Korruption in Kirgistan

Per Revolution in den Staatsbankrott

26:09 Minuten
Sadyr Japarov vor einer kirgisischen Flagge
War zwischenzeitlich Premier und Interimspräsident: Sadyr Japarov will nun der nächste Präsident Kirgistans werden. © imago images / ITAR-TASS / Abylai Saralayev
Von Edda Schlager  · 06.01.2021
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Am 10. Januar wählt Kirgistan einen neuen Präsidenten. Die Parlamentswahlen im Oktober führten zuvor völlig überraschend zu einem Sturz der Regierung. In einer wirtschaftlich sehr instabilen Situation steht nun auch die Demokratie auf dem Spiel.
Am 5. Oktober brennt die Goldmine Jerooy im Westen von Kirgistan. Randalierer sind in die Verwaltungsgebäude und Produktionsanlagen des Unternehmens Alliance Altyn eingebrochen. Sie haben die Gebäude in Brand gesetzt. Plünderer schleppen Wertsachen hinaus, verladen selbst Waschmaschinen in Fahrzeuge, die mit laufendem Motor auf dem Betriebsgelände stehen, um die Beute schnell wegzufahren.
Das zentralasiatische Kirgistan, in dem rund sechs Millionen Menschen leben, ist eine der ärmsten Ex-Sowjetrepubliken. Rund ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts besteht aus Rücküberweisungen von im Ausland lebenden Arbeitsmigranten, die Arbeitslosigkeit ist hoch.

Ende der Demokratie in Kirgistan? Am 10. Januar wird in Kirgistan nicht nur ein neuer Präsident gewählt, sondern es soll auch per Referendum über eine neue Verfassung abgestimmt werden. Mit dieser würde das vor zehn Jahren abgeschaffte Präsidialsystem erneut eingeführt werden. Verabschiedet man sich damit vom Demokratisierungskurs im Land? Im Podcast der Weltzeit meint unsere langjährige Korrespondentin Sabine Adler: nein.

Porträt von Sabine Adler
© ©Deutschlandradio - Bettina Straub
Kirgistan hat kaum Ressourcen, ist von Landwirtschaft geprägt. Doch quer durch das Land zieht sich der so genannte Tien Shan Gold Belt – eine geologische Zone, in der gehäuft Goldvorkommen auftreten.
Das macht Kirgistan interessant für internationale Investoren. Zehn große Bergbau-Unternehmen sind derzeit dabei, die Goldbestände in den kirgisischen Bergen zu erschließen und abzubauen. Dazu gehört auch die Goldmine Jerooy. Mit einer potenziellen Fördermenge von rund 100 Tonnen Gold pro Jahr ist sie die zweitgrößte Gold-Lagerstätte in Kirgistan. Doch im Oktober gerieten all diese lukrativen Unternehmen in den Strudel nationaler Ausschreitungen.

Unternehmen als Schauplatz politischer Kämpfe

Begonnen hatten die Unruhen in der rund 300 Kilometer entfernten Hauptstadt Bischkek.
Am 4. Oktober hatten Parlamentswahlen stattgefunden, deren Glaubwürdigkeit von Seiten der Oppositionsparteien bestritten wurde. Auch die OSZE hielt Vorwürfe des Stimmenkaufs für realistisch. Tausende protestierten gegen den Wahlbetrug. Unter dem Druck der Demonstranten traten schließlich die Regierung und der 2017 gewählte Präsident Sooronbai Jeenbekov zurück. Die Wahlen wurden für ungültig erklärt.
Damit erlebte Kirgistan im vergangenen Oktober den dritten Regierungsumsturz in 15 Jahren. Nachdem die Kirgisen bereits 2005 und 2010 autoritäre Präsidenten aus dem Amt gejagt hatten, schlittert das Land nun – etwas zivilisierter, aber dennoch nicht in geordneten demokratischen Prozessen – erneut in eine Zeit politischer Instabilität.
Menschen stehen neben einem ausgebrannten Auto, im Hintergrund ist das Gebäude des Parlamentes zu sehen.
Proteste im Zentrum von Bischkek: Die Wahlen wurden für ungültig erklärt.© imago images/ITAR-TASS
Die Bilder der Proteste in Bischkek und auch der brennenden Goldmine verbreiteten sich in Windeseile über die sozialen Medien.
Der 26-jährige Zhoodarbek Atantai uulu erlebte die unruhigen Tage unmittelbar. Auch in seiner rund 500 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Bischkek gelegenen Heimatregion Chatkal gibt es eine Goldmine. Das Unternehmen Kichi Chaarat ist der größte Arbeitgeber hier und gehört zur China National Gold Group Corporation.
Atantai uulu erinnert sich, wie sich – angestachelt durch die Nachrichten aus Bischkek und Jerooy – auch hier Leute aus der Gegend sammelten, um die Betriebsanlagen der Gold-Mine gewaltsam unter ihre Kontrolle zu bringen.
"Am 5. Oktober wurde ich morgens angerufen, dass ein paar Ex-Funktionäre aus der Gegend mit ihren Leuten die Verwaltung besetzt haben", erzählt er. "Dabei gibt es immer irgendwelche Unruhestifter, die solche Situationen weiter eskalieren lassen wollen. Ich habe dann die jungen zusammengerufen und den Leuten gesagt, so geht das nicht."

Die Abhängigkeit von internationalen Investoren

Atantai uulu ist zu dem Zeitpunkt arbeitslos, hat gerade seinen Dienst bei der kirgisischen Armee beendet. Der ausgebildete Jurist, der zuvor bei mehreren NGOs gearbeitet hat, ist bei den jungen Leuten im Dorf angesehen. Mit Hilfe von Freunden gelingt es ihm, die Lage zu deeskalieren. Er wird zum Chef des örtlichen Koordinationsrats gewählt.
In diesen Oktobertagen entstehen im ganzen Land solche Räte. Einheimische nehmen die Verwaltung auf lokaler und regionaler Ebene in eigene Hände, da staatliche Strukturen zerbrechen, Vertreter der eben gestürzten Regierung fliehen.
Für Atantai uulu hat eines oberste Priorität: Er will das Unternehmen Kichi Chaarat schützen.
"Kichi Chaarat ist ein staatliches chinesisches Unternehmen", sagt er. "Wenn wir die Chefs dort angerührt hätten, hätten wir große Probleme mit den Chinesen bekommen. Ich habe den Leuten gesagt: Wir können die Chinesen nicht erschlagen. Lasst uns besser feststellen, wer hier von unseren eigenen Leuten gegen das Gesetz verstößt."
Ein Grund, weshalb Kirgisen schon wieder genug von ihrer Regierung haben. ist die schwierige wirtschaftliche Lage des Landes. Asel Doolotkeldieva ist politische Analystin und erklärt die Hintergründe.
"Jedes Mal, wenn es einen gewaltsamen Regierungsumsturz gibt – wir hatten das drei Mal – ist der Grund dahinter Armut", sagt sie. "Die sozio-ökonomischen Bedingungen zwingen die Leute geradezu dazu, solche Ereignisse wie Wahlen oder Korruption zu nutzen, um zu explodieren und eine Änderung der Regierung und Reformen einzufordern."

Ohne Reformen keine Zukunft

Kirgistan hat es seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 versäumt, nachhaltige Reformen umzusetzen – und das trotz Hunderter Millionen Euro internationaler Entwicklungshilfe: Es gibt quasi keine Rechtsstaatlichkeit, das Land ist einseitig von Goldexporten und dem informellen Sektor abhängig. 2020 hat die Corona-Pandemie das Land wirtschaftlich zusätzlich zurückgeworfen.
Das Bruttoinlandsprodukt ist um acht Prozent zurückgegangen, die Inflation auf sieben Prozent gestiegen. Gold war schon immer das wichtigste Exportgut des Landes. Durch die weltweite Nachfrage und steigende Preise lag der Anteil von Gold an Kirgistans Exporten im Corona-Jahr sogar bei mehr als 60 Prozent – ein gewaltiger Wirtschaftsfaktor für das Land. Warum aber richtet sich der Zorn der Kirgisen dann ausgerechnet gegen die Bergbau-Unternehmen?
"Viele Menschen, die um die Rohstofflagerstätten leben, sagen, dass sie nichts Positives durch den Bergbau erfahren haben", erklärt Asel Doolotkeldiev. "Keine Verbesserung des Lebensstandards, keine Investitionen in lokale Infrastruktur, nicht der Zugang zu Bildung, zu Gesundheit, zu Straßen. All das ist seit dem Ende der Sowjetunion schlechter geworden."
In opulent gedrehten Imagefilmen beschönigen die Betreiber von Goldminen wie Alliance Altyn oder Kichi Chaarat den Bergbau. Die Kritik an den internationalen Konzernen, die Ressourcen aus dem Land abziehen und sich vor Ort nicht engagieren, besteht in Kirgistan seit Jahren. Hinzu kommen Umweltprobleme. Der Goldabbau hinterlässt ökologisch ausgeblutete Mond-Landschaften, wenn er ohne nachhaltige Renaturierungskonzepte betrieben wird. Zahlreiche Bürgerinitiativen in Kirgistan wehren sich gegen diese Rücksichtslosigkeit der Investoren.

Das Problem der Korruption

Doch Zhoodarbek Atantai uulu, der in der Nähe einer Goldmine lebt, sieht die Schuld für diese Situation nicht allein bei den internationalen Konzernen, sondern bei den Kirgisen selbst. Verantwortlich dafür sei die weit verbreitete Korruption.
"Bei uns haben die lokalen Regierungsvertreter die Bevölkerung in Entscheidungen nie einbezogen", kritisiert er. "Aber sie nehmen Geld von den Unternehmen, lassen sich auf Management-Posten setzen. Da haben Abgeordnete ganze korrupte Systeme innerhalb der Unternehmen aufgebaut."
Kirgistan steht im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International auf Platz 126, im hinteren Drittel von 180 Ländern. Für viele Politiker und Staatsbeamte ist ihr Job nur die Eintrittskarte zu lukrativeren Geldquellen. Doch das soll sich jetzt angeblich ändern.
Das zumindest sagt Sadyr Japarov. Der 52-Jährige gilt als nationalkonservativ, ist Anhänger des 2010 gestürzten autoritären Regimes. Mehrere Jahre saß er im Parlament, machte sich stark gegen die Macht multinationaler Bergbaukonzerne. Dass er im Zuge seiner politischen Arbeit ins Gefängnis kam, macht ihn im Volk besonders glaubwürdig.
Bei einem Besuch in Chatkal im Novemberversprach er den Anwohnern, er werde nicht erlauben, dass Politiker sich künftig durch Posten in den Goldminen persönlich bereichern.

Der Aufstieg Japarovs

Japarov ist der aussichtsreichste von 18 Kandidaten bei den am 10. Januar anstehenden Präsidentschaftswahlen in Kirgistan. Diese waren nach den ungültig erklärten Parlamentswahlen anberaumt worden. Japarov war zwischenzeitlich vom kirgisischen Parlament zum Premier und zum Interimspräsidenten bestimmt worden,
Beide Posten hat er inzwischen niedergelegt, um nun als Präsident kandidieren zu können. Doch ob Sadyr Japarov tatsächlich der redliche Politiker ist, der Kirgistan einen demokratischen Neuanfang und notwendige wirtschaftliche Reformen ermöglicht, ist fraglich.
Kloop-Gründer Bektour Iskender posiert vor seinem Firmenlogo.
Der Journalist Bektour Iskender spricht von einer "Selbstrettung der Kriminellen".© Deutschlandradio / Edda Schlager
November 2020 – Es ist ein trüber Wintertag in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek, im Stadtbezirksgericht Swerdlowsk: Als die Richterin den Gerichtssaal betritt, erheben sich alle Anwesenden.
Verhandelt wird die Klage der Familie von Raiymbek Matraimov, Ex-Vize-Chef der obersten kirgisischen Zollbehörde, gegen zwei Medienunternehmen. Diese hatten in ihren Recherchen ein großes internationales Geldwäsche-System aufgedeckt, an dessen Spitze die Matraimov-Familie steht. Über Jahre hinweg soll die Familie mehrere Hundert Millionen Dollar außer Landes geschafft haben.

"Kriminelle fühlen sich deutlich mächtiger als der Staat"

Bektur Iskender, Chef des von Matraimov verklagten Medienunternehmens Kloop, erläutert den Hintergrund.
"Kriminelle fühlen sich hier deutlich mächtiger als der Staat", sagt er. "Und gerade jetzt zu dieser Zeit passiert hier gerade eine, wie kann man das nennen, Selbstrettung der Kriminellen. Die haben verstanden, dass die Proteste nach den Parlamentswahlen sich nicht so sehr gegen die Machthaber gerichtet haben, sondern dagegen, dass Kriminelle sich in die Politik einmischen."
Was den Korruptionsskandal um Ex-Vize-Zoll-Chef Matraimov so pikant macht, ist, dass Präsidentschaftskandidat Sadyr Japarov möglicherweise Verbindungen zu diesem Netzwerk hat. Matraimov war kurz nach dem Regierungsumsturz verhaftet worden. Doch auf Anweisung von Japarov hin wurde er wieder freigelassen, da er selbst angeboten habe, "das illegal erworbene Eigentum und Geld zurückzugeben".
In Kirgistan vermuten deshalb viele, Japarov sei durch Kontakte in die Unterwelt an die Macht gekommen, und werde nun im Wahlkampf von eben diesen unterstützt.
Für Journalist Iskender ist dies problematisch: "Das ist eines der größten Probleme von Japarov, dass er von Anfang an mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung gebracht wird."
Laut Analystin Asel Doolotkeldieva hat Japarov dennoch gute Chancen auf das Präsidentenamt.
"Er hat sehr breite Unterstützung bei der Bevölkerung", sagt sie. "Und das sollte nicht ignoriert werden. Wenn die Leute seine Machtergreifung als etwas Notwendiges legitimieren, muss man das akzeptieren. Die andere Variante wäre weitere Instabilität. Deshalb sehen die Leute das auch nicht als Coup, sondern als notwendigen Schritt."

Hoffnungen trotz desolater Lage

Und so schaut man auch nicht überall in Kirgistan pessimistisch in die Zukunft. Eine große Traglufthalle im Zentrum von Bischkek. Darin – ein Fußballfeld auf grünem Kunstrasen. Selbst bei Außentemperaturen von minus 15 Grad wie jetzt im Winter spielen hier mehrmals in der Woche sechs- bis 16-jährige Jungen und Mädchen Fußball.
Die Fußball-Akademie Bischkek wurde vor zwei Jahren von Ulan Jumanaev gegründet. Für sein kleines Unternehmen ist es derzeit besonders schwer.
"Die Wirtschaft leidet bei uns derzeit, natürlich auch wegen des Coronavirus", sagt er. "Bei mir ist das so, die Leute kommen und bringen uns die Kinder. Wenn sie genug Geld haben, können sie sich das leisten, und dafür braucht es Stabilität. Meine Kunden stammen aus der Mittelschicht, eher vielleicht sogar aus der Arbeiterklasse, Lehrer, Händler, Besitzer kleiner Unternehmen. Bei solchen Unruhen wie jetzt verlassen die großen Investoren das Land, und dadurch können sich auch kleinere Unternehmen nicht entwickeln."
Jumanaev hat in ein soziales Unternehmen – wie er seine Akademie nennt – investiert, weil er Bildung und sozialen Zusammenhalt für wichtig hält. Die Kinder lernen bei ihm nicht nur Fußballspielen, sondern auch Englisch und Führungsqualitäten, wie er sagt. Er setzt darauf, dass auch die derzeitige Krise durch eine starke Zivilgesellschaft bewältigt werden kann.

"Die Gesellschaft ist gereift"

Dass jemand wie Japarov das Land zurück in den Autoritarismus führen kann, glaubt er nicht.
"Ich sehe keine Anarchie in Kirgistan, das trifft es nicht", sagt er. "Nach der ersten Revolution war das so, nach der zweiten immer noch, aber jetzt beim dritten Mal hat die Zivilgesellschaft das Vakuum gefüllt. Die Gesellschaft ist unheimlich gereift, und das gibt mir Hoffnung, denn das wird einen Diktator verhindern."
Ulan Jumanaev posiert für ein Foto.
"Ich sehe keine Anarchie in Kirgistan", sagt Ulan Jumanaev.© Deutschlandradio / Edda Schlager
Auch Zhoodarbek Atantai uulu glaubt zu wissen, wie der neue Präsident heißen wird – aber er traut diesem das neue Amt nicht wirklich zu.
"Ich denke, es wird Sadyr Japarov, er hat eine große Autorität", sagt er. "Aber er braucht eine gute Mannschaft. Er selbst hat nur wirtschaftliches Basiswissen, der weiß gar nicht, wie man einen Staat managt. Und er hat einfach wenig Erfahrung in wirtschaftlichen Fragen. Er braucht richtig gute Leute, gebildet, talentiert, die Reformen umsetzen. Es gibt viele junge Leute, die in Amerika, in China, in Russland studiert haben. Denen müssen wir eine Chance geben."
Zhoodarbek Atantai uulu selber hat jetzt eine Chance bekommen. Die chinesische Goldmine Kichi Chaarat, die er vor Plünderungen bewahrt hatte, hat ihn als Jurist angestellt. Einiges habe sich bereits zum Besseren gewendet, sagt er. Die Behörden scheinen derzeit weniger repressiv gegenüber Investoren aufzutreten. Doch die Bevölkerung vor Ort sei noch immer unzufrieden. Wenn sich die wirtschaftliche Lage der Menschen hier nicht bald bessere, stehe die politische Stabilität in Kirgistan weiterhin auf dem Spiel.
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