Kosmische Anti-Demokraten?

Das Politische an der Esoterik

04:12 Minuten
Eine Hand hält eine Glaskugel gegen den Himmel.
Zur Esoterik gehört eine ordentliche Portion Orientierungslosigkeit, findet Tillmann Bendikowski. © Unsplash / Hudson Hintze
Überlegungen von Tillmann Bendikowski · 11.01.2021
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Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit kosmischen Kräften oder der Welt der Geister erschien überflüssig: Lange wurde Esoterik wie bunte Folklore betrachtet, meint der Historiker Tillmann Bendikowski. Aber was tun, wenn das Ganze politisch wird?
Es ist überhaupt nicht schlimm, an Seelenwanderung zu glauben, an die Kraft der Sterne oder magische Mächte. Das alles gehört zur Esoterik, die verschiedenste spirituelle und okkulte Vorstellungen und Praktiken umfasst, und die hierzulande seit Langem bekannt und beliebt ist. Es ist eine bunte Welt von Vorstellungen.
Dazu gehört der Glaube an kosmische Kräfte oder ein germanisches Erbe, immer etwas Naturromantik, zuweilen auch der gute alte Goethe und seine Welt der Geister, etwas Waldorfschule, etwas Leiden an der sogenannten "Schulmedizin" – und stets eine ordentliche Portion Orientierungslosigkeit in einer Welt, die diffus als irgendwie zu "schnell", zu "technisch", zu "unnatürlich" erscheint.

Fröhlicher Zierrat in einer nüchternen Welt

Nicht schlimm? So dachten wir bislang. Deshalb gewährten wir diesen esoterischen Vorstellungen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft auch stets freundlich Unterschlupf, betrachteten sie – seien wir ehrlich – nicht ohne Interesse oder sogar Amüsement.
Die Esoterik war uns stets so etwas wie Folklore, wie fröhlicher Zierrat an unserer manchmal etwas nüchternen Welt der Glaubensdinge. Eine ernsthafte inhaltliche, gar politische Auseinandersetzung mit ihr erschien überflüssig. "Die wollen doch nur spielen", haben wir gedacht.
Doch mit dieser politischen Blauäugigkeit sollte es jetzt vorbei sein, da Teile des esoterischen Milieus in der Corona-Krise offen gegen demokratisch gefasste Beschlüsse und Organe des Rechtsstaats auftreten. Das Esoterische ist eben doch nicht unpolitisch.

Zwischen Religion und Wissenschaft verortet

Historisch verstand sich die Esoterik seit dem 19. Jahrhundert als Alternative: zunächst zur modernen Wissenschaft, deren Methoden und Erkenntnisse sie deshalb bis heute ablehnt, sodann zu den christlichen Kirchen. Diesen unterstellt sie, den wahren Kern des Glaubens zu verschleiern.
Wobei die Anhänger der Esoterik selbst übrigens nicht in einem eigentlichen Sinn "glauben" – sie nehmen vielmehr für sich in Anspruch, zu "wissen". Für sie sind beispielsweise Seelenwanderung und Wiedergeburt keine Sache des Glaubens, sondern des Wissens!
Die Esoterik ist von jeher zwischen Religion und Wissenschaft verortet – und fühlt sich beiden überlegen. Dafür steht in der Corona-Krise ihre Weigerung, die evidenzbasierte Medizin anzuerkennen, um statt dessen Lösungen einer angeblichen "Geisteswissenschaft" zu propagieren, für die es indes in dieser Welt keine messbaren Belege gibt.
Zugleich lehnt das esoterische Wissen auch zentrale Elemente unseres politischen Zusammenlebens ab: Weil die politischen Institutionen – wie unsere Wissenschaft – auf vermeintlich vordergründigem Wissen basieren, können sie nur falsche Antworten geben.

Spirituelles Denken statt Vernunft

Statt Vernunft brauche es eben metaphysisches und spirituelles Denken. In dieser Vorstellung sind Mehrheitsentscheidungen nicht relevant: Es geht der Esoterik ja nicht darum, wie die meisten Mitmenschen entscheiden, sondern was eine höhere Welt mit der unsrigen eigentlich vorhat.
Metaphysisches Wissen der "Eingeweihten" steht über allen Entscheidungen einer Mehrheit. Damit ist die Esoterik stets antiegalitär. Und sie ist zugleich antidemokratisch, wenn sie – was beim Corona-Schutz geschieht – den demokratisch gefassten Beschlüssen ihren esoterischen Ungehorsam entgegen stellt und Politik und Parlamente diffamiert, nur weil die kosmischen Mächte vom Tragen eines Maske abraten.
Das ist dann keine Folklore mehr. Um es klar zu sagen: Keine spirituelle Einsicht verleiht das Recht zur Diffamierung von Politik und Parlamenten. Wer diese ablehnt, ist kein harmloser ganzheitlicher Sinnsucher, sondern möglicherweise ein Gefährder für die Demokratie.

Tillmann Bendikowski, geboren 1965, ist Historiker und Journalist. Er leitet die Medienagentur Geschichte in Hamburg und verfasst Beiträge für Printmedien und Hörfunk und betreut die wissenschaftliche Realisierung von Forschungsprojekten und historischen Ausstellungen. 2016 veröffentlichte er ein Buch über "Helfen. Warum wir für andere da sind".

Der Historiker Tillmann Bendikowski sitzend auf dem blauen Sofa.
© dpa/picture alliance/Jens Kalaene
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