen kommen und bei denen Sie früher oder später feststellen, die haben Probleme, die auf die Wiedervereinigung zurückzuführen sind?

Buhrmann: Die Patienten, die zu uns kommen, haben Schmerzsymptome, ohne dass sie zwingend organisch krank sind. Sie haben unterschiedlich wechselnde körperliche Beschwerden, manche haben eher depressiv getönte Schwierigkeiten wie herabgesetzte Stimmung, schlafen schlecht, haben Konzentrationsstörungen. Da unterscheiden sich die Patienten in ihren Symptomen, mit denen sie zu uns kommen, nicht, und die Symptome andererseits sind auch nicht spezifisch für zugrunde liegende Ursachen. Also, von den Symptomen kann man nicht gleich auf entsprechende Wende-bedingte Erfahrungen zurückschließen.

Kassel: Inzwischen haben Sie wahrscheinlich schon etwas häufiger und schneller den Verdacht, dass es solche Erfahrungen sein könnten. Wie war das früher, wie haben Sie, als Sie nach Schwerin kamen – ich sage dazu, Sie kommen eigentlich aus Münster, sind also auch Wessi –, wie haben Sie das überhaupt herausgefunden, dass es doch relativ häufig diese Art von Ursachen hat?

Buhrmann: Zunächst mal ist es ja zu erwarten. Lebensumbrüche, schwierige Lebenserfahrungen hinterlassen in uns allen Menschen bleibende Spuren. Und so war es zunächst einmal zu erwarten, dass die Wiedervereinigung mit all den Folgen und der enormen Anpassungsleistung, die ja gerade von den Ostdeutschen erbracht werden musste, auch Spuren hinterlässt, also auch Krankheiten, psychosomatische Erkrankung mit bedingen kann. Und in den Therapien selbst wurden wir dann aufmerksam auf bestimmte Verdrängungsmechanismen, weil der Verlauf, den wir erwarteten, und die Nähe, die sich in Therapien zu Patienten ergibt, nicht in jedem Fall in erwarteter Weise zustande kam. Und das war für uns dann Anlass, spezifischer nachzufragen und auch sehr gezielt biografische Erfahrungen im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung zu erfragen.

Kassel: Was wird denn da zum Beispiel häufig verdrängt?

Buhrmann: Auf der einen Seite – das sind ja auch nicht zu unterschätzende Patientenzahlen – diejenigen, die tatsächlich auch durch den DDR-Staatsapparat traumatisiert wurden. Neu hinzugekommen sind jetzt auch Erfahrungen über die große Zahl von Patienten – oder Menschen, muss man erst mal sagen –, die in sogenannten Jugendwerkhöfen untergebracht gewesen sind. Auf der anderen Seite sind es Menschen wie du und ich, die ein aufgeschlossenes und aufrichtiges Leben zu DDR-Zeiten geführt haben und dann kränkende und entwertende Erfahrungen mit der Wiedervereinigung machen mussten.

Kassel: Was für Erfahrungen denn zum Beispiel?

Buhrmann: Ein Beispiel, was ich an der Stelle immer gern nenne, ist ein Mitarbeiter eines Schweriner Betriebes, der sehr viel Eigeninitiative um die Wiedervereinigung herum aufgebracht hat, um den Betrieb am Leben zu erhalten. Das ist ihm mit seinen Mitarbeitern auch gelungen, er hat mehrere Betreiberwechsel, Firmeninhaberwechsel durchgemacht, und musste dann feststellen, dass er nach vier oder fünf Jahren der Wiedervereinigung trotz seiner hervorragenden Leistung gekündigt wurde.

Und 15 Jahre später ist er dann mit funktionellen Beschwerden, wie wir sagen – Herzbeschwerden, Bauchbeschwerden –, ohne organische Ursache krank geworden, und im Laufe der Therapie haben wir dann dieses Kränkungserlebnis mit ihm erarbeitet, was er verdrängt hatte, was ihm in diesem Zusammenhang und in seiner Bedeutung gar nicht klar war. Und das hat dann zu einer erfreulichen Symptomreduktion geführt.

Kassel: Fällt es denn diesen Menschen leicht zuzugeben, dass sie tatsächlich psychische Probleme haben? Denn ich habe Sie jetzt so verstanden, dass die doch häufig zunächst mal mit körperlichen Symptomen zu Ihnen kommen?

Buhrmann: Sie fühlen sich körperlich an und deswegen gehen sie zunächst zum Hausarzt oder sie werden in eine internistische Abteilung eingewiesen, um zunächst einmal Diagnostik zu machen. Die meisten Patienten, die uns dann vorgestellt werden, sind sehr erleichtert, wenn man mit ihnen über solche möglichen Zusammenhänge spricht, und dann kommen sie in der Regel auch gerne.

Kassel: Gibt es da Unterschiede zwischen den Altersgruppen, also, kann man sagen, wer zum Beispiel noch sehr lange in der DDR gelebt hat, dem fällt diese Anpassung schwerer als vielleicht jemandem, der 10, 15 Jahre alt war, als sich alles änderte?

Buhrmann: Ich denke, das ist eher ein Generationenproblem. Die Jüngeren oder 50- bis 60-Jährigen sind da aufgeklärter und haben hier auch mehr Erfahrung damit gemacht im gesellschaftlichen Kontext, dass Erfahrungen und Gefühle sehr wohl krankheitsmitbedingend sind, sodass wir durchaus auch jetzt die Erfahrung machen, dass Ältere, 60-, 70-Jährige leichter zu uns kommen als vielleicht noch vor 20, 30 Jahren.

Kassel: Wir reden heute Vormittag im Deutschlandradio Kultur mit Jochen-Friedrich Buhrmann, dem Chefarzt der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Schwerin über, na ja, wenn man das flapsig formulieren will, wiedervereinigungsbedingte psychische Probleme, die manche Menschen haben. Herr Buhrmann, inwiefern können Sie denn, nachdem dann die Ursache immerhin identifiziert worden ist, diesen Menschen überhaupt helfen? Denn Sie können ja als Arzt nicht für mehr gesellschaftliche Anerkennung sorgen?

Buhrmann: Ich finde, der Volksmund hat häufig sehr zutreffende Formulierungen gefunden, und so könnte man vielleicht etwas vereinfacht sagen: Geteiltes Leid ist halbes Leid. Wenn Patienten mit uns in den spezifischen Therapien ins Gespräch kommen, sich in der anstrengenden Arbeit besser kennenlernen und Verdrängtes erfahren, dann ist das ein anstrengender und bisweilen sehr belastender Prozess, der im Ergebnis zur Symptomreduktion führt und neue Perspektiven ermöglicht.

Kassel: Das heißt, Sie müssen den Menschen auch beibringen, dass es auch ohne die entsprechende Anerkennung funktionieren muss?

Buhrmann: Ja. Und dass man gegebenenfalls auch schaut, ob der Blick nicht auch etwas scheuklappenförmig eingeengt ist und Anerkennung sehr wohl zu haben ist und zum Greifen nahe ist, nur der Blick nicht gleich darauf fällt.

Kassel: Aber ist es nicht, wenn wir jetzt mal über Ihre rein praktische Arbeit hinausdenken, trotzdem wahr, dass tatsächlich in den letzten 20 Jahren eigentlich immer nur darauf geachtet wurde, dass die Produktivität im Osten so gering ist, dass viele im Westen gesagt haben, unsere ganzen Steuern fließen immer da hin, da ist die Innenstadt so hübsch und in Bochum verrottet alles, und dass man darüber, welche Leistungen das für Menschen, die 20, 30, vielleicht 50 Jahre in einem anderen System gelebt haben, welche Leistung das für diese Menschen bedeutet, sich einfach zurechtzufinden, dass man darüber kaum nachdenkt?

Buhrmann: Das ist auch unsere Erfahrung gewesen und wir waren zunächst auch ohne Erklärung dafür und haben den Gedanken entwickelt, diese Themen aufzubereiten und ein Symposion zu veranstalten. Das haben wir zum ersten Mal vor drei Jahren gemacht und haben die Frage gestellt, warum die DDR-Vergangenheit so wenig Thema wird, haben interdisziplinäre Fachleute eingeladen, das Ganze öffentlich veranstaltet. Und da haben wir auch als Fachtherapeuten eine Menge gelernt an Zusammenhängen, warum der DDR-Alltag, der ja in großen Bereichen lebenswert war und mit viel Aufrichtigkeit einherging, warum das so tabuisiert wird, was wir letztendlich bei den Patienten ja auch gesehen haben.

Kassel: Wer genau tabuisiert das denn? Sind das die Leute selber, sind das die Bösen aus dem Westen oder ist das einfach ein Prozess, der ganz automatisch abläuft?

Buhrmann: Auf der einen Seite ist es automatisch, denn wir Menschen neigen ja dazu, unliebsame Erfahrungen zu verdrängen. Ich denke, es ist aber, wie Sie auch eben schon erwähnten, ein gesellschaftliches Problem, Polarisierung, in dem ja vielleicht im Augenblick ein bisschen abflauenden Ost-West-Konflikt, Ossi-Wessi-Gefälle, dass der Westdeutsche sagt, ja, die Ossis haben ja jetzt die Wiedervereinigung bekommen und warum jammern die eigentlich noch? Und übersehen dabei, dass ja die ostdeutsche Bevölkerung eine enorme Anpassungsleistung erbringen musste und es auch immer noch tut.

Und es wird in meinen Augen, das war dann auch ein weiteres Thema, was Sie aufgegriffen haben, übersehen, dass die Wende ja eine enorme Leistung ist, die herbeigeführt zu haben mit viel Chuzpe und Aufrichtigkeit und Veränderungswunsch einhergegangen ist. Und dieser Motor, dem wir alle im Grunde genommen die Wiedervereinigung zu verdanken haben, der wird in meinen Augen nicht genügend wertgeschätzt und spielt im politischen Alltag nicht die Rolle, oder bislang nicht die Rolle, die ihm meines Erachtens gebührt.

Kassel: Ich kann verstehen, warum Menschen aus dem Westen darauf keinen großen Wert legen und das – sagen wir mal ganz vornehm – schnell vergessen. Aber wie ist es bei den Menschen aus dem Osten, warum haben die oft auch ein so geringes Selbstbewusstsein, stellen sich nicht einfach hin und sagen, hör auf, über Transferleistungen zu meckern, guck dir erst mal an, was ich alles fertiggebracht habe in den letzten 20 Jahren?

Buhrmann: Das ist eine spannende Frage, auf die ich auch keine schlüssige Antwort geben kann. Ich denke, es ist auch Ausdruck der politischen Kultur. Denn ein Lebensereignis, auf der Straße gewesen zu sein, mit dafür gesorgt zu haben, dass ein hochproblematisches, schwieriges politisches System durch eine friedliche Revolution gekippt wird, so ein Ereignis da mitgemacht zu haben, ist ja von so großer Bedeutung, dass man mit Fug und Recht annehmen kann, von dem Stolz müsste man eigentlich auch ein ganzes Leben lang zehren. Und ich denke, dass das Bewusstsein in der Öffentlichkeit und, das entsprechend auch aufzugreifen und lebendig zu halten, nicht ausgeprägt genug war, in den letzten 20 Jahren, ja, dass das eben auch eine bleibende Wertschätzung im Alltag erfährt.

Kassel: Können wir nur hoffen, dass sich das ändert, auch wenn wir jetzt erst mal in den nächsten Jahren – 25 Jahre Mauerfall ist bald – keine großen Gedenktage mehr haben. Dr. Jochen-Friedrich Buhrmann war das, er ist der Chefarzt des Helios-Klinikums für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Schwerin. Herr Buhrmann, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Buhrmann: Ich danke auch!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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