Willisch: Nicht auf blühende Landschaften warten

A. Willisch und T. Freyer im Gespräch mit B. Bürger · 25.02.2010
Der Soziologe Andreas Willisch hat untersucht, wie die Bewohner von Wittenberge mit den Folgen der Wiedervereinigung umgehen. Viele Ostdeutsche täten gut daran, nicht auf eine "andere Gesellschaft zu warten", sondern mit ihrer Situation umzugehen.
Britta Bürger: Wie aus Feldforschung Theater entsteht, ist derzeit am Berliner Maxim Gorki Theater zu sehen. Soziologen und Theaterautoren haben das Leben im brandenburgischen Wittenberge untersucht, jeder mit seinen Mitteln. Es geht dabei um die Frage, wie die Menschen in Ostdeutschland mit den Folgen der Wiedervereinigung umgehen. Ein Jahr lang haben die Forscher in Wittenberge gelebt, sie wollten richtig eintauchen in den Alltag einer Stadt, deren Bevölkerung nach 1989 von damals 30.000 Einwohnern auf heute 19.000 geschrumpft ist. Damit die Feldforschungsergebnisse aber nicht in der wissenschaftlichen Datenflut versickern, wurden Theatermacher vom Gorki Theater gebeten, daraus Bühnentexte zu entwickeln, und wie das geklappt hat, welche dramatischen Stoffe in Wittenberge gefunden wurden, darüber spreche ich gleich mit dem Soziologen Andreas Willisch und dem Autor Thomas Freyer.

Über Leben im Umbruch, das ist das Motto einer Reihe von Theateraufführungen, die seit Jahresbeginn und noch bis zum Sommer am Berliner Maxim Gorki Theater erarbeitet werden. Die Stücke sind allesamt in Zusammenarbeit mit Soziologen und Ethnologen entstanden. Die Theatermacher haben sich von Feldforschungen in Wittenberge inspirieren lassen, einer Stadt auf halbem Weg zwischen Berlin und Hamburg. Die erste der insgesamt vier Aufführungen, Uraufführungen allesamt, hat bereits stattgefunden, ein Stück von Thomas Freyer, "Im Rücken die Stadt", den ich hiermit begrüße, ebenso wie den Soziologen Andreas Willisch, der das Projekt wissenschaftlich leitet. Herzlich Willkommen, Sie beide!

Thomas Freyer: Hallo!

Andreas Willisch: Hallo!

Bürger: Wissenschaftler verschiedener Institute und Theaterautoren arbeiten, unterstützt vom Bundesforschungsministerium, seit zweieinhalb Jahren zusammen, um die Lebenswirklichkeit in einer ostdeutschen Kleinstadt zu spiegeln. Wie hat die Zusammenarbeit zwischen Ihren beiden doch sehr unterschiedlichen Fraktionen geklappt?

Willisch: Eigentlich haben wir im Vorfeld gesagt, wir wollen mal keinen sozialwissenschaftlichen Sammelband schreiben, sondern wir wollen die Verantwortung an Künstler, an Theaterkünstler abgeben. Also, das Ergebnis soll nicht ein Band von Wissenschaftlern für Wissenschaftler sein, sondern das Ergebnis sollen verschiedene Theaterstücke und Performances sein.

Bürger: Thomas Freyer, welche Fragestellungen dieser Feldforschungen haben Sie denn als Theatermacher aufgenommen? Was hat Sie daran besonders interessiert?

Freyer: Schon die titelgebende Fragestellung eigentlich, also, wie man innerhalb dieses Umbruchs und dieses ökonomischen Umbruchs Überlebensstrategien eigentlich entwickeln kann und wie man mit so was umgeht, mit auch einer politischen Wende, auch wenn sie jetzt schon 20 Jahre zurückliegt, das ist trotzdem noch Thema. Und das waren so die spannendsten Fragen für mich.

Bürger: Wie sind Sie mit dem wissenschaftlichen Material dann wirklich handfest umgegangen? Ich kann mir vorstellen, dass das allein schon schwer ist, mit der wissenschaftlichen Sprache, mit dem akademischen Vokabular zurechtzukommen. Oder war das gar nicht so akademisch?

Freyer: Ja, doch, doch. Wenn die Wissenschaftler das ausformuliert haben und für ihre Vorträge vorbereitet haben, hat das schon sehr für mich befremdliches Vokabular gehabt. Allerdings gibt es ja auch die Feldforschungen, die Interviews, die für mich besonders spannend waren, weil dort nicht eingeordnet wurde und keine Systematik vorgelegt wurde sozusagen oder vorgegeben wurde. Und mit diesen Interviews und Feldforschungsberichten, mit diesen Tagebüchern konnte ich persönlich am meisten anfangen.

Bürger: Zum Beispiel, was waren das für Menschen, die Sie interviewt haben, Herr Willisch?

Willisch: Das Projekt hatte ja fünf Teilprojekte, die sich mit sehr unterschiedlichen Dingen beschäftigt haben. Die Gegenstände waren Charisma, charismatische Führung, sich führen lassen, das war Vertrauen, Vertrauen in einer Gesellschaft, in einer Zeit, wo möglicherweise Misstrauen viel sinnvoller wäre, ein Drittes war Selbsthilfe, wie kommt man eigentlich zurück zu Dingen, die man selber machen kann, ein Viertes war, wie gründen die Leute eigentlich Vereine, wie gehen sie eigentlich mit Gemeinschaften um, und das Fünfte war, wie halten sie eigentlich in diesen Zeiten erhöhten Mobilitätsdrucks – also sowohl vom Arbeitsamt wird man nach ganz Europa geschickt, um Arbeiten zu machen, als auch die Familie von sich heraus ist ja auch ein großer Konflikt in diesem Stück –, wie halten die Leute Familien zusammen? Und in all diesen Feldern haben wir Leute gesucht und haben Interviews gemacht. Ich glaube, es sind bis heute vielleicht 100, 120 Interviews, die zum Teil zwei, drei, vier Stunden lang sind, und das ist unser Material.

Bürger: Beschreiben Sie noch genauer, was das für Menschen waren?

Willisch: Das sind ganz, sage ich jetzt mal, zunächst ganz normale Wittenberger …

Bürger: … aller Generationen?

Willisch: … aller Generationen, aller sozusagen Schichten. Wir haben nicht nur nach besonders prekären Lebenslagen gesucht, wir haben nach Leuten gesucht, die ganz etabliert sind in Wittenberge, wir haben nach Unternehmern gesucht, wir haben aber auch nach Leuten gesucht, die einfach einen Kleingarten halten, wir haben nach Leuten gesucht, die vielleicht so was wie Schwarzarbeit machen, um ein Bild von dieser Gesellschaft zu kriegen, um Antworten auf diese Fragen zu finden, aber auch gleichzeitig ein Mosaik sozusagen dieser ganzen Stadt erstellen zu können.

Bürger: Und haben Sie aus diesen Interviews mit bestimmten Personen dann tatsächlich auch Konstellationen für die Bühne entwickelt, Dialoge? Oder haben Sie eher die Themen aufgegriffen und das dann in Monologform vortragen lassen?

Freyer: Also, ich habe von den Interviews direkt so nichts genommen, das war ja eine Art neuer Input für mich, auch für mich als Autor eine ganz neue Situation eigentlich, und habe mich da eher reizen lassen durch Themen, die dort auch wichtig sind. Es sind jetzt keine Figuren so in das Theaterstück gekommen, wie sie in den Interviews zu lesen waren zum Beispiel.

Bürger: Welche Themen?

Freyer: Ein Beispiel vielleicht: Es gibt in dem Stück eine Hausbauszene zwischen den Nachbarn, und das ist zum Beispiel durch ein Interview, was ich gelesen habe, entstanden, die Idee auch, sich diesem Thema zu widmen, wie wichtig dieser Nestbau ist und dieser Rückzug und die Sicherheit, die darüber gewonnen wird und durch die Selbstbewusstsein auch erlangt wird über Eigenleistung, dass man alleine das geschafft hat, so ein Haus zu bauen.

Willisch: Ich glaube, wenn ich da mal einhaken darf, es sind ja auch nicht nur die konkreten Inhalte in den Interviews, die zum Gegenstand geworden sind.

Freyer: Ja.

Willisch: Was ich unglaublich gelungen finde in dem Stück, sind zum Beispiel diese langen Monologe, die die Leute immer wieder halten, die in Fragen enden, wie in dem Stück, was wir vorher gehört haben. Und das ist etwas, was uns auch begegnet ist und was wir versucht haben, so was wie mit einer fragmentierten Gesellschaft zu beschreiben, also eine Gesellschaft, die eigentlich kaum noch miteinander kommuniziert, sondern wo viele Leute immer nur wieder ihre Sachen reden. Deswegen sind die Interviews auch so lang, auf eine große Bereitschaft von Leuten gestoßen, die uns einfach mal alles erzählen wollten. Und das ist auch sehr gut gelungen in dem Stück, einfach Leute, auch der Chor, der einfach mal erzählen will.

Bürger: Nach der Uraufführung in Berlin sollen die Stücke ja dann auch in Wittenberge aufgeführt werden. Was könnte das dort bewirken?

Willisch: Vor drei Jahren oder vor fünf Jahren eigentlich, als wir uns beworben haben – und dieses Projekt hieß, die Ausschreibung: "Geisteswissenschaften im gesellschaftlichen Dialog" … und wie wir auch schon gesehen haben, dass wir also die Verantwortung als Sozialwissenschaftler an die Künstler abgegeben haben, war uns von Anfang an dieser Dialog wichtig, weil wir meinten – wir sind schon sehr lange in dieser Ostdeutschland-Forschung aktiv –, dass genau dieser Dialog über die Gegenwartsprobleme in Ostdeutschland fehlt. Wir reden viel über Stasi, wir reden viel über andere Dinge, wir reden aber nicht über die gegenwärtigen Probleme oder kaum über die gegenwärtigen Probleme und wir reden kaum darüber, wie wir mit diesen Problemen umgehen und welche Perspektiven die Leute eigentlich daraus entwickeln können. Und das, was wir machen wollen und weswegen wir auch mit den Theaterstücken wieder nach Wittenberge zurückgehen werden, ist, diesen Dialog mit verschiedenen Stimmen zu erzeugen, mit den Stimmen der Wissenschaft, mit den Stimmen der Kunst, aber auch mit den Stimmen der lokalen Presse, mit den Stimmen der Leute selbst. Und wir haben ganz unglaubliche Erfahrungen auch gemacht. Wir haben ja eine erste szenische Lesung gehabt, …

Freyer: Und bei der Lesung gab es wirklich ein Feedback, also, das war, als wenn die Lesung so ein Beginn wäre von einem Sich-Austauschen. Was man ja irgendwie vermeiden will, ist, dass man so einen Blick von außen so drüber bekommt, über Wittenberge, und so ist es aber gar nicht angekommen. Also, die haben sich sehr wahrgenommen und interessiert gezeigt darüber.

Bürger: Gibt es in Wittenberge ein Theater?

Freyer: Ein altes Festspielhaus gibt es dort, was aber reiner Gastspielbetrieb eigentlich ist.

Bürger: Und dort werden Sie das dann auch aufführen?

Freyer: Hoffentlich, ja.

Bürger: Welche Perspektiven gibt es Ihrer Ansicht nach für die Menschen in Wittenberge? Welche sehen Sie selbst und welche können Sie möglicherweise dann doch als Beobachter auch anregen?

Freyer: Ich finde das schwierig, den Leuten, die dort leben, von außen was zu sagen oder Tipps zu geben oder so. Das habe ich auch versucht, mit dem Stück nicht zu machen. Ich habe versucht, mit dem Stück eher Sachen zu beschreiben und zu gucken: Welche Fragen sind dort wichtig, die ich mir auch stelle eigentlich? Also, man kann sich eher generell Gedanken darüber machen, was zum Beispiel ein Arbeitsbegriff überhaupt ist und in welcher Verbindung der zu den einzelnen Menschen dort steht. Aber das ist nicht ein Thema, was nur nach Wittenberge gehört.

Bürger: Aber gibt es in Ihrem Stück eine Person, die eine Perspektive entwickelt?

Willisch: Ich glaube, das hört sich jetzt vielleicht ein bisschen absurd an, aber die Perspektive, die wir aus dem Projekt heraus den Leuten anbieten können, ist, zu sagen, nicht mehr auf irgendeine andere Gesellschaft zu warten, auf irgendeine blühende Landschaft oder auf irgendeine, weiß ich nicht, auf irgendeine kleine, feine Kleinstadt mit 15.000 Einwohnern, so als Perspektive, sondern zu sehen, was eigentlich diese Stadt heute schon bieten kann und was die Leute nach 20 Jahren Umbruch … das ist eine unglaublich lange Zeit, und die haben sich nicht nur eingerichtet, sondern die haben auch neue Dinge erfunden. Und damit umzugehen, das als Perspektive anzunehmen sozusagen – das ist jetzt unsere Stadt, unsere Zeit und wir haben diese Probleme und andere können wir anders machen –, das ist glaube ich das, was wir bieten können.

Freyer: Das ist ja auch eine Beobachtung in eurer Forschung gewesen, dass es sich viel um Vergangenheit, viel um Zukunftsvisionen handelt, aber im Jetzt nicht viel stattfindet.

Willisch: Ganz genau.